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nmz-archiv
nmz 2002/11 | Seite 5-6
51. Jahrgang | November
Feature
Träume in der Fabrik
Die RuhrTriennale erobert neue Spielstätten
„Wenn ich Aufführungen produzieren würde, die
nicht zu Auseinandersetzungen führen würden, würde
ich mich gar nicht wohl fühlen. Ich will immer, dass die Kunst
provoziert,“ sagt Gerard Mortier, Intendant der RuhrTriennale.
Das Festival, dessen erste Saison am 13. Oktober zu Ende ging, hat
in der Tat polarisiert. Doch der Intendant lässt sich nicht
beirren, Kunst müsse herausfordern, meint Mortier. Und die
Aufführungen, die Fehler hatten, seien ihm am liebsten, denn
bei einer Aufbau-Arbeit könne nicht alles sofort perfekt sein,
„ich verabscheue sogar die Perfektion“.
Dortmund, Phönix West:
ein ungewohnter Ort für Schuberts „Schöne
Müllerin“. Foto: Reinhaert Cosaert
Die RuhrTriennale, dessen erster dreijähriger Zyklus bis 2004
dauert, startete in diesem Herbst mit 23 Produktionen an 13 Spielstätten,
darunter mehr als 10 Konzerte, die Neuinszenierung von Mozarts „Don
Giovanni“ (siehe Beitrag von Gerhard Rohde), eine Reihe mit
inszenierter Kammermusik, zwei Tanztheater-Projekte sowie mehrere
Theateraufführungen (alle mit hohem Musikanteil). Für
die meisten der 83 Veranstaltungen wurden Industriedenkmäler
genutzt.
„Die Stadt Hollywood hat mich belehrt Paradies und Hölle
können eine Stadt sein. Für die Mittellosen ist das Paradies
die Hölle.“ Bertolt Brecht schrieb diese Zeilen; Hanns
Eisler hat sie 1942 vertont, als vierte seiner „Hollywood
Elegien“, zentraler Teil des „Hollywooder Liederbuchs“.
Eislers Musik zu diesem Text ist zart und hat doch eine ungeheure
Ausdrucksstärke. Es ist der Verzweiflungsschrei eines Menschen
im Exil. Eine Stimmung, der man eigentlich nur nachspüren müsste,
um einen ergreifenden Theaterabend zu gestalten. Nein, die Elegien
haben ihm zunächst überhaupt nicht gefallen, sagte der
Regisseur Schorsch Kamerun in einem Interview. Leider spürt
man das; und so ist aus Eislers wunderbarem „Hollywooder Liederbuch“
nur wenig zu hören. Der Theaterabend unter dem Titel „Hollywood
Elegien“ ist ein grellbunter Bilderbogen, der kein Klischee
auslässt: von der Westernszene über tanzende Fische und
Seepferdchen bis hin zu King Kong und einem im Rollstuhl sitzenden
Produzenten, dessen abgeschmackte Gags nicht zünden wollen.
Als Kontrast darf die Fassbinder-Muse Irm Hermann als allegorische
„Wahrheit“ moralisch sein. Und die Musik? Ein vierköpfiges
Kammerensemble begleitet die Mezzosopranistin Ulrike Mayer, von
der man gern mehr gehört hätte. Ach ja, Schorsch Kamerun,
in seiner Eigenschaft als Sänger der Punkband „Die Goldenen
Zitronen“, bekommt auch noch eine kurze Showeinlage.
Ein unausgegorenes Stück, der bespielte Raum allerdings ist
eine Entdeckung. Die RuhrTriennale lädt zu den „Hollywood
Elegien“ in die ehemalige Salzfabrik der Kokerei Zollverein
in Essen. Eine düstere Industriebrache, in der das Publikum
über schmale Stiegen in den dritten Stock geführt wird,
vorbei an schäbigen Betten, zahlreichen Koffern (das Durchgangslager
„Ellis Island“), trostlosen, drahtverhauenen Räumen.
Oben die Traumfabrik Hollywood: eine Showtreppe, die raffiniert
in den Raum gebaut ist, die überdimensionale Muschel, in der
die vier Musikerinnen bequem untergebracht sind, mehrere Ebenen
als Spielflächen, eine Wand als Videoprojektionsfläche.
Der Raum wurde sinnfällig in die Inszenierung eingebunden.
