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nmz-archiv
nmz 2002/11 | Seite 47
51. Jahrgang | November
Dossier: Musikbuch / Noten
Ein Klang wie 1000 Musiker in der Philharmonie
Raumakustik und symphonische Aufführungspraxis zur Zeit
Beethovens
Stefan Weinzierl: Beethovens Konzerträume – Raumakustik
und symphonische Aufführungspraxis an der Schwelle zum modernen
Konzertwesen. Frankfurt am Main, Verlag Erwin Bochinsky, 2002
(Fachbuchreihe Das Musikinstrument, Bd. 77), ISBN 3-9236 39-42-2.
Um die Beschaffenheit und Spielpraxis historischer Musikinstrumente
oder um die Wiederherstellung ursprünglicher Orchesterbesetzungen
hat man sich im 20. Jahrhundert reichlich Gedanken gemacht. Eine
minder bedeutsame Rolle spielte dagegen die Frage, in welchen Räumlichkeiten
einzelne Werke denn überhaupt uraufgeführt worden sind,
ob und inwieweit die akustischen Gegebenheiten den Urheber bei der
Komposition beeinflusst haben oder nicht. Ansätze zur Klärung
unternahm man – wenn überhaupt – am Beispiel der
Kirchen, weil erstens diese Aufführungsräume zu großen
Teilen noch erhalten sind und zweitens vornehmlich die Bach-Forschung
daran interessiert war, die geistlichen Werke des Thomaskantors
vor diesem Hintergrund zu beleuchten.
Der Verlag Erwin Bochinsky kündigte zum Sommer diesen Jahres
eine Neuerscheinung („Kirchen-Akustik“) an, die auch
die Erkenntnisse rund um die von Bach genutzten Kirchenräume
einmal mit allen physikalisch-akustischen Details und einem reichen
Dokumentationsapparat zusammenfasst. Beim gleichen Verlag ist Stefan
Weinzierls exzellente Arbeit über „Beethovens Konzerträume“
erschienen, die gewissermaßen exemplarisch die akustischen
und technischen Fragen mit einer daran orientierten kulturgeschichtlichen
Darstellung verbindet. Der Autor vermeidet es, seine Leser mit abstrakten
Diagrammen, Tafeln und Chronologien zu überhäufen, und
erschließt sein Thema zunächst aus einem musikhistorischen
Blickwinkel heraus. In flüssig formulierten und gut geordneten
Abschnitten führt er Räumlichkeiten vor – an Quellenmaterial
orientiert eben auch solche, die mittlerweile nicht mehr existieren
– und beschreibt die Besonderheiten dieser Säle sowie
ihre Entwicklung im Zuge von Renovierungen und Neuerrichtungen.
Das Palais des Fürsten von Lobkowitz, der Beethoven einst eine
Pension zugestanden hatte, die sogar noch über den wirtschaftlichen
Ruin des Gönners hinaus Fortbestand haben sollte, ist bis auf
eine bemalte Putzverzierung an der Decke nahezu unverändert
erhalten geblieben. Anders verhält es sich bei den Theatersälen,
allen voran des Burgtheaters oder des Kärntnertortheaters,
oder bei den zahlreichen privaten Veranstaltungsräumen wie
dem Lokal Augarten oder dem Haus zur Mehlgrube am Neuen Markt in
Wien. Wenn möglich liefert Weinzierl bildliche Darstellungen
dieser Lokalitäten in historischen Zeichnungen, Graphiken oder
Gemäldereproduktionen. Rückschlüsse über die
Akustik dieser (verlorenen) Räume sind natürlich spekulativ,
wohl aber gewissenhaft an den noch greifbaren Details nachempfunden
und – wie man am Ende des Buches noch sehen wird – mit
Hilfe des Computers simuliert. Weinzierls Thesen ergeben sich teilweise
aus der vergleichenden Betrachtung. Im Rahmen seiner umfangreichen
Materialsammlung sind Berichte über Bestuhlung, Beschaffenheit
der Tapeten und Vorhänge oder die Anzahl der Sitzreihen ebenso
wichtig wie die eigentlichen, zum Teil auch nur vermuteten Ausmaße
dieser Räume.
