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nmz-archiv
nmz 2002/10 | Seite 17-18
51. Jahrgang | Oktober
Rezensionen
Häusliche Festspieleinkehr
Zwischen Rundfunk, Fernsehen, CD und DVD
Die diesjährigen Sommerfestspiele sind beendet, es bleiben
Erinnerungen und bisweilen Gesamtaufnahmen – allerdings zumeist
arg zeitversetzt, und oft mit mehrjähriger Verzögerung.
Bisweilen braucht es Jahrzehnte, bis die Überprüfung der
eigenen Erinnerung anhand einer Konserve möglich ist. Starke
Erinnerungen gewinnen über die Jahre an Eigendynamik, verklären
die Opernerlebnisse im Gedächtnis.
Nicht so bei der nach achtzehn Jahren erstmals veröffentlichten
Aufführung von Franz Schrekers „Die Gezeichneten“,
einer konzertanten Aufführung der Salzburger Festspiele 1984
in der Felsenreitschule. Die mit Kenneth Riegel (Alviano), Janis
Martin (Carlotta), Hermann Becht (Tamare) und Theo Adam (Herzog
Adorno) bis in die Nebenrollen hinein erstklassig besetzte, konzertante
Aufführung unternahm damals den Versuch, die von Michael Gielen
und Hans Neuenfeld in Frankfurt mit triumphalem Erfolg neu zur Diskussion
gestellte Oper unter Reduzierung auf die Musik allein zu überzeugen.
Gerd Albrecht betont auf eine sehr individuelle Weise die spätromantische
Seite der Partitur, die digitale ORF-Aufnahme lässt das Radio
Symphonieorchester mit Gewichtung auf das klangreiche Schlagwerk
besonders wohlklingend erstrahlen. Den vollen Genuss trüben
nur, wie so häufig bei Albrecht, empfindliche Kürzungen.
(Orfeo C 584 0221). So bleibt dann als komplette Einspielung dieser
epochalen Opernpartitur doch nur die Decca-Aufnahme unter Lothar
Zagrosek, der sich allerdings in seiner jüngsten Stuttgarter
Interpretation noch selbst übertroffen hat. Die Stuttgarter
Inszenierung von Martin Kušej wird möglicherweise als
DVD veröffentlicht werden, wohingegen Neuenfels’ Frankfurter
Inszenierung, die allerdings nur in TV-Ausschnitten beim HR überdauert
hat, szenisch mit sehr viel opulenteren Bildern aufgewartet hatte.
Nicht ganz so positiv wie bei den konzertanten „Gezeichneten“
fällt die Wiederbegegnung mit der ersten ungekürzten Salzburger
„Frau ohne Schatten“ aus. Götz Friedrichs Inszenierung
aus dem Jahre 1992 ist immer noch ein musiktheatrales Abenteuer,
das von Sir Georg Solti mit großem Atem auf hoher Flamme gekocht
wird, aber die fesselnde Wirkung, die diese Produktion auf der Bühne
des Großen Festspielhauses hatte, erweist sich auf dem Bildschirm
doch als gestrig, die Leistung der Solisten nicht ungetrübt.
Spannend hingegen, den jungen Bryan Terfel als Geisterboten zu erleben.
(Decca DVD 071 425-9). Knappere Ressourcen für die Kultur haben
bewirkt, dass Produktionen sehr häufig eine Zweit- und Drittverwertung
durch die Medien finden. Die früher unabhängig von Live-Aufführungen
gefertigten und von Produzenten wie Hörern bevorzugten Studioproduktionen
sind Aufnahmen gewichen, die in der Regel auf zwei Live-Mitschnitten
und einer Korrektur-Einspielung basieren. Damit durch den Verkauf
der CD-Rechte für die Veranstalter ein erkleckliches Sümmchen
übrig bleibt, werden die Kosten des Tonstudios häufig
von einem Rundfunksender als Koproduzent getragen. Die beteiligten
Künstler erhalten nicht in jedem Fall einen Teilbetrag jener
Gesamtsumme, die das Theater bekommt, grundsätzlich aber können
sie die Vergütung ihrer Leistungsschutzrechte durch die Verwertungsgesellschaft
Ton erhalten.
