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nmz-archiv
nmz 2002/11 | Seite 48
51. Jahrgang | November
Dossier: Musikbuch / Noten
Methodisches Spielen mit Musik
Neues Handbuch der musikalischen Früherziehung bei Herder
Beck-Neckermann, J.: Handbuch der musikalischen Früherziehung.
Theorie und Praxis für die Arbeit in Kindertagesstätten;
Verlag Herder; Freiburg im Breisgau 2002.
Ein Anliegen des Handbuchs, so Beck-Neckermann im Vorwort (S. 8),
ist es, „Erzieherinnen zu unterstützen, die Gelegenheiten,
Möglichkeiten und Potenziale des Spielens mit Musik im elementarpädagogischen
Alltag zu entdecken und für ihre pädagogische Arbeit zu
nutzen.“ Dabei geht es nicht darum Musik zu lehren, sondern
zu ermuntern, Spiele mit Musik wahrzunehmen, anzubieten und in Spielhandlungen
zu integrieren, was sich für ihn in der Formulierung „Spielen
mit Musik“ (S. 9) widerspiegelt. Mit dieser Sichtweise will
sich Beck-Neckermann bewusst von der Vorstellung der musikalischen
Früherziehung, wie sie von den Musikschulen angeboten werden,
begrenzen. Letztere verfolgt für ihn „einen eindeutigen
musikpädagogischen Auftrag“ (ebd.), den er allerdings
nicht näher erläutert. Spielen mit Musik oder „elementarpädagogische
Arbeit mit Musik“ (ebd.) stellt dagegen nur einen Aspekt pädagogischer
Handlungsmöglichkeiten dar. Das, was er unter musikalischer
Früherziehung versteht, lässt sich also als elementarpädagogische
Arbeit mit Musik bezeichnen. „Im Zentrum der hier vertretenen
elementarpädagogischen Arbeit mit Kindern steht das Erleben
der Kinder“ (S. 134), die Wirkungen der Musik und das eigene
musikbezogene Handeln. Das musizierende Kind wird mit seinen emotionalen,
sozialen, kognitiven und motorischen Fähigkeiten zum wesentlichen
Moment des Spielens mit Musik (vgl. ebd.). Ein zweites Anliegen
des Buches besteht darin, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie „das
Spielen mit Musik in den elementarpädagogischen Alltag integriert
werden kann“ (S. 9). Dieses verweist auf die folgenden Kapitel.
Spielen mit Musik
Im ersten Kapitel geht es um das „Spielen mit Musik in Kindertagesstätten“.
Beck-Neckermann hebt hier hervor, dass sich die Art und Weise der
Integration eines Spielens mit Musik nach den jeweiligen Gegebenheiten
der einzelnen Einrichtung zu orientieren hat. Zum einen sind damit
äußerliche Gegebenheiten gemeint, zum anderen aber geht
es um die Profilbildung, die innere Gestaltung der jeweiligen Konzeption
einzelner Einrichtungen. Neben diesem Aspekt spielt aber auch der
Entwicklungsstand der einzelnen Kinder und der Gruppen eine wesentliche
Rolle. So kommt er zu einem ersten „Leitbild elementarpädagogischer
Arbeit mit Musik“ (S. 22), das genau diese Entwicklungsfrage
beinhaltet: „Ausgangs- und Bezugspunkt für das Spiel
mit Musik sind die einzelnen Kinder in ihrer individuellen Entwicklung
und der Entwicklungsprozess der jeweiligen Kindergruppe“ (ebd.).
Spiele mit Musik haben diese Entwicklungsprozesse „zu begleiten,
zu unterstützen und zu fördern“ (ebd.).
Entwicklungstheorie
Die entwicklungstheoretischen Hintergründe zu beleuchten ist
Aufgabe des zweiten Teils des ersten Kapitels. Dabei leitet Beck-Neckermann
sein Bild vom Kind aus fünf Annahmen zur Persönlichkeits-
und Identitätsentwicklung ab: a) Kinder gestalten ihre Entwicklung
von Geburt an aktiv mit; b) Persönlichkeitsentwicklung ist
ein ganzheitlicher und individueller Prozess; c) Identitätsentwicklung
basiert auf Beziehungen; d) Spielen ist ein wesentlicher Motor kindlicher
Entwicklung und e) Persönlichkeitsentwicklung ist ein lebenslanger
Prozess (vgl. S. 25). Die hier gegebenen Einblicke sind sehr kurz
und müssten durch weiterführende Literatur ergänzt
werden. Was mir dagegen gefällt, ist dass der Leser nach jedem
Punkt aufgefordert wird, von dem entwicklungspsychologischen Blick
aus auf den Bereich Spielen mit Musik zu reflektieren.
