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nmz-archiv
nmz 2002/10 | Seite 16
51. Jahrgang | Oktober
Portrait
Ein Drittes muss es einfach geben
Paulo Alvares: Ein Musikerweg jenseits von Entweder-Oder
Lateinamerikaner und Wahlkölner – wie Mauricio Kagel,
dessen Werk er verbunden ist. Pianist und Komponist – wie
Béla Bartók, den er als Vorbild nennt. Zugleich unzufrieden
mit den Rollen, die das Musikleben anbietet. Als Interpret möchte
Paulo Alvares nicht auf den ausführenden Automaten reduziert
werden und als Komponist mehr sein als der Autor, der das „Werk“
hervorbringt. Was bleibt?
Zwischen Scylla und Charybdis hindurchsteuern ins Offene. Für
Paulo Alvares beginnt dieses Gewässer jenseits der Zwickmühlen
des Kunstbetriebs, der zwischen Nachahmen und Neuschöpfen,
Interpretieren und Kreieren säuberlich unterscheidet, Mischungen
möglichst ausschließt oder an den Rand drängt. Ein
Drittes darf es nicht geben. Tertium non datur.
Pianist, Komponist und mehr:
Paulo Alvares. Foto: Charlotte Oswald
Dass es gleichwohl an der Zeit ist, nach diesem Dritten zu fragen,
es forschend hervorzubringen, gehört zum künstlerischen
Credo dieses Musikers. Nachrichten von neuen Kontinenten kursieren
ja schon des Längeren. Dass deren Überbringer selbst große
Distanzüberwinder waren, liegt in der Natur der Sache. Paulo
Alvares jedenfalls hat sich angewöhnt, Ernst zu nehmen, was
Boten wie Cage oder Kagel, Ives oder Bartók übermitteln.
Auch wenn sich deren Botschaften zuweilen widersprechen, der eine
mehr hier, der andere eher dorthin weist – offensichtlich
ist, dass der Status des Gerüchts überwunden ist, auf
den hin auch kein Columbus seine Nussschale bestiegen hätte.
Was liegt hinter dem Wasser, das uns von dem anderen Kontinent
trennt? Woraus ist das Neuland gemacht? Antworten darauf, soviel
ist für Paulo Alvares allerdings auch klar, gibt es nicht im
vorhinein, gewissermaßen als Tischvorlage für geneigte
Investoren und Sponsoren. Doch war das je anders? Stets begann doch
der allgemeine Jubel über ein neuentdecktes Land nachdem dessen
Verwertungsmöglichkeiten offenbar waren.
Für die, die sich am Herkömmlichen reiben, weil sie deren
Unzulänglichkeiten sehen, heißt es zunächst Entdeckungsfahrten
zu initiieren – am besten als und im Team, was wiederum bereits
Columbus nicht verkehrt fand. Auch Paulo Alvares geht Verbindungen
ein, sucht Bündnispartner und Mitstreiter, gründet neue
Ensembles, beteiligt sich an Bestehenden wie dem Kölner Solisten-„Ensemble
Contrasts“ und anderen Formationen, deren Repertoire bei Debussy
beginnt und nicht endet. Wem zudem wie Paulo Alvares mit Hilfe von
Scherz und viel Selbstironie die Transformation der menschlichen
Grundeigenschaft, die Eitelkeit heißt (sie eine Schwäche
zu nennen, zeugte von allzu leichtfertiger Besserungshoffnung),
in eine für andere kommunikable Form gelungen ist, ist der
Realisierung seiner künstlerischen Ziele ein gutes Stück
näher gekommen – zumindest steht er sich selber nicht
mehr im Weg.
Dieser Weg beginnt für Paulo Alvares in Brasilien, wo er 1960
geboren wird. 1985 bis 1987 studiert er in den Vereinigten Staaten
Klavier bei Steven de Groote (Bach bis Haydn), Kammermusik bei Caio
Pagano und kommt anschließend mit einem zweijährigen
DAAD-Stipendium zu Aloys Kontarsky nach Köln. 1990 erhält
er den Kranichsteiner Musikpreis und gewinnt mit seinen „aleatoric
mobiles“ (für Keyboard und Orchester) 1991 den 1. Preis
beim Wettbewerb „Musik kreativ“. Als Solist konzertiert
er in allen großen Musikzentren und ist zu Gast bei den bedeutendsten
Festivals für zeitgenössische Musik.
Der Pianist Paulo Alvares wird 1996 freier Mitarbeiter des Kölner
Rundfunk-Sinfonie-Orchesters für die WDR-Reihe „Musik
der Zeit“. Seine ersten Solo-CDs mit der gesamten Klaviermusik
von Mauricio Kagel und Gerhard Stäbler werden noch in diesem
Jahr erscheinen. 1997 schließlich wird der Ensemblemusiker
Alvares Dozent für Aleatorische Kammermusik an der Kölner
Musikhochschule und gründet 2000/2001 „Zyklus“,
ein Festival für Neue Kammermusik.
Zu den ungewöhnlichsten Formationen, die auf seine Initiative
zurückgehen, gehört das von ihm 1999 aus Kölner Musikhochschulstudenten
zusammengestellte „Ensemble für Improvisation und aleatorische
Musik“. Ein solches Ensemble ausgerechnet an der Kölner
Musikhochschule aus der Taufe zu heben, passt zur Experimentierfreude
der Stadt und ihrer (rheinisch-künstlerisch-aufgeschlossenen)
Bewohner. Längst ist dieser Prozess, sind die einschlägigen
Namen und Institutionen in die Geschichte der neueren Musik hineingeschrieben.
Dass der Witz jedoch nicht darin besteht, das Denkmal seiner selbst
zu errichten, sondern die Bewegung weiterzutreiben, liegt für
Paulo Alvares auf der Hand. Nicht umsonst steht ein „Ensemble
für Improvisation und aleatorische Musik“ ganz offenkundig
in der Tradition der Kagel-Nachfolge an der Kölner Musikhochschule.
Ob damit zugleich schon der Stoff selbst bezeichnet ist, aus dem
das musikalische Neuland geformt ist, bleibt offen. Auf jeden Fall
bezeichnet es einen Weg dorthin. Das Leichte, das schwer zu machen,
aber nicht unmöglich ist.
Als die von Alvares geleitete Kölner Studenten-Formation anlässlich
eines Gerhard Stäbler-Porträts in der Düsseldorfer
Tonhalle dessen Abschlussarbeit „drüber“ aus dem
Jahr 1972/1973 interpretiert – ein Stück in dem cello-,
syntheziser- und tonbandgestützt auf alle mögliche Weise
und meistens aus Leibeskräften geschrien wird – sorgt
dies trotz eindeutiger Zaunpfahlwinke auf Hans Leo Haßlers
„Aus tiefer Not“ immer noch für indigniertes Kopfschütteln.
Acht Schreier auf einer Bühne! Nein, so etwas! Darüber
sind wir doch hinaus!
Das „Ich-kann-ich-will-nit-verstan“ wird vermutlich
auch über das Konzertjahr 2002 hinaus noch auf manchen Gesichtern
geschrieben bleiben. Dass man „es“ schließlich
doch tun muss, dass die Musik wie jede Kunst vor keinem Ausdruck
und vor keiner Äußerung, und seien sie noch so radikal,
zurückschrecken darf, dass vielmehr das Bedürfnis dazu
ins Körperlich-Instrumentale übersetzt werden muss - darauf,
wie Paulo Alvares, zu beharren, heißt, seinen Weg gehen. Wer
alles immer „richtig“ macht, macht alles verkehrt. Ohne
Mut ist die Kunst Krampf.