Die live erfolgende oder auf einem ersten Rohschnitt basierende
Erstausstrahlung im Rundfunk wird für die CD-Edition zumeist
durch eine Reihe weiterer Schnitte verbessert. Erst die Zweitausstrahlung
des koproduzierenden Senders ist dann häufig identisch mit
dem klanglichen Endprodukt der CD.
Die Erweiterung dieser Koproduktionskette schließt Fernsehen
und DVD mit ein. Auch dieser Koproduktionsweg wird zunehmend beschritten.
Und in der Tat erschließt sich hier für den Markt noch
ein weites Feld, da selbst häufig gespielte Opern und Operetten
noch nicht als Bildplatte verfügbar sind.
Was früher der graue Markt an Tonträgern anbot, wird
inzwischen ganz offiziell gehandelt. Ausnahmen bestätigen die
Regel: die Salzburger Neuinszenierung von Richard Strauss „Die
Liebe der Danae“ sollte von zahlreichen Rundfunkanstalten
ausgestrahlt werden, aber die Aufzeichnung wurde vom ORF kurzfristig
gecancelled. Tonpiraten waren darauf nicht gefasst, und nun ist
die erste Produktion mit der originalen Ausführung der vom
Komponisten ab der Generalprobe tiefer gelegten Jupiter-Partie zu
einer äußerst gesuchten Rarität geworden.
Das Monatsprogramm des ZDF-Theaterkanals stand im September ganz
im Zeichen der Nibelungen. Der Bogen des Themas spannte sich dabei
von Wagners „Ring“-Zyklus in der Bayreuther Inszenierung
von Harry Kupfer bis zu Grillparzers „Des Meeres und der Liebe
Wellen“, zu Hebbels „Gyges und sein Ring“ und
Moritz Rinkes jüngster Nibelungen-Version der neu geschaffenen
Nibelungen-Festspiele Worms. In dieser Reihe fehlte nur die andere
Ring-Oper, Alexander Zemlinskys „König Kandaules“.
Von dieser Produktion gibt es – im Gegensatz zu weit häufiger
gespielten Werken des Musiktheaters – bereits zwei komplette
Fernsehproduktionen, die der postumen Hamburger Uraufführung
im Jahre 1996 bei Arte und die diesjährige Salzburger Festspielproduktion
bei 3sat. Leider kommt es jedoch vorerst zu keiner CD- oder DVD-Veröffentlichung,
was nicht nur angesichts der künstlerischen Leistungen Kent
Naganos und der optischen Reize von Christine Mielitz’ praller
Inszenierung bedauerlich ist, sondern insbesondere angesichts der
Tatsache, dass diese Produktion – im Gegensatz zu der bei
Capriccio erschienenen Uraufführung – ungekürzt
war. Allerdings lassen die finanziellen Ansprüche des Dirigenten
und seines Deutschen Symphonieorchesters die hierfür primär
in Frage kommenden, kleineren Label vor einer Zweitverwertung derzeit
zurückschrecken.
