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nmz-archiv
nmz 2002/11 | Seite 52
51. Jahrgang | November
Dossier: Musikbuch / Noten
Ein Radikaler im öffentlichen Schreibdienst
„Heute Morgen“: Rainald Goetz verwandelt seine Bücher
der späten 90er-Jahre in Text-Musik
Rainald Goetz: Heute Morgen. Rave, Jeff Koons, Celebration,
Abfall für alle, Dekonspiratione, gelesen vom Autor, Musik:
Rainald Goetz und Westbam, 2 CDs, Hörverlag.
Merkwürdigerweise scheint ausgerechnet Rainald Goetz vom raschen
Verfall und der lang anhaltenden Baisse der einst hoch gehandelten
Aktie „Pop-Literatur“ nicht im mindesten betroffen.
Erstaunlich ist das freilich nur für den raschen, oberflächlichen
Blick. Zwar war der promovierte Historiker und Psychiater, der mit
seinem semi-autobiographischen Debüt „Irre“ und
einer legendären Bachmann-Preis-Lesung den Hirn-Schnitt in
der deutschen Literatur populär gemacht hatte, Mitte der 80er-Jahre
als später Sounds- und Spex-Aficionado vielleicht der Erste,
der Pop-Musik zum Thema einer hocherregten und -abstrakten Dauer-Reflexion
machte, aber sein Schreiben war so zerrissen, „vertrackt“,
durch Zitat und Begriff vermittelt, dass es mit dem feuilletonistischen
Parlando und der Gratis-Frechheit der sogenanntes Pop-Literatur
der späten 90er-Jahre kaum etwas verband. Für Goetz war
„Pop“ nicht bequeme Sprechweise, sondern zuerst Medium
seiner Hass-Attacken auf eine Hochkultur, die er als beschwichtigenden
Begleittext zur verdinglichten Warenwelt des Spät- und Hyper-Kapitalismus
verstand; später dann das Feld einer gnadenlosen, nietzscheanischen
Affirmation, die subversiver wirkte als bloße Kritik.
Goetz war von Anfang an beides: ein Radikaler im öffentlichen
Schreibdienst; und ein hingebungsbereiter Mystiker auf der Suche
nach dem großen, auslöschenden Glück. Seine Methode
war die „Lektüre“ der Text gewordenen Welt; er
selbst nannte diese manische Lesewut, bewusst paranoid, „Kontrolle“;
und rasch auch eine oft schon hysterische Wirklichkeitsmitschrift,
die dem, was gerade geschieht, auf die Spur kommen will. „1989“
protokollierte er noch weitgehend vor dem Fernseher hockend. In
den 90er-Jahren tauchte er, ein frisch von Acid-House Bekehrter,
ins Nachtleben der Clubs und Raves ein, entdeckte in der permanenten
Party eine systemsprengende Utopie und schickte sich an, diese Erfahrung
von Sex, Rausch und überschreitender, „tranciger“
Musik in Text zu verwandeln. Einen Extrakt aus diesen fünf
Büchern, die mal als Internet-Tagebuch („Abfall für
alle“), mal als Prosa-Party („Rave“), dann wieder
als artsy-Bühnenstück („Jeff Koons“) oder
als poetologisch vertrackte, das eigene Entstehen andauernd mitthematisierende
Erzählung („Dekonspiratione“) daherkamen, veröffentlicht
Goetz jetzt als Hörbuch und sorgt zusammen mit Party-Mate Westbam
dafür, dass die Wort-Musik gewissermaßen einen dubbigen
Generalbass bekommt.
Das Faszinosum dieser Nightlife-Protokolle besteht nicht zuletzt
darin, dass da einer die Regeln der Enthemmung untersucht, der selber
eher ein Kontroll-Freak ist. Tag und Nacht, lautete damals das anstrengende
Programm für ein Doppel-Leben. In „Celebration“
formulierte er, was er sich vom Dauer-Rave erhoffte: „Auslöschung
von Erinnerung, Bewusstsein, Reflexion, Vernichtung von Geschichte.“
Das klingt nicht nach Entertainment, sondern nach dem Prinzip einer
Daseins-Revolution: „break on through to the other side“,
hieß das in den späten 60ern. Der Intellektuelle Goetz
suchte den anderen Zustand sogar und partout im Wummern der Love
Parade. Wo die meisten nur die Parttime-Parodie der herrschenden
Verhältnisse, eine Art alternativen Fasching entdecken konnten,
sah Goetz die Erlösung vom Zwang oder zumindest den Vorschein
eines befreiten Lebens.
Was Goetz’ Projekt, selbst dort, wo er sich täuscht,
exemplarisch und lehrreich macht, ist das Obsessive seiner Mit-Schrift.
Er lässt nichts aus; er dokumentiert umfassend; wenn er Mythen
kreiert, lässt er zu, dass man ihm dabei zuschauen kann. Goetz’
Text- und Sound-Collagen versammeln alles, was ist – und wie
es ist. Es ist eine Art Second-Hand-Authentizität, die unter
seiner Sucht nach dem kleinsten Detail und den großen Zusammenhängen
implodiert. Karl Marx träumte einst davon, den versteinerten
Verhältnissen „ihre Melodie“ vorzuspielen und sie
dadurch zum Tanzen zu bringen; Goetz hat die Bässe dazu –
und er kennt die richtigen DJs.