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nmz-archiv
nmz 2002/11 | Seite 10
51. Jahrgang | November
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Überdruss
Über die neue Musik bricht periodisch eine Art Stimmung herein,
die man als Überdruss am Bestehenden bezeichnen könnte.
Das gehört zur Geisteshaltung der Moderne, zu deren Selbstverständnis
ja gerade die kontinuierliche Kritik am Überlieferten zählt.
Mit lauten Rufen wird dann jeweils das Alte für tot erklärt
und mittels Manifesten und den zugehörigen Werken das neue
Handlungsmodell propagiert – ein „Paradigmenwechsel“,
wie es mit verkürztem Rekurs auf Thomas Kuhn dann heißt.
1951 konstatierte Pierre Boulez polemisch: Schönberg est mort!
In den siebziger Jahren erklärten die jungen Ausdrucksmusiker
die seriellen Überväter als tot und schrieben neotonale
Orchesterstücke. Und in seiner politischen Liedersammlung „Voices“
vertonte Hans Werner Henze 1973 ein Gedicht von Michalis Katsaros,
in dem es heißt: „Schluss mit dem Kammerensemble, Schluss
mit der Impotenz auf dem Protestfestival, Schluss mit der Weltsicherheit
und mit allen weitblickenden Führern, Schluss mit dem Ausländeramt
und selbstverständlich mit mir, der euch dies alles erzählt“.
Das ist dann wohl die radikalste Variante.
Auch heute scheinen wir uns wieder in einer Phase zu befinden,
in der ein negatorischer Impuls um sich greift. Er artikuliert sich
aber nicht mehr so programmatisch wie in den geschilderten Fällen.
Die Situation ist heute auch nicht so übersichtlich, dass eine
einzige zugespitzte Diagnose den Nagel auf den Kopf treffen würde.
Es handelt sich mehr um ein ebenso vielstimmiges wie diffuses Unbehagen
– eben eine (Miss-)Stimmung, die vielerlei Ansatzpunkte und
vielleicht noch mehr Ursachen hat. Inwieweit sie mit dem allgemeinen
gesellschaftlich-politischen Unbehagen in Deutschland zusammenhängt,
das angesichts der vielen ungelösten, auf die lange Bank geschobenen
Probleme heute immer breitere Kreise zieht, sei dahingestellt. Unverkennbar
ist jedoch, dass sich diese Stimmung an einem musikalischen Zustand
entzündet, der als Status quo empfunden wird und den viele
mit einer Art Befreiungsschlag loswerden möchten.
Wie in einem Brennpunkt hat sich das nun auch wieder in Donaueschingen
gezeigt, wo Armin Köhler seit einigen Jahren eine Gratwanderung
zwischen dem traditionellen Begriff von Komposition, Improvisation
und Installation macht und damit die gegenwärtige musikalische
Problematik ins grelle Rampenlicht rückt. Neben den üblichen
Orchesterwerken gab es diesmal Noise-Orgien von Zoro Babels E-Gitarrenband
und die dröhnenden drum loops und Computerklänge des Jazzkonzerts
mit Wolfgang Mitterer. Es gab Teile des Publikums, die das sichtlich
genossen. Endlich Musik, die in den Bauch geht, nicht nur diese
verkopfte Avantgarde! Das pralle Leben tobt in Donaueschingen!