Gustav Kuhn hat sich im Jahr der Passionsspiele in dem von ihm
zu seinem Festspielhaus für Wagners „Ring“ deklarierten
Passionsspielhaus Erl mit seinen Tiroler Festspielen ins Umland
begeben und in einem Kufsteiner Hotelsaal „Die Fledermaus“
herausgebracht, wieder in Personalunion von Dirigent und Regisseur,
mit sehr beachtlichen Sänger- und überdurchschnittlichen
Orchesterleistungen seines Festspielorchesters. Die Produktion erscheint,
wie schon die Kuhn-Mitschnitte von Richard Strauss’ „Guntram“
und der Erler „Ring“ auf dem Label Arte Nova, obwohl
dieses an BMG verkauft wurde. Kuhns legendäre Einspielung von
Cornelius’ Oper „Der Cid“ ist, wie so viele Raritäten
bei Koch/Schwann, durch den Verkauf dieses Unternehmens und die
hierdurch erfolgte Einstellung des Klassik-Labels, derzeit nicht
mehr verfügbar. Aber die bislang nicht erschienene und aufgrund
ihres Umfangs auch im DeutschlandRadio nie komplett ausgestrahlte
Ersteinspielung des „Don Quijote“ von Wilhelm Kienzl
(Berlin 1999) erscheint im November dieses Jahres bei cpo (cpo 999
873-2; 3 CDs).
Mit der Uraufführung von Luciano Berios neuem Schluss der von
Puccini unvollendet hinterlassenen „Turandot“ in Amsterdam,
Los Angeles und nun bei den Salzburger Festspielen hat das von Alfredo
Alfano angefügte Finale vorerst abgewirtschaftet. Gleichzeitig
aber wurde Alfano als eigenständiger Komponist neu entdeckt.
Die viel beachtete Kieler Produktion seiner Oper „Cyrano de
Bergerac“ erscheint im nächsten Monat beim Label cpo
und beweist den orchestralen Farbenreichtum des späten Veristen
(cpo 999 909-2; 2 CDs).
Nach dem Thüringer Landestheater und den Thüringer Symphonikern,
die durch mindestens eine CD-Koproduktion pro Spielzeit die Wirkung
der eigenen Produktionen verbreiterten und verlängerten, beschritten
diesen Weg der Koproduktionen in den vergangenen Jahren das Theater
Hagen und das Opernhaus Kiel. Nach Schrekers „Flammen“
wird auch die diesjährige Schreker-Produktion „Christophorus
– oder die Vision eine Oper“ und die kommende Wiederaufführung
der Erstfassung von Schrekers „Das Spielwerk und die Prinzessin“
beim Raritätenlabel cpo erscheinen.
Der traditionelle „Götterdämmer-Schoppen“
der Deutschen Grammophon in Bayreuth fand in diesem Jahre erstmals
nicht mehr statt. Zu dem wenigen, das Universal zum Thema Wagner
veröffentlicht hat, gehört das frühe Melodram des
betenden Gretchens, das Bayreuth-Besucher Hans-Jürgen Schatz
auf einer Doppel-CD mit Konzertdramen der Romantik wie aus der Reflektion
Mephistos rezitiert. Zu den echten Raritäten der in der Hörbuchreihe
„Literatur“ erschienenen Edition, die deshalb den Klavierpart
Holger Groschopps auch deutlich in den Hintergrund rückt, zählen
Franz Liszts knapp viertelstündiges Melodram „Des toten
Dichters Liebe“ und heitere Melodramen Carl Reineckes und
Ferruccio Busonis (DG 471 792-2).
Wer den „Ring des Nibelungen“ aus Bayreuth auf seinem
häuslichen Sofa im digitalen Rundumklang erleben will, braucht
jetzt nun nur noch sieben Scheiben aufzulegen. Universal hat Patrice
Chéreaus immer wieder in ihrer Intensität gefangen nehmende
und in ihrer Radikalität kaum gealterte Inszenierung aus dem
Jahre 1980 auf DVD herausgebracht (Philips DVD 070 407-9).
Großen Anteil an der andauernden Wirkung hat die Bildregie
Brian Larges, die noch nichts von der später eingesetzten kalten
Routine aufweist. Während die Einspielung klanglich durchaus
fesselt, lässt die Bildauflösung Wünsche offen. Wer
noch die Laser Discs dieser „Ring“-Einspielung besitzt,
sollte diese nicht entsorgen, denn die Bildqualität auf den
goldenen Scheiben in LP-Größe im PAL-System ist deutlich
besser als die DVD-Version im amerikanischen NTSC-Format.