Ähnlich geschickt agierte das Ensemble ZT Hollandia in dem
eigens für die Triennale geschaffenen neuen Theaterraum in
der Gebläsehalle im Landschaftspark Duisburg-Nord. Mit Luchino
Viscontis „Der Fall der Götter“ wurde die attraktive,
vielseitig nutzbare Spielstätte eingeweiht. Ein Raum mit einer
Bühne am Kopfende und ansteigenden, hintereinanderliegenden
Stuhlreihen für etwa 500 Besucher. Eigentlich ein klassischer
Theatersaal, doch mit besonderem Charme, denn im Eingangsbereich
der Gebläsehalle befinden sich noch die großen Maschinen.
Anfassen erlaubt, ein lebendiges Museum, in dem anspruchsvolle Kunst
geboten wird. Auch Christoph Marthalers sparsame szenische Umsetzung
von Schönbergs „Pierrot lunaire“ und Messiaens
„Quatuor pour la fin du temps“ fand in diesen Räumlichkeiten
statt.
Weniger gelungen dagegen der Auftakt des Festivals am 31. August
auf Zeche Zollverein in Essen, im Rahmen der Feierlichkeiten zum
Weltkulturerbe. Für „Deutschland, deine Lieder“
unter der Regie des Bochumer Schauspiel-Intendanten Matthias Hartmann
wurde das Publikum in eine zum Theater umgestaltete, schwarz-verhangene
Mehrzweck-Halle gebeten. Man hätte viel Geld sparen können,
wäre man gleich ins Bochumer Schauspielhaus gezogen. Dort ist
das Stück ohnehin ab Oktober zu sehen.
„Deutschland, deine Lieder“ ist keine Nummernrevue.
Albert Ostermaier schrieb den schwermütigen Text, in dem es
um die Suche nach der deutschen Identität geht, dazu zählt
die Auseinandersetzung mit der Geschichte ebenso wie die mit dem
deutschen Liedgut: von Bach bis Silcher, von Mahler bis Rio Reiser.
Der Theatermusiker Parviz Mir-Ali zerpflückt die Lieder, arrangiert
sie neu, stellt sie in andere Zusammenhänge. Seine Collage
ist ein dichtes Klang-Gewebe für einen elfköpfigen A-cappella-Chor;
niemals anbiedernd und die eigentliche Stärke dieser Produktion.
Die kunstvollen Videoprojektionen als weitere Ebene, bleiben in
ihrer Ästhetik eher plakativ.
Die Kraftzentrale und die
Gebläsehalle im Landschaftspark Duisburg-Nord. Foto:
Reinhaert Cosaert
Mit Videos arbeitete auch Oliver Herrmann, der Franz Schuberts
„Winterreise“ in einen Boxring verlegte. Recht beliebige
Bilder flimmerten da über die vier Innenwände eines 20
mal 20 Meter großen Holzwürfels, der eigens in die riesige
Duisburger Kraftzentrale gebaut wurde. Dafür musikalisch ein
Erlebnis: die grandiose Sopranistin Christine Schäfer, einfühlsam
von Irvin Gage am Klavier begleitet.
Lieder und Liederzyklen bildeten einen Schwerpunkt der ersten Triennale-Saison,
inszenierte Kammermusik in ungewöhnlichen Räumen. Am überzeugendsten
gelang dies bei Christoph Marthalers grandioser Deutung von Schuberts
Zyklus „Die schöne Müllerin“. Die Koproduktion
mit dem Schauspielhaus Zürich gewinnt in der morbiden Atmosphäre
des gigantischen Areals des erst seit kurzem zugänglichen Hüttenwerks
„Phönix West“ in Dortmund eine neue Dimension.
Die Spielorte der RuhrTriennale „sollen nicht als pittoreskes
Ambiente dienen. Es geht vielmehr um Produktionen, für die
die Nutzung dieser Räume und Orte künstlerisch Sinn macht.“
So steht es in den Unterlagen der Kultur Ruhr GmbH, dem Träger
des Festivals. Ein Anspruch, an dem die Produktionen des Festivals
gemessen wurden. In diesem Punkt gab es viel Kritik. Schließlich
werden Industriehallen im Ruhrgebiet schon seit Jahren für
künstlerische Zwecke benutzt, mit allen Mängeln, die diese
Hallen nun mal so haben. Vermutlich waren die Erwartungshaltungen
an ein Festival dieser Größenordnung einfach zu hoch.
Gerard Mortier steht hinter der Konzeption. Industrieräume
findet er nach wie vor faszinierend. Seine Erfahrungen hätten
gezeigt, so der Intendant, dass die Hallen selbst spektakulär
genug seien, „was monumental ist, antwortet am Besten auf
etwas Intimes“.
