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nmz-archiv
nmz 2002/11 | Seite 34
51. Jahrgang | November
Oper & Konzert
Kunst wird durch Vollzug erklärt und nicht durch Reden
Ein Wochenende über und mit Wolfgang Rihm – Das Komponistenportrait
in der Alten Oper Frankfurt
Im vorigen Jahr war es Hans-Werner Henze, dem die Alte Oper in
Frankfurt beim Auftkat das Komponistenportrait widmete; diesmal
galt es Wolfgang Rihm. Die Veranstaltungen anlässlich seines
50. Geburtstages kulminierten am zweiten September-Wochenende in
einem von zahlreichen Aufführungen umringten Symposion.
Anders als der 75-Jährige Henze im Vorjahr, der die ihn diskutierenden
Musikwissenschaftler, -praktiker und -publizisten mitsamt Publikum
ihren Einsichten, Ansichten und Spekulationen überließ,
beehrte Rihm den Hindemith-Saal durch beharrliche Anwesenheit. Am
ersten Tag bescheiden in der zweiten Reihe, lauschte er den Vorträgen
und ergriff nur dann das Wort, wenn man ihn direkt ansprach oder
schließlich zum Gespräch aufs Podium holte: dann freilich
präzise, wortgewandt und ehrlich, aber stets freundlich.
„Rihm ist trotz seiner Berühmtheit ein Mensch geblieben“,
sagte Claus-Steffen Mahnkopf zu Beginn seines pointierten Vortrags
„Rihm – ein Gesamtkunstwerk“. In der freundschaftlich-kritischen
Auseinandersetzung mit Werk und Person des Geehrten entwickelte
der Freiburger Komponist und Musiktheoretiker nicht nur für
sich eine Art Standortbestimmung, sondern darüber hinaus ein
faszinierendes Portrait des Geehrten. Manch ein Satz blieb da beim
Hörer hängen. „Ein Komponist kommt an, weil er mehr
ist als ein Komponist.“ Mahnkopf wusste da einiges zu nennen:
Rihms enzyklopädische Bildung, sein Einfühlungsvermögen,
seine Kontaktfähigkeit und Kollegialität, seine Fähigkeit
„sich auf die Welt einzulassen, wie sie ist“.
Er sei „ein fanatischer Präsenz-Ästhetiker“,
„weder antimodern, modern, noch postmodern“. Am Ende
stand – im Blick auf die Versuchung, Rihm als repräsentativen
Großkomponisten zu vereinnahmen – der Wunsch: „Ich
wünsche ihn mir weiter als Mensch und nicht als Werbeträger.“
„Wir glauben an die genuine Sprachfähigkeit von Musik“,
benannte Mahnkopf eine für ihn wesentliche Gemeinsamkeit mit
dem Geehrten. Was aber, wenn diese Musik nicht ohne weiteres verstanden
wird? „Kunst wird durch Vollzug erklärt – und nicht
durch Blabla“, sagt Rihm in Felix Schmidts und Holger Preußes
einfühlsamen Filmportrait „Neue Töne in Berlin“
aus dem Jahr 1999. Dass man über Kunst sehr wohl mit Gewinn
reden kann, war im Werkstattkonzert zu erfahren. Der Pianist und
Musikwissenschaftler Siegfried Mauser präsentierte eine kleine,
aber reizvolle Palette von Rihms Klavierstücken – angefangen
mit der Uraufführung des ersten der drei frühen Klavierstücke
aus den Jahren 1967 bis 1969, das der Komponist selbst noch nie
vorgetragen gehört hatte. Wie Rihm und Mauser ins Gespräch
über die Musik kamen, war auch für das Publikum ein Genuss.
Von den Beiträgen auf dem Symposion konnte man dies nicht
durchweg behaupten. Bisweilen machte sich akademischer Leerlauf
breit, bisweilen spielte sich auch das theatralische Moment derartiger
Veranstaltungen, auf das FAZ-Redakteur Gerhard R. Koch zu Beginn
seines Vortrags („Wolfgang Rihm oder Der Wahnsinn des Theaters“)
hinwies, stark in den Vordergrund. Wer aus dem Publikum die einmalige
Chance nutzen wollte, sich aus den Vorträgen und Gesprächen
der Experten einen Zugang zu Wolfgang Rihm zu verschaffen, musste
oft genug erfahren, dass er von den Vortragenden als Hörer
gar nicht ins Kalkül gezogen war. Vielleicht war es nicht ohne
Hintersinn, wenn Rihm am Ende der Veranstaltung selbst einen von
seinem Freund Peter Sloterdijk verlesenen Text zitierte: Wenn die
Menschen , wie der Karlsruher Philosoph darlegte, sich seit alters
her klanglich ihrer Gruppenzugehörigkeit vergewissern, so kommt
es in erster Linie darauf an, dass geredet wird – viel weniger
darauf, was geredet wird. Eine derart hermetisch agierende Musikwissenschaft
und -publizistik wird allerdings über kurz oder lang in Legitimationsschwierigkeiten
kommen. Eines muss man freilich zugeben: Schwer ist es, eine halbe
Stunde lang über eine Musik zu reden, die sich vorgeformten
Vorstellungen von logischer Stringenz und klar disponierter Architektur
verweigert, sondern immer wieder augenblicklichen Impulsen folgt
und sich als permanente Folge von „Fassen und Lösen“
(Rihm im Filmportrait) begreift. Das spontan Empfundene bewusst
nachzuempfinden und nachzubilden und dadurch nachvollziehbar zu
machen, ist die große Herausforderung, vor der Rihms Interpretationen
stehen – am Noten- wie am Vortragspult.
