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nmz-archiv
nmz 2002/11 | Seite 49
51. Jahrgang | November
Dossier: Musikbuch / Noten
Detailreich und faktensicher, kein Parlando
Rolf Liebermann in der Buchreihe der ZEIT-Stiftung „Hamburger
Köpfe“
Gisa Aurbek: Rolf Liebermann, ISBN 3-8319-0006-X, Hamburg
2001, Verlag Ellert & Richter, in der Reihe „Hamburger
Köpfe“, 136 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, 14,90
Euro.
„Ich freue mich, dass Sie zu uns kommen, aber ich mache Sie
auf eine besondere Verantwortung aufmerksam. Sie sind der einzige
Jude in der Schweizerischen Rundfunkgesellschaft!“ Das war
die Begrüßung, mit der der später in Hamburg und
Paris gefeierte Intendant und Komponist Rolf Liebermann 1944 seine
Stelle als Tonmeister bei Radio Zürich antrat. Sohn eines preußischen
Offiziers und einer Schweizerin mit französischen Eltern, Großneffe
des führenden deutschen Impressionisten Max Liebermann: So
einer kommt zwischen allen Stühlen auf die Welt und muss sich
behaupten, will er nicht untergehen. Weit entfernt vom bloßen
Behaupten hat Rolf Liebermann als faszinierende Mischung aus Visionär
und Macher das Musikleben nicht nur in Deutschland mitgeformt und
bereichert.
Was in der Rückschau als logische Entwicklung an immer anspruchsvolleren
Aufgaben erscheint, tat Liebermann selbst als eine Folge von Zufällen
ab: etwa die Bekanntschaft mit dem Dirigenten Hermann Scherchen,
der ihn auf einem Dirigierkurs umgehend zu seinem persönlichen
Assistenten machte und dafür sorgte, dass der junge Komponist
seine eigene Musik auch zu hören bekam. Die Zusammenarbeit
mit Liselotte Wilke, später unter dem Namen Lale Andersen,
mit „Lilli Marleen“ weltberühmt, auf Züricher
Kabarett-Bühnen; die Freundschaft mit Hans Schmidt-Isserstedt,
Chefdirigent des neugegründeten NDR-Sinfoniorchesters, die
ihn 1957 als Leiter der Hauptabteilung Musik zum NDR führte
und schließlich zwei Jahre später zur Hamburgischen Staatsoper:
eigentlich keine „Zufälle“. „Das Leben ist
aus Begegnungen gemacht“, war Liebermanns Motto und instinktsicher
hat er diese Begegnungen mit Persönlichkeiten aus Kunst, Politik
und Wirtschaft immer wieder gesucht und herbeigeführt. Gab
er auf der einen Seite selbstlos Musikern und Komponisten wie Placido
Domingo und Mauricio Kagel die entscheidenden Karriere-Impulse und
verschaffte ihnen die Möglichkeiten zur Entfaltung, konnte
er genauso in eigener Sache die Fäden ziehen. Als 1962 Igor
Stravinskys 80. Geburtstag anstand, wollte Liebermann für den
Freund und Künstlerischen Gast der Hamburgischen Oper die Feier
ausrichten. Doch da kam aus Moskau die Einladung an Stravinsky,
sich in der Heimat, die er seit der Revolution von 1917 nicht mehr
gesehen hatte, offiziell von Staats wegen feiern zu lassen. Liebermann
ließ umgehend den befreundeten Komponisten Nikolai Nabokov
um eine Gegen-Einladung in Washington antichambrieren, und Stravinsky
sah sich alsbald vor die Wahl gestellt, entweder die eine oder die
andere Weltmacht zu brüskieren. Diplomatisch blieb er der ersten
Einladung aus Hamburg treu, und Liebermann hatte sein Fest.
Zwei Jahre nach Liebermanns Tod hat die Hamburger ZEIT-Stiftung
in ihrer Reihe „Hamburger Köpfe“ vor kurzem die
erste Biografie über ihn vorgelegt. Liebermann hat von 1959
bis 1973 den Ruf der Hamburgischen Staatsoper als hervorragendes
Repertoirespielhaus wie eine Keimzelle zeitgenössischen Opernschaffens
geprägt. Von 1985 bis 1988 sprang er noch einmal als Interimsintendant
in die Bresche – Verdienste genug, um den Schweizer, der in
Hamburg nur eine kleine Zweizimmerwohnung unterhielt und eigentlich
mehr in der Oper wohnte, zum „Hamburger Kopf“ zu ernennen.
Vor dem charmanten Parlando von Liebermanns eigenem Erinnerungsband
„Opernjahre“ liest sich Gisa Aurbeks biografischer Abriss
zunächst eher nüchtern. Detailreich und faktensicher umreißt
sie Herkunft, Jugendzeit und frühes Berufsleben, um alsbald
die wesentlichen Akzente von Liebermanns Arbeit in Hamburg und Paris
zu charakterisieren. Ohne Vorerfahrung oder Spielplankonzept war
er an der Hamburgischen Staatsoper angetreten. Ganze fünf Minuten
dauerte das Einstellungsgespräch vor dem Verwaltungsrat: Zeichen
einer risikofreudigeren Ära, als ein Intendant noch lernen
durfte, einer zu sein. Dass Liebermanns konsequente Repertoirepflege,
bei der das Wort „B-Besetzung“ nicht mehr vorkam, seine
Ensemblepolitik, sein Einsatz für ein modernes Ballett und
der Vorstoß für ein Neues Musiktheater ohne einen verständigen
Verwaltungsrat und den Verwaltungsdirektor Herbert Paris nicht möglich
gewesen wäre, hebt Gisa Aurbek deutlich hervor. Geschickt vermittelt
sie durch Liebermanns Porträt auf eine auch für Opernlaien
verständliche Weise, was auch sonst noch alles in so einem
Haus passieren muss, bis der Vorhang hochgehen kann. Und auch wer
als Theaterfachfrau oder -mann über den Tarif-Beton an deutschen
Theatern stöhnt, wird mit Gewinn von den Verhältnisse
an der Grand Opéra Paris lesen, wo Bürokratismus und
wilde Streiks mehr als eine Premiere platzen ließen.
Mit anschaulichen Anekdoten, Berichten von Zeitzeugen und viel
Faktenwissen zeichnet Gisa Aurbek ein konzentriertes und lesenswertes
Porträt, ohne den charismatischen Opernmann zu verklären.
Seine Unfähigkeit im Ehe- und Familienleben wie sein Machtbewusstsein
kommen ebenso zur Sprache wie seine vielfältigen Verdienste.
In einem eigenen Kapitel zieht sie Liebermanns kompositorische Entwicklung
nach und liefert knappe Analysen seiner wichtigsten Kompositionen,
die sie kenntnisreich ins zeitgenössische Umfeld einordnet.
Der Text des kleinen Bandes ist treffend bebildert und bringt etliche
sehenswerte Inszenierungsfotos, zu wünschen wäre allenfalls
eine Tabelle der wichtigsten Lebensdaten und ein Namensregister.