Das zweite Kapitel „Musik als Spiel-, Erfahrungs- und Gestaltungsfeld“
geht von verschiedenen Perspektiven aus, die sich aus dem musikalischen
Handeln der Kinder ergeben. Beck-Neckermann unterscheidet hier zwischen
der prozess- und erlebnisorientierten, der persönlichkeits-
und entwicklungsorientierten und der werk- und ergebniszentrierten
Perspektive (vgl. S. 43 ff.). Aus der ersten Perspektive heraus
geht es darum, das Verbindende gemeinsamer Aktivitäten, etwa
im Erstellen von Klanggeschichten, zu verdeutlichen. Unter Berücksichtigung
der zweiten Perspektive, der Beobachtung momentanen Verhaltens,
gilt es, geeignete Musikangebote zu machen. Aus der dritten Perspektive
heraus würde man etwa dem Instrumentenselbstbau, der konkreten
Gestaltung eines Musikstücks, vielleicht aber auch dem Werkhören
mit anschließender Reflexion den Vorzug geben. Letztlich geht
es darum, Einblicke zu bekommen in die Beziehungen zwischen den
Kindern und deren Lebenswelt.
Situations-Analysen
Aus dem musikalischen Handeln heraus lassen sich nach Beck-Neckermann
vier verschiedene Situations-Ansätze für das Spielen mit
Musik herauslösen: Spiel und Musik als Wahrnehmungssituation,
als Ausdrucks- und Kommunikationssituation, als emotionales Geschehen
und/oder als Spiel- und Gestaltungssituation (vgl. S. 47). Alle
vier Ansätze werden im Folgenden ausführlich dargestellt.
Wichtig erscheint mir, was auch von Beck-Neckermann betont wird,
dass diese Ansätze nicht zusammenhangslos nebeneinander stehen,
sondern sich wechselseitig durchdringen. Es lassen sich also aus
beobachtbaren Situationen unterschiedliche Schwerpunkte für
nachfolgendes Handeln ableiten.
Kapitel 3 beschäftigt sich ausführlich mit den „Erlebnisfelder(n)
elementarpädagogischer Arbeit mit Musik“. Es entsteht
im günstigsten Fall eine Art Landkarte, die alle Möglichkeiten
des Spielens mit Musik aufzeigt und die je nach Vorstellung, Wunsch
oder Bedarf bereist werden kann. Als Erlebnisfelder erscheinen Beck-Neckermann
die Wahrnehmungs-, die Ausdrucks-, die Reflektionsfähigkeit,
Kommunikation und Interaktion, Emotion, Ästhetik, Kreativität,
soziales Handeln und der Sach-, Themen- und Weltkontakt (vgl. S.
87 ff.). Doch vor den Erlebnisfeldern steht der Prozess der Zielfindung
und -setzung, denn jedes pädagogische Handeln basiert bewusst
oder unbewusst auf Zielvorstellungen. Pädagogischen Zielsetzungen
liegen Entscheidungen zugrunde, einzelne Aspekte zu fokussieren.
Diese Entscheidungen basieren ihrerseits unter Umständen auf
der Wahrnehmung einer Situation, die ich durch eine Zielsetzung
strukturieren möchte, der ich (für mich, eventuell auch
für den anderen) einen Sinn geben will. Meine Zielsetzungen
haben dabei unterschiedliche Reichweiten und sie geben Entwicklungsrichtungen
vor. All das wird von Beck-Neckermann sehr anschaulich beschrieben.
Zielsetzungen ergeben sich nicht von selbst, sondern sie müssen
„kontext-, situationsbezogen und kindzentriert entwickelt
werden“ (S. 77). Hinzu kommt, dass diese Zielsetzungen, sollen
sie nicht entmündigend wirken, eine gewisse Transparenz für
alle beteiligten Personen brauchen. Die Zielsetzungsprozesse, die
der Autor hier beschreibt, machen deutlich, dass Musik hier nur
als ein mögliches Medium gesehen wird, die Ziele zu erreichen.
In Beck-Neckermanns Beispielen zeigt sich für mich der Unterschied
zwischen musikalischer Früherziehung in Kindertagesstätten
und in der Musikschule.
Spiel mit Musik begleiten
„Das Spiel mit Musik begleiten“ ist das zentrale Anliegen
des vierten Kapitels. Es geht hier um eine Entwicklungsbegleitung
der Kinder. Um diese realisieren zu können, sind eine einfühlsame
Beobachtung, eine anschließende Reflexion, eine Planung, die
Impulse setzt, und eine erneute Reflexion von Nöten. Diesen
Aspekten widmet sich der erste Teil des Kapitels. Es folgt ein Fallbeispiel,
um die Handlungsmöglichkeiten der Erzieher/-innen aufzuzeigen.
Gerade der Abschnitt über die Wahrnehmung und die Beobachtung
der Spielwelt der Kinder enthält sehr viele Sachverhalte, die
sich differenziert beobachten lassen. Dabei stellt der Bereich „Spiele
mit Musik“ nur einen speziellen Bereich dar. Ganz wesentlich
scheint mir dabei zu sein, dass Spielangebote, ob nun mit oder ohne
Musik, nicht an den Kindern vorbeigeplant werden.
