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nmz-archiv
nmz 2002/11 | Seite 47
51. Jahrgang | November
Dossier: Musikbuch / Noten
Insekten, die in einem Kadaver brummen ...
Franz Liszts frühe Schriften in der bemerkenswerten Neuausgabe
von Breitkopf & Härtel
Franz Liszt: Sämtliche Schriften. – hrsg. von Detlef
Altenburg. Band 1: Frühe Schriften. – hrsg. von Rainer
Kleinertz, Breitkopf & Härtel BV 232, 704 Seiten, zahlreiche
Abbildungen, 104,- €.
Die Leistung Lina Ramanns, die in den Jahren 1880 bis 1883 Liszts
Schriften in sechs Bänden herausgegeben hat, verblasst vor
der neuen historisch-kritischen Ausgabe des Verlages Breitkopf &
Härtel. Es werden jedoch noch Jahre vergehen, bevor das anspruchsvolle
Projekt einen Abschluss findet. Seit Mitte der 80er-Jahre kommen
sukzessive immer wieder Bände der Liszt-Schriften heraus, zuletzt
die Frühen Schriften (Band 1), die im Vergleich zu Ramanns
Edition ganz neu zusammengestellt wurden. Zunächst einmal stehen
die französischsprachigen Originaltexte, wenn sie auffindbar
waren, den deutschen Übersetzungen direkt gegenüber. Manche
Texte allerdings wurden auch zum ersten Mal beziehungsweise erstmals
vollständig ediert. Ramann hatte sich seinerzeit recht großzügig
mit Fragmenten begnügt oder bewusst Kürzungen vorgenommen.
Im Vergleich zum Originaltext treten nun aber auch Übersetzungsfehler
ihrer Ausgabe zutage, die in der Neuübersetzung gewissenhaft
korrigiert und dokumentiert werden.
Unverzichtbare Bestandteile der Neuausgabe sind die Fortsetzung
der Artikelserie „De la situation des artistes“ unter
dem Titel „Encore quelques mots sur la subalternité
des musiciens“, die „Lettres d’un bachelier ès-musiques
IX., X., XI. und XV.“ sowie die Konzertberichte „Concert
de M. Berlioz, Revue musicale de l’année 1836",
den Ramann unvollständig wiedergibt, die „Trois morceaux
dans la genre pathétique par C.-V. Alkan“ und „Concert
de Chopin“. Eine bemerkenswerte editorische Entscheidung betrifft
die geschlossene Abtrennung der „Lettres d’un bachelier
ès-musique“ aus der Chronologie der Schriften, für
die die Herausgeber die Begründung fanden, dass Liszt selbst
im Jahre 1839 den Wunsch geäußert hatte, aus dieser Textserie
eine Buchveröffentlichung zu machen.
Der vorliegende Band, der übrigens die alte Rechtschreibung
beibehält, widmet sich also sämtlichen vor Liszts Weimarer
Zeit entstandenen Texten. In der neuen Zusammenstellung und Übersetzung
wird noch klarer, wie stark sich der Autor von Grundideen leiten
ließ, die alle Schriften wie ein roter Faden durchziehen.
Dazu gehören die Funktion der Kunst im öffentlichen Leben,
die Stellung des Künstlers, für dessen gesellschaftliche
Aufwertung sich Liszt ungemein stark gemacht hat, und sein damit
ver- bundener Plan einer groß anlegten Reform des Musiklebens.
So weit gespannt, sagt der Herausgeber, das Spektrum des Themas
der frühen Schriften ist, so unübersehbar ist die Tatsache,
dass die Reisebriefe und die Kritiken und Konzertberichte in einem
engen Zusammenhang stehen und dass überdies nahezu alle wesentlichen
großen Themen und Ideen der Weimarer Schaffensphase bis hin
zur Idee einer „Weltliteratur in Tönen“ hier bereits
angelegt sind.
