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nmz-archiv
nmz 2002/11 | Seite 27
51. Jahrgang | November
Jeunesses Musicales Deutschland
Standing Ovations und bewegte Herzen
Die zweite Deutschland-Tournee der „Jungen Philharmonie
Venezuela”
Tausende von jungen Menschen erhalten in Venezuela seit 25 Jahren
Gelegenheit, durch das Orchesterspielen ein Instrument zu erlernen.
Ziel ist es dabei unter anderem, Kinder und Jugendliche von der
Straße zu holen und ihnen die Chance einer selbstgestalteten
und sinnvollen Zukunft zu geben. Die besten dieser jungen Musiker
spielen im nationalen Jugendorchester, der „Jungen Philharmonie
Venezuela”, einem aus vielen Gründen außergewöhnlichen
Ensemble.
Im Jahr 1998 kam der erste Kontakt zwischen der Jeunesses Musicales
Deutschland und der venezolanischen Jugendorchesterbewegung zustande.
Schon bald entwickelte sich die Idee, das nationale Jugendorchester
nach Deutschland einzuladen. Realisiert wurde sie erstmals im Sommer
2000. In der Kulturberatungsagentur Imorde aus Münster fand
die JMD einen Partner, der in der Lage war, dies gewaltige Projekt
umzusetzen und auch das finanzielle Risiko zu tragen. Melanie Wiebusch,
eine Mitarbeiterin dieser Agentur, gelang es in kurzer Zeit, für
das Jahr 2000 eine Tournee durch Konzertsäle in Hannover, Magdeburg,
Münster, Düsseldorf, Berlin, Bad Mergentheim, Heilbronn
und München zu organisieren. 210 junge Musiker, dazu ein Tross
von Mitarbeitern, Dolmetschern, Busfahrern, LKW-Fahrern, Technikern,
Ärzten und Begleitern, insgesamt also 270 Personen, machten
sich auf die Reise durch Deutschland. Schon damals gab es Begeisterungsstürme
in allen Konzerten; Musikschullehrer, Musiklehrer, Orchestermusiker,
Kultur- und Sozialpolitiker horchten auf.
Tschaikowsky mit elf Posaunen:
Durchaus möglich, wie die jungen Venezolaner eindrucksvoll
bewiesen. Fotos: Hahlweg
Nach einem Gegenbesuch des Studentenorchesters Münster 2001
in Venezuela und vielen weiteren intensiven Kontakten, die insbesondere
von der Jeunesses Musicales Deutschland gepflegt wurden, kam es
dann zum zweiten Besuch des Orchesters in diesem Jahr in Deutschland
und Österreich.
Das Orchester hat inzwischen an internationaler Erfahrung gewonnen,
spielte in diesem Jahr in Italien und auf dem UN-Kindergipfel in
New York. Trotzdem gilt eine Konzertreise nach Deutschland, dem
„Mutterland der Klassischen Musik” (so die Venezolaner),
immer noch als die größte Herausforderung, der sich das
Orchester stellt. Daher wurden alle Kräfte mobilisiert, um
trotz der wirtschaftlichen Krise, in der das Land sich befindet,
eine zweite Reise im Jahre 2002 zu ermöglichen. Auf deutscher
Seite waren wieder das Team von Jens Imorde und Melanie Wiebusch
tätig, Veranstalter der Tournee war erneut die Jeunesses Musicales
Deutschland.
Im Vorfeld der zweiten Reise war es bereits leichter, Veranstaltungsorte
zu finden, hatte sich doch das „Wunder Venezuela” unter
Konzertveranstaltern und -besuchern herumgesprochen. Diesmal sollte
es nach Köln, Düsseldorf, Hildesheim, Berlin, Leipzig,
Dresden und München gehen, dazu kamen in Österreich Konzerte
in Wien und Salzburg: Eine Mammut-Tournee also, die sich über
fast drei Wochen erstreckte.
Verantwortliche aus Deutschland und Venezuela besichtigten in
einer Vortournee alle Unterkünfte und Konzertsäle, diskutierten
Speisepläne und andere organisatorische Details. Man versuchte,
aus den Erfahrungen von 2000 zu lernen und mögliche Reibungspunkte
zwischen den venezolanischen Organisatoren und den deutschen Veranstaltern
zu vermeiden. Vorgesehen war die unglaubliche Zahl von 230 Mitwirkenden,
20 venezolanischen und 20 deutschen Betreuern. Wer jemals an der
Tournee eines Sinfonieorchesters oder sogar Jugendorchesters beteiligt
war, wird eine Konzertreise mit 270 Personen für ein Ding der
Unmöglichkeit halten. Aber schon die Tournee 2000 hatte gezeigt,
was bei guter Planung möglich ist. Sämtliche Konzerte
des Orchesters wurden vom Publikum mit großer Begeisterung
aufgenommen und mit Standing Ovations gefeiert, was wohl zumindest
für das Konzerthaus in Wien und das dort anwesende Publikum
ein Novum war.
