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nmz-archiv
nmz 2002/11 | Seite 51
51. Jahrgang | November
Dossier: Musikbuch / Noten
Von poetischen Walzern und singenden Cowboys
Neue Spielhefte im Gitarrenunterricht · Von Stephan Schmidt
Wer ein Musikinstrument unterrichtet, kennt das Problem: Ständig
sehen sich die Lernenden mit neuen Übungsaufgaben konfrontiert,
um technische Fertigkeiten zu erwerben. Dabei besteht die Gefahr,
dass der anfänglich große Übungseifer allmählich
verloren geht. Um dies zu verhindern, wird neben dem jeweiligen
Unterrichtswerk zusätzliches Notenmaterial eingesetzt, mit
dem sich die Freude am bereits Gelernten auskosten lässt.
Ein Spielheft, das sich in idealer Weise zur Motivierung im Gitarrenunterricht
der Grundstufe eignet, ist jetzt im Prim Verlag erschienen. Dieser
weniger bekannte Verlag aus Darmstadt, der ganz bescheiden das kleinste
musikalische Intervall im Namen führt, hat sich auf Gitarre
und Kammermusik spezialisiert. Neben anspruchsvollen Urtextausgaben
von Bach oder Dowland gibt es in der Abteilung „Gitarrenmusik
für den Unterricht” auch die Reihe „Große
Komponisten für junge Gitarristen”. Unter diesem Motto
präsentiert Tilman Hoppstock „kinderleichte Arrangements
großer Werke”. Das neueste Heft enthält die berühmten
„Valses Poeticos” von Enrique Granados (1867–1916)
in einer Bearbeitung für Gitarre solo. Diese wunderschönen
„poetischen Walzer” aus dem Mutterland der Gitarre wurden
vom Zeitgenossen Tárregas zwar für das Klavier komponiert,
erlangten aber im 20. Jahrhundert große Popularität in
Fassungen für eine oder zwei Gitarren. Wegen des hohen Schwierigkeitsgrades
blieb das Werk bisher den fertig ausgebildeten Gitarristen vorbehalten.
Um die herrlichen Melodien mit ihrem Flair der spanischen Folklore
auch schon Anfängern zugänglich zu machen, musste der
Bearbeiter erhebliche Reduktionen vornehmen. Er wählte neben
der Einleitung und der Reprise vier der sieben Walzer aus und transponierte
sie in leichter spielbare Tonarten (zum Beispiel G-Dur statt F-Dur).
Nach der Bearbeitung ergibt sich nun ein fast durchgängig zweistimmiger
Satz mit Melodie und Bass, der nur gelegentlich zu dreistimmigen
Akkorden erweitert wird. Hört man unvoreingenommen das Ergebnis,
so muss man anerkennen, dass der Bearbeiter durchaus sein Ziel erreicht
hat, die besondere Idiomatik der Komposition zu erhalten. Gitarrenlehrer
haben somit die Möglichkeit, ihre Schüler schon früh
für die großartige Musik eines Enrique Granados zu begeistern
und so werden sie den Prim Verlag vielleicht sogar mit „prima”
oder augenzwinkernd gitarristisch mit „p-i-m-a“ in Verbindung
bringen. Dass sich gerade Walzerkompositionen hervorragend für
ansprechende Spielstücke eignen, hat ja vor einigen Jahren
schon der Schweizer Gitarrist Jürg Hochweber bewiesen. Aus
seiner Feder stammen „7 leichte Gitarrenwalzer mit Pfiff“,
die im Heft „Walzerträume“ (Apollo Verlag) veröffentlicht
sind.
Wenn als vorrangiges Unterrichtsziel jedoch nicht Klassisches Gitarrenspiel,
sondern Liedbegleitung angestrebt wird, haben die Walzer wohl ausgeträumt.
Denn als ergänzendes Spielmaterial dürfte dann logischerweise
eher eine moderne Liedersammlung in Frage kommen.
Eine besonders empfehlenswerte Neuerscheinung mit dem Titel „Songs
from America“ (Ricordi Verlag) stammt von Richard Voss, der
seit vielen Jahren didaktisch ausgefeilte Lieder- und Flötenhefte
herausbringt. Gewiss wären prinzipiell auch Walzerlieder wie
„Tulpen aus Amsterdam” zum Erlernen der Liedbegleitung
nützlich, doch an der Tatsache, dass vor allem Jugendliche
überwiegend englisch singen wollen, kommt man als Lehrer nicht
vorbei. Man mag es bedauern, dass die deutsche Sprache mit ihren
wunderbar differenzierten Ausdrucksmöglichkeiten derzeit so
massiv von englischsprachigen Ausdrücken in Werbung und Medien
zurückgedrängt wird. Dennoch müssen wir zur Kenntnis
nehmen, dass in der populären Musik ebenfalls die Sprache der
Briten und Amerikaner den Ton angibt. Englisch gesungene Pop-Songs
haben nun einmal gerade bei Jugendlichen den Nimbus von Weltläufigkeit
und strahlen wegen der sprachlichen Hürde etwas vom Zauber
des Geheimnisvollen aus. Einer möglicherweise unkritisch-schwärmerischen
Rezeption nordamerikanischer Folklore begegnet Richard Voss in seinem
Heft mit sachlichen Hintergrundinformationen über die Entstehung
dieser Musik. Die insgesamt 42 Lieder und Tänze sind in fünf
Themenbereiche gegliedert, denen jeweils ein informativer Einleitungstext
vorangestellt ist. So erfahren wir im ersten Abschnitt „Cowboylieder
und -tänze“, dass die ersten Cowboys Indianer waren,
die von spanischen Missionaren das schwierige Handwerk erlernten.
Der spanische Einfluss ist noch in Wörtern wie Rodeo und Lasso
erkennbar.
Es fällt auf, dass einige Cowboylieder aus dem 19. Jahrhundert
wie „Red River Valley” und „Wildwood Flower”
100 Jahre später in Rock’n’Roll – beziehungsweise
Country-Versionen um die Welt gingen. Ähnliches gilt für
viele Songs in dieser Sammlung, so auch für die meisten „Sklavenlieder
und Spirituals” im zweiten Abschnitt. Das berühmte „Can
the circle be unbroken” wurde in der Bürgerrechtsbewegung
der Sechziger Jahre unter anderem von Joan Baez verbreitet. Es ist
sehr reizvoll, bekannte Lieder der Pop-Geschichte in ihrem ursprünglichen
sozio-kulturellen Zusammenhang neu zu entdecken. Damit die schönen
Melodien auch leicht zu musizieren sind, hat der Herausgeber alles
getan, um das Notenbild gut lesbar zu gestalten. Alle Takte sind
auch optisch gleich lang und durch eine kluge Zeileneinteilung werden
die musikalischen Strukturen sichtbar gemacht. Bei der Auswahl der
Tonarten (nur C-, G- und D-Dur) wurde vor allem an die leichte Spielbarkeit
für Sopran-Blockflöte gedacht. Gitarristen finden hier
ebenfalls attraktives Übungsmaterial sowohl für das einstimmige
Melodiespiel als auch für die Liedbegleitung mit einfachen
Akkorden, die im Duo mit einem Melodieinstrument erklingen können.
Da manchmal bis zu fünf Textstrophen vorhanden sind, ist natürlich
auch unterhaltsamer Gesang am Lagerfeuer möglich. Diese hochklassige
Sammlung könnte sogar dazu beitragen, dass sich die Schulnoten
auch in Englisch und Geschichte verbessern.