In große Hallen, wie die Kraftzentrale im Landschaftspark
Duisburg-Nord, baut er kleine Objekte hinein. Deshalb hält
er auch die Inszenierung von Schuberts „Winterreise“
für gelungen. Mit Leidenschaft philosophiert Mortier im persönlichen
Gespräch über den verlorenen Würfel in der großen
Halle, die Menschen auf den Videos, die – wie Schubert –
auf der Suche sind, deren Augen aber träumen. An den Visionen
des Intendanten ist nicht zu zweifeln.
Auch nicht an seiner klaren Haltung gegenüber dem bisherigen
Umgang mit Industriekultur. Die farbige Illumination der gigantischen
Industriekulissen in Duisburg und Essen findet er gar nicht gelungen,
sondern „viel zu viel Walt Disney.“
Enorme logistische Leistungen waren nötig, die Industriehallen
überhaupt spielfertig zu machen. Experimentieren musste man
auch mit der Akustik der Räume. Die Duisburger Kraftzentrale
(170 m lang, 35 m breit) ist nicht gerade ideal als Konzertsaal,
deutlich zu hören beim Abschlusskonzert mit dem Deutschen Sinfonieorchester
Berlin unter Kent Nagano. Trotz Schallsegel über dem Orchester
und Vorhang war der stark besetzte Rundfunkchor Berlin bei Mozarts
„Requiem“ und Schönbergs Oratorium „Die Jakobsleiter“
nicht präsent genug. Darunter litt die Textverständlichkeit.
Die Überakustik in der Maschinenhalle in Gladbeck, die eigens
für die Triennale als Jazzclub „Smoke Ruhr“ hergerichtet
wurde, war bei den ersten Konzerten ein Ärgernis. Fast schien
es, der ausgesprochen attraktive Raum eigne sich gar nicht für
verstärkte Konzerte. Doch viele Meter Stoffbahnen bewirken
manchmal Wunder. Die beiden letzten Abende der Reihe mit dem grandiosen
„Vienna Art Orchestra“ überzeugten.
Die Erreichbarkeit der Maschinenhalle in Gladbeck ist allerdings
ohne Pkw kaum gegeben. Ein Problem, das auch andere Spielorte des
Festivals betrifft. Das Ruhrgebiet ist eben noch lange nicht der
Mittelpunkt Europas, wie eine Graphik auf der Rückseite des
Programmheftes suggeriert. Strahlenförmige Linien führen
zu den „anderen“ Metropolen: Berlin, Amsterdam, Brüssel,
London, Prag oder Wien. Nur 780 km bis Salzburg, da könnten
die festspielverwöhnten Österreicher doch ruhig auch mal
nach Duisburg oder Hamm kommen. Die Karte verschweigt allerdings,
dass man von Duisburg bis Hamm rund anderthalb Stunden unterwegs
ist (falls man nicht im Stau steht). Denn das Ruhrgebiet ist groß,
aber eben keine richtige Metropole. Es fehlt das städteübergreifende,
geschlossene Nahverkehrsnetz. Shuttle-Busse möchte der Intendant
im kommenden Jahr gerne einrichten. Außerdem will er die Informationen
über das Festival verbessern, Schulprojekte initiieren und
die Werbung intensivieren. Das Marketing war in diesem Jahr noch
nicht ausgereift. Zum guten Marketing gehört zum Beispiel die
einheitliche Schreibweise des Festivalnamens: RuhrTriennale, Ruhr-Triennale,
RUHRtriennale oder gar Ruhrtriennale?
Dass die angestrebten Publikumszahlen nicht erreicht wurden, kann
man einem neuen Festival, das ein ambitioniertes Programm bietet,
nicht vorwerfen. Mit einer Auslastung von 74 Prozent bei rund 30.000
Zuschauern sei dem Kunstfest ein guter Start gelungen, meldet die
Triennale. Die Anzahl der Plätze wurde allerdings zwischenzeitlich
von 47.044 (Stand Mai 2002) auf 42.000 reduziert. Nachgefragt waren
vor allem die unteren Preiskategorien. Bei einer Fragebogenaktion
gab die Mehrheit der Befragten an, sie hielten die Eintrittspreise
für angemessen. Die Fragebögen sind allerdings noch nicht
vollständig ausgewertet. Der hohe Rücklauf von rund 2.000
ausgefüllten Bögen signalisiert jedoch, dass das Publikum,
das einmal den Weg zu den Veranstaltungen gefunden hat, offenbar
ein besonders starkes Interesse an der RuhrTriennale hat. Das lässt
auch Gerard Mortier hoffen, in den kommenden Jahren breitere Publikumsschichten
zu erreichen. Die RuhrTriennale sei die „umfangreichste kulturpolitische
Initiative in Deutschland nach der Wende“ heißt es nicht
unbescheiden auf den Internet-Seiten des Festivals. Immerhin 41
Millionen Euro lässt sich das Land den ersten dreijährigen
Festival-Zyklus kosten (ohne Personalkosten), die erste Saison verschlang
davon mehr als neun Millionen. Für das kommende Jahr, das Haupt-Triennale
Jahr sind zirka 140 Veranstaltungen geplant. Zum Vergleich: 172
Vorstellungen gab es bei den Salzburger Festspielen in diesem Jahr.