Eine logische Reaktion bei einem Festival, das sich in den letzten
Jahren neuen Publikumsschichten geöffnet hat und diese nun
auch bedienen will. Ein Durch- und Aufmischen der stets leicht esoterischen
neuen Musik mit Klängen der etwas konkreteren Art kann auch
gewiss nicht schaden. Erstaunlich ist aber die Sehnsucht mancher
Insider – Komponisten und Medienleute – nach einer Ablösung
der „altmodischen“ komponierten Musik, die zugegebenermaßen
mühevoll herzustellen ist, durch eine andere, die, weil sie
den Hörgewohnheiten von Popkonzerten, Disco und Clubszene entgegenkommt,
als zeitgemäßer und publikumsnäher gilt. Nachdem
die Popkultur nach den elektronischen Medien auch die Feuilletons
erobert hat, ist sie nun auf dem Vormarsch in die bisher als sakrosankt
betrachteten Gefilde der Hochkultur. Dazu gehören die Berliner
Philharmoniker ebenso wie das Donaueschinger Festival. Das geht
nicht ohne Konflikte ab, und es stellt sich die Frage, wie weit
diese neue Variante von Crossover gehen soll. Soll man bedenkenlos
den Widerstand aufgeben, E und U im Zeichen der neuen Medien vermischen
und, wie es der frühere Kulturstaatsminister Nida-Rümelin
gefordert hat, Popmusik in den Schulen lehren? Soll dem munteren
Selbermachen mit Scratching und Software der Vorrang gegeben werden
vor dem Notenlesen? Oder soll man festhalten an den überlieferten
Kategorien einer Musik, die sich seit über einem Jahrtausend
wesentlich durch die Kodifizierung mittels Schrift entwickelt hat?
Bei den popkulturellen Revierkämpfen um größere
Öffentlichkeit ist auch immer das Argument der Demokratie zu
hören: Neue Musik, die an ihrer Tradition der Schriftlichkeit
festhält, ist elitär, weltfremd und ergo antidemokratisch;
neue Musik, die durchs pure Hören fesselt und weiter keine
Geheimnisse zum Entschlüsseln bereithält, ist massenfreundlich,
ergo demokratisch. Unter statistischen Gesichtspunkten mag das stimmen.
Die Bildzeitung ist in dieser Hinsicht auch demokratisch, denn sie
wird von jedermann „verstanden“ und ist obendrein billiger
als die anstrengenden Blätter, die mit allerlei Detailanalysen
vom Lesenden eine Eigenleistung verlangen.
Doch hat Demokratie entscheidend mit Eigenaktivität zu tun.
Anders als durch Taten Einzelner, die Auswirkungen auf die Masse
hatten, wäre nämlich die bürgerliche Gesellschaftsform
nie entstanden. Das gilt auch für Solidarnosc und Montagsdemos,
Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit. Wenn alle nur bequem
gewartet hätten, dass irgendeine Instanz ihnen die Revolution
serviert, herrschte heute in Deutschland noch immer der Obrigkeitsstaat.
Aber vielleicht kommt der ja wieder, wenn es so weiter geht wie
heute.
Gibt es hier etwa ein Bindeglied zwischen der Missstimmung in
der neuen Musik und der Missstimmung in der Gesellschaft? Wollen
alle immer nur ihren schnellen Spaß haben, ohne selbst geistig
etwas beizusteuern? Hier die mal smarte, mal fetzige computergestützte
Musik, die die Wahrnehmung angenehm kitzelt und keine weiteren Fragen
aufwirft, dort das System Kohl/Schröder, das der Bevölkerung
hier zu Lande seit zwanzig Jahren die Leichtigkeit des Seins vormacht
und damit den allgemeinen Niedergang erfolgreich verschleiert. Popmusik
an der Schule wäre eine weitere, vom Staatsphilosophen verschriebene
Traumpille in dieser Politik, die in viel gravierenderem Maß
Kulturpolitik ist, als es den Anschein macht.
Denn nicht erst seit dem 11.9. kommt es der Politik zunehmend auf
die Konditionierung des Bewusstseins an. Im Widerstand gegen diese
subtilen Strategien von Big Brother kommt der neuen Musik eine kleine,
aber doch nicht zu unterschätzende Funktion zu. Sie kann durch
ihre Klänge zum Mitdenken, Mitfühlen und damit zur Differenzierung
von Wahrnehmung und Reflexion anregen. Sie kann aber auch Nachdenklichkeit
platt machen und zynisches Einverständnis fördern, sie
kann Bewusstsein erhellen oder vernebeln. Periodischer Überdruss
am Bestehenden ist notwendig. Wenn er sich aber gegen die Substanz
der neuen Musik selbst richtet, wird diese vollends überflüssig.
Und mit ihr nebenbei auch ihre Festivals.