Schon der junge Liszt hat kein Blatt vor den Mund genommen. Streng
geht er in seinem Aufsatz über die Situation der Künstler
ins Gericht mit den Opernhäusern, Konzertveranstaltern und
nicht zuletzt mit den Musikern selbst, die er „moralisch“
in Künstler und Handwerker unterteilt. Der Ton wird schärfer,
wenn Liszt die Kirchenmusik seiner Zeit ins Auge fasst: Stumpfsinniges
Gebrüll halle aus dem Gewölbe nieder und die obligaten
Bass-Begleitungen klängen doch wie Insekten, die in einem Kadaver
brummen. Viel Polemik also, aber noch keine klar formulierte These,
wie es denn eigentlich besser zu machen sei. Mystisch bleibt sein
Rat, dass sich die wahre Musik an Volk und Gott wenden müsse
und dies übrigens in einer symbiotischen Verbindung von Theater
und Kirche. Ja, eine Menschheitsmusik schwebe ihm vor. Ob sein Wunsch
zum Beispiel mit dem Bühnenweihfestspiel „Parsifal“
seines späteren Schwiegersohns in Erfüllung gegangen war,
bleibt dahingestellt. An Durchsetzungsvermögen jedenfalls stand
Liszt Wagner um nichts nach. Entschlossenheit spricht auch aus den
Reisebriefen, den überaus lesenswerten, mit Landschafts- und
Situationsbeschreibungen den „Literaten“ Liszt präsentierenden
Miniaturen. Liszt gelingt es immer, den Bogen wieder zurück
zu seiner eigenen Lebenswelt und Philosophie zu schlagen. Stets
beschäftigt ihn die Reflexion über den Künstler und
das Künstlertum. Dabei bemüht er sich, die Orte und Ereignisse
in seinem Umfeld auszuleuchten und sie in sein kulturpolitisches
Bild mehr hineinzuzwängen als hineinzufügen. Er geht sogar
soweit zu behaupten, der Künstler lebe außerhalb der
sozialen Gemeinschaft, weil die Regierung an „Poesie“
verloren habe. Das sind harte Vorwürfe, ganz ungestüm,
wie es Liszt nicht nur in seiner Augen zu sein pflegte.
Diese Haltung kennzeichnet auch die Aufsätze, Konzertberichte
und Rezensionen der Jahre 1836–1841 mit überaus aufschlussreichen
Beiträgen über Konzerte von Berlioz, Schumann, Thalberg
und Chopin.
Am Ende seines Essays über die Situation der Künstler
aus dem Jahr 1835 kommt Liszt zu erstaunlichen Forderungen, mit
denen er seiner Zeit weit voraus war. Für den französischen
Kulturraum wünscht er sich eine sporadisch abzuhaltende Versammlung
für religiöse, dramatische und symphonische Musik, die
eine Auswahl der zeitgenössischen Produktionen bestimmen soll.
Die von dieser Gesellschaft gekürten Werke sollen im Anschluss
von der Regierung erworben und auf deren Kosten veröffentlicht
werden! An zweiter Stelle nennt er die kompromisslose Einführung
des Musikunterrichts an den Volksschulen. Außerdem schlägt
er eine Hochschule für die Elite außerhalb des Konservatoriums
vor, eine – wie er es nennt – „Fortschrittsschule“.
Schließlich regt er die Schaffung eines Lehrstuhls für
Musikgeschichte und Philosophie an.
Der Band wurde 1989 im Rahmen der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft
geförderten Liszt-Forschungsstelle am Musikwissenschaftlichen
Seminar der Universität-Gesamthochschule Paderborn und der
Hochschule für Musik Detmold begonnen und am Institut für
Musikwissenschaft der Universität Regensburg abgeschlossen.
Der exzellente Erläuterungsapparat enthält keineswegs
nur stichwortartige Verweise, sondern geschlossen formulierte Artikel
und ist allein schon die Lektüre wert.