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nmz-archiv
nmz 2002/10 | Seite 38
51. Jahrgang | Oktober
Jazz, Rock, Pop
Nachschub
Der schwere Duft der Anarchie
Es gibt die neue elektronische Musik der verschiedensten Spielarten,
die merkwürdigerweise manchmal in Paris oder Tokio, in London
oder New York mehr geschätzt wird als hierzulande, „in
the hood“. Und es gibt natürlich weiterhin, auf höchstem
Niveau, die im weitesten Sinn schlagzeug- und gitarrengetriebene
Musik, die sich nicht mit dem Studio- oder Klub-Dasein oder momentanen
Massen-Events zufrieden gibt, sondern, wie es einst in der programmatischen
Tocotronic-Hymne hieß, „Teil einer Jugendbewegung“
sein, also die Welt erzählen und verändern möchte.
Diese Musik, die oft so wirkte, als sei sie eigentlich lyrisches
Bekenntnis oder Pamphlet, neues Hörstück oder politisches
Variété voller Masken und Täuschungen, und die
manchmal ein wenig nonchalant so tat, als benutze sie den unverkennbaren
„Lärm“, den Sound, der ihr Markenzeichen wurde,
nur als Medium, entzog sich der Eindeutigkeit. Mal war sie anarchisch,
dann wieder moralisch, mal voller Pathos, dann wieder so ironisch
und subversiv, dass sie alle Sicherheiten und Ordnungen auflöste.
Das Zentrum dieser Bewegung war Hamburg. Und wer die Anfänge
der „Hamburger Schule“ studieren möchte, der hat
jetzt dazu Gelegenheit, denn Jochen Distelmeyer und seine Band „Blumfeld“,
die einst mit Gymnasiasten-Ernst radikale Selbsterkundung und Weltrevolution
in einem existentiellen Projekt der ersten und, wie sie meinten,
letzten Stunde verbanden, geben jetzt, da sie, „tausend Tränen
tief“, längst im altersweise-abgründigen Pop gelandet
sind, drei Singles der Jahre 1991/92 unter dem schwindelnden Titel
„Die Welt ist schön“ heraus (bei Zickzack/Indigo).
Da gibt es „Sexy“-Klassiker zu hören wie „Verstärker“,
mit der längst zum Sprichwort gewordenen Parole „Jeder
geschlossene Raum ist ein Sarg“, aber auch „Sing Sing“
als A capella-Talking Blues und einige B-Seiten-Songs, die man nicht
unbedingt kennt beziehungsweise wiederentdecken kann. Manchmal wünscht
man sich, das spätere differenzierte, man könnte auch
sagen fatal-gebrochene Liedgut im Ohr, die Breitwand-Gitarren-Fronten
und heftigeren Distelmeyer-Bekenntnisse zurück.
Wo Blumfeld, einst zumindest, Politbüro waren, politisch korrekt
bis in die Haarwurzeln, da verstanden sich die androgynen Tocotronic-Helden
schon immer als Streetfighter, waren frech und ungeniert und ersparten
auch der eigenen Klientel nicht die eine oder andere bittere Wahrheit.
Ihr neues Album „Tocotronic“ (L’Age d’or/Rough
Trade) kokettiert zumindest im Opener „This Boy Is Tocotronic“,
mit den pop-prophetischen Versen „Deine Augen sehen/was meine
Augen sehen“, ein wenig mit New Electronica, kehrt dann aber
rasch zu rüd-gitarresken, repetitiven Songformen zurück.
Dabei werden Tocotronic für die zerfledderte Jugendbewegung
der Postmoderne zu konsumkritischen Pasolinis, aber ohne die Düsternis
und Verzweiflung des italienischen Kommunisten und Katholiken: „Alles
muß im Überfluß/ vorhanden sein. Dann sind wir
nie allein.“ Ihr Song „Das Böse Buch“ beginnt
berückend-liebeslyrisch („Du strahlst heller als der
hellste Stern“, so dichtet auch Distelmeyer neuerdings, aber
bei Tocotronic sind die Verse hinterfotziger), macht dann aus dem
umlaufenden Medien-Müll existentielle Mantras und variiert
schließlich ein vertrautes Reflexionsmuster auf durchaus überraschende
Weise: „Wir sind wie die Älteren/nur viel schlimmer.“
Verglichen mit Blumfeld oder Tocotronic waren die Sterne schon
immer weniger zuordenbar, nicht so sehr Teil einer Jugendbewegung,
sondern die diffusen Effekte herrschender Medienphantasmen. „Irres
Licht“ (bei Virgin) reflektiert, was übrig bleibt, wenn
Geschichten so und so oft erzählt worden sind. Bei den Sternen
sind selbst die scheinbar authentischsten Erfahrungen immer schon
Form, Resultat komplizierter Vermittlungen. Auf diese Weise kann
man auch privateste Geschichten erzählen, ohne dass sie peinlich
wirken. Der Sound wirkt noch straight, hat aber schon das Cinemascope-Format
im Auge.
Rocko Schamoni ist eine Generation älter. Als linkisch-teddybärenhafter
Teenager landete er vor Urzeiten mit „Fred vom Jupiter“
einen der größten und in seiner Simplizität intelligentesten
Neue deutsche Welle-Hits. „Der schwere Duft der Anarchie“
(bei Virgin) ist fast schon nicht mehr Pop, sondern ein berückendes
Gesamtkunstwerk. Rocko Schamoni erzählt seine Geschichten,
in die alles, was er gehört, gesehen und erlebt hat, eingegangen
ist. Das Resultat sind Mini-Dramen, kleine Hörstücke voller
Witz, sehr ironisch und sophisticated, mit einem seltenen Bewusstsein
für die Form des Songs oder Schlagers gesegnet, dabei aber
nie nur „camp“, sondern stets sehr unterhaltsam und
überraschend. Rocko Schamoni wollte vermutlich nie Teil einer
Jugendbewegung sein. Er ist ein Einzelgänger, ein Flaneur,
der die Szenen und Lebenswelten immer nur passiert und Engagement
so wenig elegant findet, dass er es lieber vermeidet. Dennoch ist
er, en detail, oft subversiver als Distelmeyer, spielt mit den Formen
und zeigt, was die Welt im Innersten zusammenhält: all die
alten Gefühle, die er charmant vorführt, so lange, bis
sie kippen oder zumindest seltsam werden. Wem nicht ganz wohl ist
bei der Wiederbelebung der „urbanen“ Unterhaltung made
in Germany, der kann sich beim sanften Spötter Rocko Schamoni
sicher fühlen.