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nmz-archiv
nmz 2002/11 | Seite 36
51. Jahrgang | November
Oper & Konzert
Die Arbeit an einer europäischen Identität
Warschauer Herbst und Symposion des Deutschen und Polnischen
Musikrats
Das Musikfestival Warschauer Herbst legt auch heute noch erstaunliche
Vitalität an den Tag. In den 60er- und 70er-Jahren konnte die
musikalische Avantgarde nicht an ihm vorbei. Damals war das Festival
Umschlagstelle der kompositorischen Neuerungen in Ost und West.
Polens zu dieser Zeit gegenüber anderen Staaten des sozialistischen
Lagers freizügigere Politik in Sachen Kultur hatte günstige
Bedingungen in weithin ungünstiger Landschaft geschaffen. Polnische
Komponisten wie Lutoslawski, Penderecki oder Gorecki mischten munter
die Palette der musikalischen Experimente auf. Und weder Stockhausen
noch Cage vermochten das neugierige Publikum zu erschrecken. Der
Staat deckte großzügig die Kosten und wollte damit wohl
auch unterstreichen, dass dem selbstbewussten, streng katholischen
Polen im Ostblock ein Sonderstatus zukam.
Dass die Verlaufskurve der Bedeutung ab den 90er-Jahren steil nach
unten führte verwunderte keinen. Eher schon verblüffte
die Hartnäckigkeit, mit der man trotz der plötzlichen
Finanzknappheit und dem Wegfall der Drehscheibenfunktion an der
Idee des Warschauer Herbstes festhielt. Der Hymnentext „Noch
ist Polen nicht verloren“ ist eine Geisteshaltung, die sich
scheinbar in jedem Tun festschreibt. Und so kann man jetzt wieder
konstatieren, dass das Festival im neuen, postsozialistischen Gewande
sich wieder dem ehemaligen Glanze nähert. Der junge Festivalleiter
Tadeusz Wielecki und seine Berater, zum Beispiel der äußerst
umtriebige und hellwache Andrzej Chlopecki, haben es geschafft,
ein ganz junges Publikum für die Sache zu begeistern. Und man
spürte sofort: die Anteilnahme ist nicht verordnet oder aufgesetzt,
sie ist wirkliches Anliegen der jugendlichen Zuhörer. Die Veranstaltungen
waren teilweise hoffnungslos überfüllt. Vielleicht ist
die geistige Weite mit verantwortlich.
Da sprach zum Beispiel auf dem parallel veranstalteten Symposion
über Musikfestivals der Komponist Krzysztof Knittel von der
Liebe Gottes, für die der polnische Papst durch die Länder
jettet, er sprach von der Utopie des Unmöglichen, die diese
Liebesbotschaft beinhaltet: Und am Abend packte er sein elektronisches
Equipment aus, um mit der Gruppe „Freight Train“ einen
futuristischen Science-Fiction-Film der frühen Sowjetunion
(„Aelita“ von Jakov Protazanov, 1924) mit orgiastischen
Klangkaskaden und Videokoppelungen zu begleiten. Ein Widerspruch?
Jedenfalls wurde die Mischung aus Komposition und Improvisation
zu einem Höhepunkt des diesjährigen Warschauer Herbstes.
Unerschrocken griff man rhythmische Sequenzen der rasanten Schnitt-Techniken
auf und transformierte sie zu orgiastisch geballten Ladungen aus
Kreischklängen, Zitatfetzen und hämmernden Schlägen:
Musik wie aus der Maschinenpistole, in die ein einfühlsam pochendes,
schutzloses Herz eingepflanzt schien.
Eines der Panels innerhalb
des gut positionierten gemeinsamen Symposions von Polnischem
und Deutschem Musikrat (v.l.n.r.): Theo Geißler (neue
musikzeitung), Adolf Dietz (Urheberrechtler), Moritz Eggert
(Komponist), Hans-Herwig Geyer (GEMA), Georg Oeller (GEMA),
Thomas Rietschel (Deutscher Musikrat), Krzysztof Knittel
Komponist), Herr
Dziomdziora und Adrianna Poniecka-Piekutowska. Foto: DMR
Höhepunkte: Da war eine genau und subtil komponierte Kammeroper
des Litauers Osvaldas Balakauskas auf einen mystischen Text von
Oscar Vladislav de Lubicz Milosz, deren dramatische Umsetzung (Piotr
Lazarkiewicz) leider etwas aus dem Ruder lief. Vielleicht muss man
warten, bis das Gesamtkonzept steht. Denn es sind drei Kammeropern
unter dem Blake-Obertitel „Das Land Ulro“ auf visionäre
Texte. Letztes Jahr gab es schon die Multimedia-Oper „Tattooed
Tongues“ des Niederländers Martijn Padding nach Texten
von Swedenborg, nächstes Jahr wird Barbara Zawadska mit „Grains“
nach William Blake die Trilogie abschließen. Die drei Stücke
sind als Einheit gedacht, als mystisches Mobile heterogener Blickwinkel.