Einige Schlaglichter: In Düsseldorf fand ein Sonder-Konzert
für Kinder statt. Dass sein Orchester bei den 900 Grundschulkindern
eine solche Begeisterung hervorrufen könne, hatte der „Vater”
der venezolanischen Jugendorchesterbewegung, José Antonio
Abreu, nicht für möglich gehalten. „Dieses Konzert
war für mich viel wichtiger als alle anderen. Wir müssen
hunderte solcher Konzerte spielen!” Und das, obwohl die Kinder
40 Minuten lang warten mussten und nur durch den großartigen
Moderator Christian Schruff in Zaum gehalten werden konnten. Der
Grund? Alle fünf Busfahrer hatten sich auf dem Weg von Lüdenscheid
nach Düsseldorf verfahren.
„Come back to Germany!” Das waren die Worte Sir Simon
Rattles in seiner Ansprache nach dem Konzert der Jungen Philharmonie
Venezuela in der Berliner Philharmonie. „You have to stop
him. He is a danger for the conductors here.” Das war sein
Kommentar über den erst 19-jährigen Dirigenten Gustavo
Duhamel. Umringt von seinen venezolanischen jungen Fans war dem
Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker die Begeisterung anzumerken.
Die Philharmoniker, die im letzten Sommer die Patenschaft über
das Orchester aus Venezuela übernommen hatten, überreichten
einige Instrumente und ein dickes Bündel Bogenhaare als Geschenke.
Nur zu gut wussten sie, wie es um die Qualität der Musik-Instrumente
in dem Orchester bestellt ist, hatten doch einige von ihnen sich
in den letzten Monaten auf den Weg nach Venezuela begeben, um dort
junge Musiker zu unterrichten.
Vorher hatte das Orchester wie schon in seinem Konzert vor zwei
Jahren die Besucher der Berliner Philharmonie zu wahren Begeisterungsstürmen
und Standing Ovations (in Berlin wohl eher die Ausnahme) veranlasst.
Schon die Tschaikowsky-Sinfonie im ersten Programmteil geriet zu
einer wahren Klangorgie. Unübertroffen ist das Orchester jedoch
mit seinen lateinamerikanischen Werken wie Sensemaya (Revueltas),
Batuque (Fernández), Alma Llanera (Gutiérez) und dem
von allen sehnsüchtig erwarteten Mambo aus der Westside-Story
(Bernstein). Hier endlich lösten sich alle Spannungen. Insbesondere
in dem Konzert in der Berliner Philharmonie sollten sich alle Kräfte
der jungen Musiker bündeln, galt es doch auch, den Mitgliedern
der Berliner Philharmoniker, die inzwischen in Venezuela waren um
dort Meisterkurse zu geben und damit die Patenschaft der Berliner
über die venezolanischen Jugendorchester mit Geist und Leben
zu erfüllen, zu zeigen, was sie können. Für den Nachmittag
des nächsten Tages hatte Sir Simon Rattle das Orchester zu
einer Probe der Berliner Philharmoniker mit Bruckners 9. Sinfonie
eingeladen, die zu einer Sternstunde für die jungen Musiker
aus Venezuela geriet.
Am 3. Oktober kam es im Leipziger Gewandhaus zur Begegnung mit
dem Thomanerchor. Das im Konzert gemeinsam musizierte „Dona
nobis pacem” bewegte die Herzen zutiefst, während draußen
die Stadt gefüllt war von Einsatzhundertschaften der Polizei,
die versuchten, Demonstrationen der Rechtsradikalen in Schach zu
halten.
Die letzten Konzerte in Salzburg und München dirigierte Ulisses
Ascanio mit großem Erfolg, da Gustavo Duhamel vorzeitig nach
Venezuela zurückkehren musste. Das Konzert in Salzburg endete
mit gemeinsamen Polonaisen durch den Saal, in München schließlich
wurden die letzten Zugaben von einem Orchester gespielt, das sich
komplett im großen Zuschauerraum des Gasteigs verteilt hatte.
Ein großartiger Abschluss einer unvergesslichen Konzertreise!