Methodische Grundlagen
Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit den „methodische(n)
Grundlagen des Spielens mit Musik“. Diese lassen sich nicht
aus der Theorie auf die Praxis übertragen, sondern sie sollen
an der Praxis, aus dem Kontakt zu den Kindern heraus entwickelt
und ausprobiert werden. Theoretische Überlegungen können
deshalb immer nur modellhaften Charakter haben. Dennoch stellt der
Autor sechs „Orientierungsmarken für das Anleiten und
Begleiten des Spielens mit Musik“ (S. 109) heraus. Eine dieser
Orientierungsmarken ist das intermediäre Spiel. Das Spiel selbst
ist grenzüberschreitend, es besitzt einen „Drang zur
Integration unterschiedlicher Ausdrucksmedien“ (S. 110), was
wiederum auch für die Musik zutrifft. Was also liegt näher
als in Spielhandlungen auch Spiele mit Musik einfließen zu
lassen. Neben theoretischen Reflexionen gibt Beck-Neckermann hier
auch „eine Auswahl intermedialer Spielformen“ (S. 114).
Da ist zunächst das Musik- und Bewegungsspiel, dessen Beziehungen
vielfältig und unterschiedlich akzentuiert und differenziert
sein können. Auch zum Musik- und Sprachspiel werden verschiede
Perspektiven angeboten. Ebenso zum Musik- und Farbspiel, wie auch
zum Musik- und Figurenspiel. „Intermediale Quergänge
dienen dazu, die Wahrnehmungs- und Ausdrucksmöglichkeiten der
Kinder zu erweitern und deren Erleben beim Spiel zu vertiefen“
(S. 117). Dies gilt für alle Spiele und für musikbetonte
Spiele besonders. Eine weitere Orientierungsmarke betrifft das Anleiten
musikalischer Spielprozesse, was nach Meinung des Autors ein hohes
Maß an Sensibilität und Flexibilität erfordert,
will man seine eigenen Handlungsimpulse und die der Kinder unter
einen Hut bringen. Als Unterscheidungskriterien bietet er hier den
Ausdrucks-, den Struktur- und/oder den Prozessaspekt von musikalischen
Spielsituationen an, die dann eben auch die Perspektiven bieten,
auf denen Spiele initiiert werden können. Das Spiel mit Polaritäten
(vgl. S. 124 ff) stellt eine weitere Orientierungsmarke dar. Unter
Polaritäten versteht der Autor „eine Beziehung zwischen
sich ergänzenden Gegensätzen“ (S. 124). Angesprochen
ist hier der Umgang mit den musikalischen Parametern ebenso wie
die Sozialform des Spiels. Eine weitere Orientierungsmarke fragt
nach den Themen und den Materialien des musikalischen Spiels, die
wiederum sehr vielfältig sind, die sich aber nicht von dem
unterscheiden, was dem kundigen Leser ohnehin schon bekannt ist.
Eine fünfte Orientierungsmarke stellen die räumlichen
und zeitlichen Möglichkeiten für das Spielen mit Musik
dar (vgl. S. 135 ff.). Die hier vorgetragenen Ideen basieren auf
dem Umstand, dass in Kindertagesstätten Spiele mit Musik „keine
Sonderveranstaltung, sondern alltäglicher Bestandteil“
(S. 135) der Arbeit sind. Dazu passt auch die letzte Orientierungsmarke,
wonach über musikalisches Erleben kommuniziert wird.
Die folgenden 90 Seiten geben Einblicke in die praktische Arbeit
des Spielens mit Musik. Die hier angeführten und vielfältig
reflektierten Beispiele beziehen sich auf erste Kontakte zu Musikinstrumenten,
auf Spiele mit der Stimme, die hier nicht nur das Singen von Liedern
umfassen, auf das Entwickeln und den Umgang mit graphischer Notation,
auf stimmliche und instrumentale Klangexperimente, auf Klangspiele
und Klanggeschichten und auf Bewegungsbegleitung.
Defizite
Einem kurzen Schlusswort folgt ein, bezogen auf die Qualität
eines Handbuchs unvollständiges Literaturverzeichnis und eine
kurze, meiner Meinung nach überflüssige Adressenliste
für den Instrumenteneinkauf. Was mir auch fehlt, ist die historische
Entwicklung des Fachs. Auch sie gehört zu einem Handbuch dazu.
Wenn Beck-Neckermann sein Buch Handbuch der musikalischen Früherziehung
nennt, so geht das begriffliche Verwirrspiel von ihm aus. Warum
nennt er es nicht Handbuch der elementarpädagogischen Arbeit
mit Musik? Warum überhaupt der Versuch, sich abzugrenzen, wo
doch der Tatbestand der Elementaren Musikpädagogik sowohl für
Erzieher/-innen als auch für Musikschullehrer/-innen Gelegenheit
böte, auf einem gemeinsamen Fundament eigene Schwerpunkte zu
setzen.
Trotz der eben angesprochenen Mängel und einer letztlich
doch wohlwollenden Kritik: Das Handbuch ist sicherlich nicht nur
interessant für Erzieher/-innen, sondern auch für Musikschullehrer/-innen.
Dies bezieht sich sowohl auf den theoretischen als auch auf den
praktischen Teil.