Deren Gesamtbudget für 2002 lag allerdings wesentlich höher,
bei 43 Millionen Euro. Davon konnten 74 Prozent durch Kartenverkauf
und Sponsorengelder selbst erwirtschaftet werden. Die Salzburger
Festspiele sollen nach einer Studie der Wirtschaftskammer Salzburg
im Jahr 2000 Mehrumsätze von rund 180 Millionen Euro bewirkt
haben. Zahlen, die auf das Ruhrgebiet sicherlich nicht übertragbar
sind. Die Idee jedoch, mit der RuhrTriennale auch den Kultur-Tourismus
zu befördern und von der Umwegrentabilität eines flächendeckenden,
internationalen Festivals zu profitieren, verfolgt auch Nordrhein-Westfalens
Kulturminister Michael Vesper, der als Aufsichtsratsvorsitzender
ein besonderes Interesse am Gelingen des Triennale-Unternehmens
hat. Das spartenübergreifende Festival solle die Kulturregion
Ruhrgebiet „international zu neuen Ufern“ führen,
so Vesper.
Kokerei Salzfabrik im Zeche
Zollverein Essen. Foto: Reinhaert Cosaert
Die „Leuchtturmpolitik“ des grünen Ministers ist
nicht unumstritten. Die sogenannte „Trotzkopfrunde“,
zu der sich die sozialdemokratischen Kulturdezernenten aus Krefeld,
Wuppertal, Herne, Dortmund, Essen und Bochum zusammengeschlossen
haben, bemängelt, dass Leuchttürme für Nordrhein-Westfalen
zwar wichtig seien, die vielfältige Kulturlandschaft aber nicht
unter die Räder geraten dürfe. Mit „Zorn und Entsetzen“
registrierten die Dezernenten die Sparpläne des Ministers beim
Kulturhaushalt. Er verhindere damit „unzählige kleine
Leuchtfeuer“ in der Region. Kritisiert werden auch die Investitionen
in gleich mehrere Industriestätten, während die Theater
und Opernhäuser des Landes nicht mehr bespielbar seien. Kritische
Töne gegenüber der RuhrTriennale als „Sahnehäubchen
der Theaterkultur“ kamen auch von der Akademie der Darstellenden
Künste in Frankfurt, die an die Grundversorgung und die Vielfalt
im Theaterbereich erinnerte. Der Akademie-Präsident Walter
Konrad hofft aber auch, dass sich die Triennale positiv auf das
Image des Landes auswirkt. In diesem Punkt sind sich dann doch alle
einig. Die RuhrTriennale könnte zur neuen Identität des
Ruhrgebiets beitragen.
Das Image des Ruhrgebiets könnte auch durch die Neuordnung
der Festivallandschaft insgesamt verbessert werden. Gerard Mortier
verspricht sich von der Berufung des Regisseurs Frank Castorf zum
neuen künstlerischen Leiter der Ruhrfestspiele eine stärkere
Profilierung der Ruhrfestspiele als großes Schauspiel-Festival.
Ab 2004 sollen zunächst Anfang Mai die Ruhrfestspiele stattfinden,
dann Ende Mai bis Juni die RuhrTriennale. Dann folgt im Sommer wie
bisher das Klavier-Festival Ruhr, im September geht es weiter mit
der Herbstsaison der RuhrTriennale und der Festivalbogen endet mit
dem Internationalen Tanzfestival NRW von Pina Bausch. Gerard Mortier
will Strukturen schaffen, die es auch Besuchern aus dem Ausland
ermöglichen, den Charakter der einzelnen Festivals zu erkennen.
Auch die Triennale selbst wird ihr Profil schärfen müssen.
Zunächst hat sie jedoch bereits in diesem Jahr ein großes
Medienecho ausgelöst und damit die kulturellen Besonderheiten
der Region erstmals auch international ins Gespräch gebracht.