Am Vorabend des Symposions gab es vom Radio-Sinfonie-Orchester
Frankfurt unter Hugh Wolff die zwei Jahre alte Neufassung des Stücks
„Vers une symphonie fleuve IV“, einen Tag später
brachten Christoph Eschenbach und das NDR-Sinfonieorchester die
Uraufführung der erst im August abgeschlossenen „Verwandlung“,
am Sonntag schließlich spielte die Junge Deutsche Philharmonie
„In-Schrift“. (zu diesem Konzert ein gesonderter Bericht
unten)
Immer wieder wurde hörbar: Komponieren ist für Wolfgang
Rihm kein geradliniger Prozess entlang festgelegter Stationen, sondern
ein immer wieder neu zu suchender Pfad über schwankenden Boden,
ein permanentes Wagnis, keine Reproduktion bekannter und bewährter
Schemata, ein Sich-Aussetzen, kein Voraussetzen.
Mit musikalischer Architektur hat das wenig zu tun. Rihm schwebt
eine „symphonie fleuve“ („ein Sinfonie-Strom“)
vor, ein Ideal, das den repräsentativen Anspruch der Gattung
mit permanenter Beweglichkeit zugleich erfüllt und unterläuft.
Ein realistisches Ziel ist das wohl kaum, eher einen produktive
Vision, die Rihm zu immer neuen Anläufen „Vers une symphonie
fleuve“ treibt. Das vierte Stück dieser „sinfonischen
Annäherungen“ entstand 1996/97; und es erscheint bezeichnend
, dass Rihm es 2000 noch einmal überarbeitet hat.
Und so wie das Komponieren zum Abenteuer wird, so muss auch das
Hören dieser Musik zum Abenteuer werden. Hugh Wolff und dem
RSO Frankfurt gelang dies hervorragend: Aus den wogenden Streicherbewegungen
des Anfangs schälten sich verschiedene musikalische Charaktere
heraus: In einem spannenden Verlauf mischten sich wilde Motorik,
nervöse Expressivität, lyrische Zartheit und erhabene
Feierlichkeit, ohne je zu festen musikalischen Zuständen zu
gerinnen; und mit leichter Ironie klang der Anfang am Ende noch
einmal leise an.
Auch Rihms neues Stück „Verwandlung“ lebt von der
Idee der permanenten Transformation; doch wo „Vers une symphonie
fleuve“ deutliche Konturen zeigt und gewaltsame Eruptionen
nicht scheut, entwickelt sich die Musik hier eher in kleinzelligen
Überblendungen und verleugnet nie einen Grundton von Zartheit.
Auch hier war die musikalische Realisation durch Christoph Eschenbach
und das NDR-Sinfonieorchester eindrucksvoll. Es war eine eigenartige
Hörerfahrung, dass die Keimzelle des Anfangs, das helle, hohe
g, auch dann noch als eine Art Fixstern am Horizont erhalten blieb,
als die musikalische Entwicklung es längst verlassen hatte,
das Stück endet mit einem trockenen, lakonischen cis der Klarinette,
weit weg vom Beginn. Ausgesprochen spannend wurde es dann wieder,
als der italienische Komponist Luca Lombardi seinen Vortrag über
„Fortschritt und Wiederkehr“ mit einer Kaskade von Adjektiven
begann, mit denen er nicht nur Rihms Musik beschrieb, sondern auf
witzige Weise auch deren alogisches, assoziatives Fortschreiten
nachzeichnete.
Bisweilen unterbrochen von weiteren einfallsreichen Reihungen
dieser Art kombinierte Lombardi seine skeptische, erfahrungsgesättigte
Auseinandersetzung mit der Idee eines gesellschaftlichen und künstlerischen
Fortschritts mit einer einfühlsamen Laudatio auf Wolfgang Rihm,
deren Krönung die Überreichung eines dem Jubilar gewidmeten
Klavierstückes war. (Leider sei es zu schwer, musste Lombardi
bedauern, als dass er es selbst in wenigen Tagen hätte einstudieren
können; Rihm stimmte ihm nach einem Blick auf die Noten sofort
zu.)