Die schon angesprochene Finanzknappheit spaltete das Projekt. Aber
vielleicht kann dieses Gesamtkunstwerk der dritten Art doch noch
nach dem Vorliegen des letzten Teils als Tryptichon verwirklicht
werden.
Höhepunkt war sicher auch die Entdeckung der rumänischen
Komponistin Irinel Anghel mit dem Trio „Pro Contemporiana“.
Das ist eine Frau, Anfang 30, die wegen furchteinflößender
und vom forschen Outfit noch unterstrichener Dürre jeden Moment
zu zerbrechen droht, die aber alles durch Domina-artige Power ausgleicht.
So ist auch ihre Musik: wirr durchpulste, energiegeladene Landschaften,
höchst eigenwillig, exzessiv, geheimnisvoll, klar wie Wodka
und unverwechselbar im Geschmack.
Vieles ließ aufhorchen. So konnte zum Beispiel ein spätes
Streichquartett „Symphony of Rituals“ des vor einem
Jahr in Berlin gestorbenen Polen Witold Szalonek mit über fünfjähriger
Verspätung uraufgeführt werden: Ein janusköpfiges,
trotz 50-minütiger Dauer äußerst konzentriertes
Alterswerk mit Blick zurück und zugleich in die Zukunft. Und
auch die Wiederbegegnung mit dem unbeugsam seinem Kunstauftrag nachgehenden
polnischen Komponisten Roman Berger, der Anfang der 50er-Jahre ins
slowakische (!) Exil geschickt worden war, wurde zu einem geradezu
exorbitanten Erfolg. Im prall gefüllten Raum (mit offenen Türen,
um weiteren Zuhörern die Teilnahme zu ermöglichen) mischte
sich das junge Publikum mit Freunden aus vergangener Zeit.
Einen Höhepunkt der anderen Art bildete die europäische
Erstaufführung von Krzysztof Pendereckis Klavierkonzert mit
dem Pianisten Barry Douglas. Mit „Auferstehung“ ist
es betitelt, darunter macht es Penderecki heute nicht mehr. Der
11. September fiel mitten in die Arbeit am Werk und kehrte seine
inhaltliche Ausrichtung um. Wie in einem Rachefeldzug gegen die
ehemalige Avantgarde scheint sich Penderecki heute einen Spaß
daraus zu machen, herauszukitzeln, wie viel an Klischees ein Komponist
heute aufzutischen vermag. Ihm helfen eine exorbitante Sicherheit
bei der Gestaltung des orchestralen Klangs und ein untrügliches
Gespür für zeitliche Verlaufskurven. Das rettete den Rachmaninow-Schinken
mit siegbringenden Trompeten von der Empore, mit Choral-Emphase
und heilsverkündenden Glocken. Wo jeder etwas reflektiertere
Filmkomponist ästhetische Bedenken hätte, greift Penderecki
ungeniert ins Volle. Es ist Musik eines Anstreichers, die Farbe
glänzt peinlich, aber sie glänzt. Beim Publikum mischten
sich Buhs und demonstrative Begeisterung.
So setzte man auf Offenheit nach allen Seiten. Das macht viel
Sinn in einer Landschaft, in der Sichtung von Tendenzen Vorrang
hat vor einer ideologiefesten Verteidigung ästhetischer Positionen.
Das Warschauer Publikum erkennt diese vorurteilsfreien Bestrebungen
an und verfolgt ebenso gespannt wie zahlreich die verschlungenen
Gänge der musikalischer Neuerungen.
Das Symposion
Dass der Deutsche Musikrat zusammen mit seinem noch heranwachsenden
polnischen Verbandspartner in diesem multiperspektivischen Umfeld
ein gemeinsames Symposion platzierte, war also gut positioniert.
In gut einem Jahr wird Polen in die EU integriert werden und die
Arbeit an einer europäischen Identität braucht kulturelle
Unterfütterung als Lebenselexier. Doch auch Ängste grassieren
(der Große schluckt den Kleinen, der Kleine saugt den Größeren
aus). Diese Gräben suchte man zuzuschütten. Arbeitskollegen
wurden zusammengebracht, Rundfunkleute, Verleger, Veranstalter oder
auch die GEMA mit dem polnischen Pendant ZAiKS. Und man begann konkrete
Projekte in Angriff zu nehmen, etwa ein deutsch-polnisches Musikfestival
in Berlin und vielleicht in Warschau. Das soll 2004 stehen.
