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nmz-archiv
nmz 2002/11 | Seite 52
51. Jahrgang | November
Dossier: Musikbuch / Noten
Hineingeworfen in den Mahlstrom der Verhältnisse
Neue Hörbücher: Marleni, Lyrik als Event, Schwanitz
über Musik, Der Beikircher
Thea Dorn: Marleni, mit Gisela May und Gisela Uhlen, Regie:
Jörg Jannings, Musik: Walter Florey, 1 CD, Lido/Eichborn
Lyrik zwei, 4 CDs, hörverlag.
Dietrich Schwanitz: Bildung. Alles, was man wissen muss: Kunst
und Musik, 2 CDs, lido/Eichborn.
Andante spumante: Der Beikircher. Ein Konzertführer, 5 CDs,
RoofMusic, im Buchhandel bei Eichborn, im CD-Fachhandel bei Universal
Classics.
Das neue Hör-Stück ist vor allem Kopf-Theater: die Welt
als Wille und Vorstellung. Besonders deutlich wird das bei „Marleni“.
Die Autorin Thea Dorn bringt zwei Femmes fatales des 20. Jahrhunderts
zu einem virtuellen Endspiel zusammen: Die unverwüstliche Leni
Riefenstahl klettert via Balkon ins Pariser Apartment Marlene Dietrichs,
um sie, so das Traum-Szenario, als Penthesilea für ihren letzten,
größten Film zu verpflichten. Im Dialog der Diven verdichtet
sich das Katastrophen-Säkulum zur großen Phantasmagorie
zerbrochener Sehnsüchte und gefälschter Lebensläufe.
Die Frauen verschmelzen zur janusköpfig-schillernden Doppelgestalt,
die, wie es leitmotivisch heißt, von der Gnade des späten
Todes profitiert: Die jeweilige Gegenwart stößt einem
zu; man ist ihr Opfer; Teil einer Kraft, die man nicht versteht;
herumgewirbelt im Mahlstrom der Verhältnisse, auch der eigenen.
Die weltabgeschiedene Retrospektive aber richtet sich alles so her,
wie man es braucht. Im Alter wird man frei; man konstruiert seine
eigene Biographie; als Überlebende muss man Zeitzeugen immer
weniger fürchten.
Thea Dorn verkehrt in ihrem Hör-Stück virtuos die vertrauten
Erwartungen: Die Dietrich erscheint als Frau unter Einfluss, die
immer nur das getan hat, was andere ihr sagten; für die Riefenstahl
dagegen ist die Welt Inszenierung; sie will nur das sehen, was ihr
das Kamera-Auge zeigt. Marlene ist der Serialität des Sex unterworfen,
Leni auf der Suche nach dem einen, absoluten Bild. Gisela Uhlens
Leni ist schönheitstrunken-unbelehrbar, eine Suchende ohne
Vorurteile, aber voller Ressentiments, Gisela Mays Marlene eine
zerstörte Narzistin, die sich in einen Kokon privater Süchte
und Zynismen zurückgezogen hat. Die Überblendung der beiden
scheinbar so ungleichen Frauen, auf ihre Art jeweils Heroinnen einer
praktizierten Emanzipation ohne Theorie, führt zu dem Moloch
Marleni, in dem ein Jahrhundert deutscher Geschichte verschwindet.
Freilich nicht spurlos.
Durch das Hör-Stück ziehen sich die Sounds des Säkulums;
in Marlenes Liedern, die immer wieder, entstellt, anklingen ist
das kollektive Unbewusste gegenwärtig. Und dahinter und darunter
liegen nicht nur die Geräusche des Krieges oder der Alterseinsamkeit,
sondern auch die heruntergekommene Symphonik der Traumfabrik-Soundtracks
von der Ufa bis Hollywood.
Dass auch die Lyrik in ihrem Ursprung Musik ist, konnten die Besucher
eines vom Bayerischen Rundfunk veranstalteten Events erfahren, das
jetzt als Hörbuch auf vier CDs im hörverlag vorliegt.
Nicht nur die Tragödie entstand, wie Nietzsche feststellte,
aus dem Geist der Musik, auch das Gedicht war zunächst Gesang,
ein dionysisches Daseins-Murmeln, das eher bezauberte als argumentierte.
In der heutigen Medien-Allgegenwart, wo das Wort, im besseren Fall,
Information oder Meinung, sehr oft aber auch Werbung und Manipulation
ist, gibt es offenbar ein fortwirkendes Bedürfnis nach Bezauberung;
nicht als Gegensatz zur Klarheit des Diskurses, sondern als dessen
Grund; das Apollinische, wenn es nicht selbst verrückt werden
soll, braucht das Dionysische. Es lesen Stars der Szene wie Raoul
Schrott, Friederike Mayröcker und Durs Grünbein, aber
auch die Dänin Inger Christensen und Fuad Rifka.
Und gerade wenn der Archäologe des poetischen Vermögens,
Raoul Schrott, ein Gedicht der Sappho im Original vorträgt
oder wenn man vor der Übersetzung der Lyrik Christensen und
Rifkas lauscht, also gleichsam im prä- oder trans-semantischen
Urzustand, im Paradies diesseits des Vorverständigtseins, erfährt
man das Melos, den Rhythmus als tragende und treibende Kraft jedes
Gedichts. Entzifferbarer Sinn ist etwas sehr Spätes.
Das Hörbuch kann aber nicht nur, anders als der gedruckte
Text, mit der Wort-Musik vertraut machen und die „Mündlichkeit“,
die am Anfang der Literatur steht, revitalisieren, es ist auch ein
Medium, das Musik verständlich(er) werden lässt. Dietrich
Schwanitz versucht das im Musik-Kapitel seines Bildungs-Bestsellers
eher konventionell: als ein mit enzyklopädischem Wissen ausgestatteter
Weltweiser, der dem rezeptiven Fußvolk Orientierung und Party-
oder Kaffeekränzchen-Souveränität verschaffen möchte.
Alles, was man wissen muss, lautet in etwa sein Versprechen, die
ganze Welt der abendländischen Bildung in der Nussschale von
ein paar Buchseiten oder Hörbuch-Minuten. Das funktioniert
einigermaßen, solange er Grundbegriffe der Musik verdeutlicht;
obwohl das jedes Konversationslexikon genauso leistet. Das wird
eher dürftig, wenn es im Schnelldurchlauf durch die Musikgeschichte
geht; statt erhellender Analysen gibt es meist nur Anekdoten, die
nicht einmal charakteristisch sind.
Besser bedient ist man da in jeder Hinsicht beim „Beikircher“,
einem klingenden Konzertführer auf fünf CDs, dessen Titel
„Andante Spumante“ schon verrät, dass Seriosität
um jeden Preis nicht sein Ziel ist. Beikircher ist Kabarettist;
und er liebt eine flapsige Ausdrucksweise, die sicher nicht jedermanns
Geschmack sein dürfte. Aber anders als Schwanitz ist er nicht
einer, der high-browed mit Discount-Wissen protzt, sondern ein passionierter
und kundiger Musikliebhaber; selbst Beikirchers Anekdoten sind fast
immer aufschlussreich, er scheut sich nicht „taktgenau“
zu argumentieren und er versinnlicht seine Erläuterungen durch
ausführliche Musikbeispiele der „Klassiker“ von
Bach bis Ravel in meist tadellosen Einspielungen.