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nmz-archiv
nmz 2002/10 | Seite 22
51. Jahrgang | Oktober
Bücher
Zurückschauen, um Fortschritt zu erkennen
Berliner Matinee zu „25 Jahre Musik-Konzepte“
Musikzeitschriften beginnen, wie die Beispiele von Robert Schumanns
„Neuer Zeitschrift für Musik“ oder Hermann Scherchens
„Melos“ belegen, häufig als Idee eines einzigen
Mannes, bevor sie sich auf einen größeren Kreis von Mitarbeitern
ausweiten. Die „Musik-Konzepte“ starteten vor fünfundzwanzig
Jahren in München als Projekt zweier Männer: Heinz-Klaus
Metzger und Rainer Riehn. Heute leben sie nicht weit entfernt von
jenem Haus, in dem Walter Benjamin seine Berliner Kindheit verbrachte.
Ihre im Dezember 1977 mit einem Debussy-Heft begonnene Reihe hat
sich weiter entwickelt (die jüngsten Hefte widmen sich Regers
Orgelwerken, Haydns Streichquartetten und der Mikrotonalität),
aber immer noch ruht die Hauptlast der redaktionellen Arbeit auf
ihren Schultern. Bereits im Februar 1984 erhielten sie in der Berliner
Akademie der Künste dafür den Deutschen Kritikerpreis.
An gleicher Stelle fand eine Matinee zum 25-jährigen Bestehen
des kühnen Projekts statt, auf Initiative der Akademie, dem
die Herausgeber ihr Archiv zugesagt haben.
Obwohl die „Musik-Konzepte“ sich nicht allein auf den
Fortschrittsbegriff einengen lassen, umkreisten ihn die meisten
Wortbeiträge. Immerhin hatte die Nummer 100 zahlreiche Komponisten
gefragt „Was heißt Fortschritt?“. Frank Michael
Beyer deutete den Terminus im Sinne von Begriffserweiterung und
Aufklärung und hob den Themenreichtum der Hefte hervor, ihre
poetischen Aspekte, die Unabhängigkeit von populären Trends
(„von der Mode streng geteilt“). Dieter Schnebel verstand
die als „Reihe über Komponisten“ angekündigten
Hefte als ein Kompendium der Fortschrittsgeschichte in jenem Sinne,
wie ihn Schönberg in seinem Essay „Brahms, der Fortschrittliche“
expliziert hatte: um den Fortschritt zu erkennen, muss man zurückschauen.
Neben Rainer Riehn, der für die „Musik-Konzepte“
eine Komponistenkarriere opferte, würdigte er natürlich
Freund Metzger, der sich 1950 in die „Bewegung der Avantgarde-Musik“
einreihte. Maßgeblich geprägt durch Adornos „Philosophie
der Neuen Musik“ wurde er zum Cheftheoretiker der Avantgarde,
wobei seine Polemiken die des Meisters an Schärfe übertrafen.
Wenn auch Metzgers Götter wechselten, blieb seine Bewunderung
für John Cage und Morton Feldman unverändert. Inzwischen
seien Altersmilde und Altersweisheit eingekehrt.
Schnebel verschwieg nicht das Problematische der um Cage und Nono
entstandenen Kulte. Sein theologischer Lehrer Karl Barth habe zwischen
Glauben und Religion unterschieden:
Glaube müsse ein Wagnis bleiben, anders als die zu Systemen
tendierende Religion. Der Kampf um den Fortschritt, so endete Schnebel,
sei also ein Kampf gegen die Religion, gegen Orthodoxie. Indirekt
war dies ein kleiner Seitenhieb auf dogmatische Tendenzen in Metzgers
früheren Polemiken, die sich allerdings kaum in den „Musik-Konzepten“
finden. Der aus Frankfurt herbeigereiste Ernstalbrecht Stiebler
gestand den Herausgebern ein Recht auf Irrtum zu. Ihre Schriftenreihe
(deren Unentbehrlichkeit auch Friedrich Goldmann hervorhob) pries
er dagegen als geistiges wie materielles Wunder. Möglich wurde
sie nur durch fünfundzwanzig Jahre Selbstausbeutung, den Verhältnissen
zum Trotz.
Wie verschlungen der Fortschritt manchmal verläuft, war auch
den achtzehn Fragmenten zu siebzehn Klavierstücken zu entnehmen,
die Herbert Henck aus dem Nachlass Arnold Schönbergs zusammenstellte
und nun in chronologischer Folge spielte. Nach unbeholfenen Anfängen
von 1894 waren rapide satztechnische Fortschritte spürbar,
größere Gewandtheit auch bei der Behandlung des Klaviers,
die dem Spieler mehr Virtuosität zur Darstellung orchestraler
Klänge und Entwicklungen abverlangte. In manchen atonalen Stücken
reduzierte sich wieder die Satzdichte, offenbarte sich der Fortschritt
auf harmonischer Ebene. Überraschend zeigten gerade die letzten
Fragmente (die Reihe endete mit dem Jahre 1934) eine Rückkehr
zu tonalen Elementen, als schlösse sich ein Kreis. Der Fortschritt,
das zeigte diese Fragmentfolge, bemächtigt sich jeweils verschiedener
Dimensionen, verbindet sich mit Rückschritten in einem anderen
Bereich.
In gewisser Weise waren Franz Liszts „Trauergondel“
in den Fassungen von 1882 und 1885 sowie seine „Nuages gris“
von 1884 die aufregendsten und kühnsten Kompositionen der Matinee.
Die „Variations I“ und „In a Landscape“
von John Cage, die ihre Fortschrittlichkeit (ähnlich wie bei
Erik Satie) vor allem dem historischen Kontext verdanken, wirkten
als isolierte Einzelwerke merkwürdig eintönig, gelegentlich
fast belanglos. Da die Erkenntnis des musikalischen Fortschritts
also notwendig den Bezug auf größere Zusammenhänge
braucht, spielten und spielen die „Musik-Konzepte“,
die nicht nur Werke analysieren, sondern auch das ästhetisch-soziologische
Umfeld sowie die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte ausleuchten,
in diesem Prozess eine so wichtige und unentbehrliche Rolle.