Um seine Einzelbetrachtung des Wiener Kulturraums zu Beethovens
Zeit auszuweiten, betrachtet Weinzierl eingangs internationale Konzertsäle
und gelangt zu einer Analyse von Aufführungsräumen symphonischer
Musik um 1800 im Allgemeinen. Aufschlussreiche Daten liefert er
zum Raumvolumen und zur Nachhallzeit beispielsweise im Haydn’schen
Musiksaal Esterháza, den Hanover Square Rooms, dem King’s
Theatre, dem Gewandhaus Leipzig, dem Konzertsaal im Schauspielhaus
Berlin und der Berliner Singakademie. Den Zirkel immer enger ziehend
wendet sich Weinzierl dann Wien zu und speziell solchen Aufführungsorten,
in denen Beethovens Musik – nicht nur die symphonische –
erklungen war. Zeitgenössische Dokumente wie Berichte und Zeitungsrezensionen
(vor allem der Allgemeinen Musikalischen Zeitung), die teilweise
auch über die akustischen Verhältnisse Hinweise enthalten,
ergänzen das Bild. Aber auch Briefe Beethovens, in denen der
Komponist gewünschte Orchesterbesetzungen angibt und bei seinen
Auftraggebern unmissverständlich fordert, werden herangezogen.
Die Systematik seiner Darstellung niemals aus den Augen verlierend,
schlägt der Autor dennoch weite Kreise. Eine verlässliche
und vollständige Dokumentation von Aufführungen Beethoven’scher
Werke ist nicht zu leisten, wohl aber hat sich die Quellenlage im
Vergleich zu Mozarts Zeit verbessert. Neben bedeutenden Periodika
wie der Allgemeinen Musikalischen Zeitung forscht Weinzierl in literarisch-intellektuellen
Zeitschriften wie dem kurzlebigen Wiener Journal für Theater,
Musik und Mode und darüber hinaus in Verwaltungsakten, Tagebüchern
oder Reiseberichten. Auch subjektive Äußerungen von Zeitgenossen,
die ihre Konzerteindrücke und ihre Kritik an einzelnen Räumlichkeiten
äußern, werden in die Argumentation mit einbezogen. Auf
diese Weise entsteht eine unterhaltsam zu lesende und höchst
informative Dokumentation mit soziologischen und kulturhistorischen
Aspekten, die in der Beethoven-Literatur eine Sonderstellung einnimmt.
Beiläufig gelingt es Weinzierl, Konstanten und Veränderungen
herauszuarbeiten, die Architekten beim Bau neuer Konzertsäle
beeinflusst haben mögen und die bis weit ins 20. Jahrhundert
wirkten.
Physikalischer geht es dann zu im zweiten Abschnitt dieser Arbeit,
wo raumakustische Kriterien wie Nachhallzeit, Bassverhältnis,
Stärke- beziehungsweise Klarheitsmaß und Seitenschallgrad
einzelner Räume die Diskussionsgrundlage bilden. Erhaltene
Räume hat Weinzierl akustisch vermessen und die nicht mehr
erhaltenen anhand historischer Architekturpläne mit Hilfe von
Computermodellen rekonstruiert. Die Ergebnisse seiner Untersuchung
passen das subjektive Empfinden des Hörers wie Räumlichkeit,
Intimität, Nähe und Dynamik in ein Daten-Korsett ein,
ohne dass sich der Autor dabei verzettelt. Mit Blick auf die Gegebenheiten
in Beethovens Konzerträumen waren die originalen Besetzungsstärken
wie vermutet angemessen, man sollte aber nicht den Versuch unternehmen,
sie in einen modernen Konzertsaal transferieren zu wollen. Bestechend
ist Weinzierls zusammenfassende These am Ende seines Buches, wo
er sagt, ein Orchester müsste in der Größenordnung
von 1.000 Musikern besetzt sein, um in der Berliner Philharmonie
ein vergleichbares Klangvolumen hervorzubringen wie die Lobkowitzsche
Kapelle bei den Aufführungen der 3. Symphonie im fürstlichen
Palais. So gesehen laufen Karajans viel kritisierte Besetzungsverstärkungen
bei Aufführungen Beethoven’scher Symphonien den Intentionen
des Komponisten nicht entgegen, sondern erscheinen fast noch bescheiden.
Die Entwicklung von Konzertsälen läuft, wie Weinzierl
eindrucksvoll beweist, parallel zu gesellschaftlichen Veränderungen.
Zu Beethovens Zeit spiegelten die Nutzung alter und die Errichtung
neuer Räume den Rückzug der Aristokratie aus dem Musikleben
wider, die Grenzen zwischen den Ständen lösten sich auf.
Wohl aber bewegen sich Beethovens Konzerträume an der Schwelle
zum modernen Konzertwesen und zeichnen eine Entwicklung vor, die
die Errichtung großer Konzertsäle des 19. und 20. Jahrhunderts
maßgeblich beeinflusste.