Wirklich kann europäischer Zusammenschluss, das Vertrauen untereinander
nur gedeihen, wenn man sich auch der gemeinsamen kulturellen Wurzeln
besinnt, diese belebt und ausweitet. Schon im letzten Jahr hatte
man sich in Warschau getroffen, um das Feld in bezug auf Übereinstimmungen
und Unterschiede zu sondieren. Daran knüpfte man in diesem
Jahr an mit dem Ziel, konkretere Projekte anzudenken. „Festivals
Neuer Musik – Eine Plattform für Kooperationen“
lautete denn auch das Motto für den ersten Tag des auf zwei
Tage anberaumten Symposions. Festivalveranstalter aus Deutschland,
Polen, als Gast auch aus dem slowakischen Bratislawa, tauschten
Erfahrungen unter der gemeinsamen Moderation von Andrzej Chlopecki
und Klaus Bernbacher aus. Freilich wurden auch Zweifel an der These
laut. So hob zum Beispiel Tadeusz Wielecki, der Festivalleiter des
Warschauer Herbstes, das Bestreben nach Eigenständigkeit, auch
das Konkurrenzverhalten von Festivals Neuer Musik, hervor. Insgesamt
wurde aus polnischen Kreisen die unausgesprochene Befürchtung
laut, vom „stärkeren“ Partner Deutschland in der
Eigenständigkeit beschnitten zu werden. Dennoch gab es einige
gute Ansätze: So entwickelte zum Beispiel der Präsident
der Gesellschaft für Neue Musik (Deutschland) Klaus Hinrich
Stahmer Ideen, die musikalische Aktionen als Aufarbeitung der jüngeren
deutsch-polnischen Geschichte betrachteten – von Flüchtlingsproblematik
bis hin zur Bespielung ehemaliger Kohlezechen, für die das
Ruhrgebiet bereits Modelle geschaffen hat. Auch Konzerte, die gewissermaßen
die Festivals in Polen und Deutschland in ihren „Highlights“
fokussieren, wurden angedacht.
Für Thomas Rietschel, den neuen Generalsekretär des Deutschen
Musikrats, steht es ohnehin außer Frage, dass wirksames Miteinander
in erster Linie auf dem gegenwärtigen Musikschaffen, auch hin
zu Jazz oder Pop, aufbauen kann. „Nur eine Musik, die in die
Zukunft denkt, also die neue Musik, die avantgardistische, kann
auch wirksam an der Gestaltung des Neuen teilhaben,“ meinte
er. Aus diesen Richtungen kann man also in naher Zukunft Aktivitäten
erhoffen und finanzielle Mittel dürften, wie etwa Sabine Bornemann
vom „Cultural Contact Point“, Bonn, betonte, auch aus
europäischem Topf bereit stehen. Der kurz erschienene polnische
Kulturminister Waldemar Dabrowski bekundete jedenfalls Sympathie
für solche Bestrebungen.
Am zweiten Tag, Moderation des nmz-Herausgebers Theo Geißler
und des Direktors der Philharmonie Rzeszow Wergiliusz Golabek, stellte
man sich dann umfassend Fragen des Urheberrechts. Man ist sich beiderseits
bewusst, dass Musikleben ohne Klärung dieser Basisbestimmungen
immer auf Sand laufen muss und ein Vortrag von Adolf Dietz vom Max-Planck-Institut
für ausländisches und internationales Urheberrecht konnte
in klarer Kürze und souveräner Metierbeherrschung die
gegenwärtigen Rahmenbedingungen (auch mit Blick auf Probleme
des Internets) abstecken.
An die 40 Referenten und Diskutanten hatten sich in Warschau am
Runden Tisch versammelt, vielleicht etwas viel für nur zwei
Tage. Aber die Zahl unterstrich auch das vitale Interesse am Miteinander,
das immer noch von gegenseitigen Berührungsängsten, mehr
aber vom Wunsch einer gemeinsam entwickelten Kulturpolitik geprägt
ist. „Europäische Einigung ist schwer“, betonte
denn auch Theo Geißler mit Blick auf die Notwendigkeit der
kleinen Schritte. Sie aber wurden von musikalischer Seite getan.
Jetzt gilt es in den nächsten Abschnitten der Zusammenarbeit
konkret zu werden. Konkret aber heißt, Möglichkeiten
zu schaffen, dass polnische und deutsche Komponisten und Musiker
miteinander Projekte verwirklichen können. Wie groß hier
das Interesse ist, belegte ein vom Deutschen Musikrat initiiertes
Konzert beim Warschauer Herbst. Helmut Lachenmann, Walter Zimmermann
oder Nicolaus A. Huber, solche Komponisten sind hier immer noch
nicht sehr vertraut. Das Ensemble Recherche hatte sie unter anderem
mitgebracht und ihre strukturelle Klarheit erweiterte den Warschauer
Herbst um eine wesentliche und mit höchstem Interesse aufgenommene
Facette.