Eine rundum gelungene DVD-Neuerscheinung gilt einem Komponisten,
dessen Opern geradezu nach dem Medium Film schreien. Erstmals ist
eine Inszenierung von Erich Wolfgang Korngolds Erfolgs-Oper „Die
tote Stadt“ in Bild und Ton zu erleben: Die spannende Produktion
der Opéra National du Rhin aus dem Vorjahr ermöglicht
unter der musikalischen Leitung von Jan Latham-Koenig zu einem Festspiel
am häuslichen Bildschirm. Die eigenwillige Inszenierung von
Inga Levant rückt die Ende des 19. Jahrhunderts in Brügge
angesiedelte Geschichte radikal in die Gegenwart und verzichtet
dabei auch auf die Auflösung der Traumebene in der Realität:
Die Obsessionen der nekrophilen Hauptfigur dauern im Schlussakt
an und führen – wie schon in Götz Friedrichs Inszenierung
– unweigerlich zum Tod des Helden. Den singt und spielt Torsten
Kerl, dass es eine Lust ist, ihm digital Sourround zuzuhören
und im Format 16:9 zuzusehen, und auch Angela Denoke als Marietta
bietet mehr als der Opernalltag erlaubt (Arthaus Music DVD 100 342).
Eine weitere Veröffentlichung von Korngold bringt bislang
Ungehörtes: der Bariton Dietrich Henschel, am Klavier imponierend
begleitet von Helmut Deutsch, mit einer schlichtweg hinreißenden
Interpretation von 36 Liedern des musikalischen Wunderkindes (Harmonia
Mundi HMC 197080). Zu den unveröffentlichten Piècen
gehört Kurioses (Sonett für Wien; Die Gansleber im Hause
Duschnitz), Frühes, was an Hugo Wolf gemahnt (Zwölf Lieder
Opus 5: „So Gott und Papa will“) und Geniales (Drei
Lieder auf Texte des „Heliane“-Librettisten Hans Kaltneker).
Aufschlussreich ist Korngolds stark von der Gefühlswelt der
bekannten Version Franz Schrekers (aus den Fünf Liedern für
tiefe Stimme) abweichende Vertonung des Ronsperger-Gedichtes „Dies
aber kann mein Sehnen nimmer fassen“. Im Eichendorff-Gedicht
„Der Friedensbote“, das bereits in Pfitzners Vertonung
äußerst problematisch über das Gedicht hinaus nationalistischen
Gehalt transportiert, wird in der Version des jungen Korngold gar
noch mit rasselndem Militär-Rhythmus an nationalem überboten,
– so dass die zunächst verblüffende Mitteilung der
Deutschen Oper Berlin, Christian Thielemann werde hier Korngolds
wenig erfolgreiche Oper „Das Wunder der Heliane“ einstudieren,
doch wieder sinnfällig erscheinen mag.
Peter P. Pachl
Diskografie
Franz Schreker: Die Gezeichneten. Salzburger Festspiele 1984,
ORF Radio Symphonieorchester, Gerd Albrecht. Orfeo C 584 0221
(2 CDs)
Franz Schreker: Die Gezeichneten. Deutsches Symphonie Orchester
Berlin, Lothar Zagrosek. Decca 444 442-2 (3 CDs)
Richard Strauss: Die Frau ohne Schatten. Salzburger Festspiele
1992, Wiener Philharmoniker, Sir Georg Solti. Decca 071 425-9
(3 DVDs).
Alexander Zemlinsky: Der König Kandaules. Hamburger Staatsoper,
Gerd Albrecht. Capriccio 60 071-2 (2 CDs)
Wilhelm Kienzl: Don Quijote. Deutsches Symphonie Orchester
Berlin, Gustav Kuhn. cpo 999 873-2 (3 CDs)