[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2002/11 | Seite 12
51. Jahrgang | November
Kulturpolitik
Coca-Cola macht noch keinen neuen Menschen
Koproduktion von BR und MDR: Contrapunkt vom 15. Oktober ’02
zum Thema Hochkultur/Tiefkultur
Auch ein Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung befinden sich deutsche
West/Ost-Befindlichkeiten in einer Schieflage. Die Bundesrepublik
Deutschland im Zentrum Europas ist in sich zerrissen. Lebensläufe
und Lebensweisen innerhalb Deutschlands sowie die gesamte kulturpolitische
Infrastruktur weisen Risse auf und fördern gelegentlich mehr
oder minder offen ausgesprochene Begehrlichkeiten. Contrapunkt,
die neue Musiksendung des Bayerischen Rundfunks und des Mitteldeutschen
Rundfunks, wird hier Positionen aufdecken und ins Gespräch
bringen.
Die Sendung Contrapunkt vom 15. Oktober 2002 trug den Titel „Hochkultur/Tiefkultur“
und die Moderatoren Theo Geißler und Manfred Wagenbreth luden
die folgenden Gäste zur Live-Sendung ins Münchner Goethe-Forum
ein: Monika Griefahn, Vorsitzende des Bundestagsausschusses für
Kultur und Medien (SPD), Christian Höppner (CDU): Leiter der
Musikschule Charlottenburg-Wilmersorf, Präsident des Landesmusikrates
Berlin und Präsidiumsmitglied des Deutschen Musikrates, Wolfgang
Ullmann, Vertreter der Bürgerbewegung „Demokratie jetzt“,
dann als Minister ohne Geschäftsbereich in der DDR-Übergangsregierung,
von 1990-94 MdB für Bündnis 90/Die Grünen, Matthias
Schüßler (FDP), seit März 2001 stellvertretender
Vorsitzender des Landesfachausschusses für Kultur und Medien
der FDP in Bayern, Luc Jochimsen, lange Jahre Reporterin und Moderatorin
des Polit-Magazins „Panorama“, Leiterin des ARD-Fernsehstudios
in London, bis vor einem Jahr Chefredakteurin des Hessischen Fernsehens
und jetzt parteiunabhängige Spitzenkandidatin der hessischen
PDS bei der letzten Bundestagswahl und Bärbel Bohley, prominente
DDR-Bürgerrechtlerin.
Das Moderatorenteam konfrontierte die Runde zuerst mit dem zweiten
Satz des Kaiserquartetts von Joseph Haydn C-Dur op. 76, Nr. 3, gespielt
vom Iturriaga Quartett. Die musikalische Provokation gelang, die
Zungen lösten sich. Die nmz druckt Statements der Diskutanten
zu den Themen kulturelle Bildung und musikalische und nationale
Identität ab.
Luc Jochimsen: Ich finde, dass dieses Musikstück nicht
von der Nationalhymne zu trennen ist. Es zeigt die unglaubliche
Tiefe und Größe von Musik: Ein und dieselbe Musik ist
als klassische Variante möglich und genauso auch als Musikstück
der Massen.
Wolfgang Ullmann: Ich habe das Stück zu DDR-Zeiten fast täglich
um Mitternacht gehört, weil wir Deutschlandfunk gehört
haben. Ich bin jedes mal sentimental geworden, wegen des Nationalhymnencharakters
dieses Stückes oder dieser Verfremdung zur Nationalhymne. Ich
finde es verfremdet, aber ich habe damals gedacht, „was für
ein elendes Volk sind wir, wir haben weder einen Kaiser, noch eine
gemeinsame Regierung, es ist schrecklich.“ Und auf solche
Gefühle kam ich eben immer um Mitternacht, wenn Haydn ertönte.
Theo Geißler: Frau Bohley. Gab es solche Gefühle
denn auch in der Gruppierung, die sich um die Reform, um die Veränderung
in der Gesellschaft der DDR gekümmert hat?
Bärbel Bohley: Ich bin da nicht sehr sentimental geworden,
ich habe da meistens noch abgewaschen dabei. Ich muss sagen, zur
Nationalhymne hatten wir natürlich auch ein gebrochenes Verhältnis.
Zu unserer eigenen und eigentlich zu jeder. Vielleicht hatten wir
auch ein gebrochenes Verhältnis zur Nation.
Manfred Wagenbreth: Was lief und läuft da nicht zusammen?
Bohley: Im Grunde genommen hatte man eine Kulturrevolution
im Kopf. Davon ist natürlich wenig übrig geblieben. 1989/90
war eine Zeit des Aufbruchs. Einerseits für uns aber auch eine
Herausforderung für die westlichen Politiker. Die mussten im
Grunde genommen mit dem Schlamassel, den die SED da übrig gelassen
hatte, fertig werden und insofern waren alle gefragt. Das Problem
war nur, dass wir nicht sehr lange gefragt waren, wir Leute aus
dem Osten. Dabei war uns damals schon klar, dass das nicht einfach
so geht, dass wir uns einfach nur anpassen müssen und dann
sind alle Probleme beseitigt. Wir vom „Neuen Forum“
waren der Meinung, dass die DDR für bestimmte Zeit ein Sondergebiet
sein müsste. Wir haben durchaus gewusst, dass die Leute ganz
anders geprägt waren, weil wir selber auch eine andere Prägung
hatten. Da ändert sich nicht alles mit einer Cola-Flasche oder
einem neuen West-Auto. Das macht einen nicht zum neuen Menschen.
Geißler: Die Wahlen sind gelaufen, die Signale aus
der Kultur, aus den Musiklandschaften sind bedrohlich. Es gibt zynische
Stimmen, die meinen gerade die Wiedervereinigung sei Schuld gewesen,
dass für die Kultur letztlich kein Geld mehr übrig sei.
Der Solidaritätszuschlag fließt in wirtschaftliche Stützungsmaßnahmen,
nicht etwa in Theater, Orchester oder gar ins Bildungssystem. Auf
der anderen Seite fordert etwa die FDP explizit in ihrem Wahlprogramm,
dass Kultur eine wirtschaftliche Dimension haben müsse. Andersrum
wettert zum Beispiel Hermann Glaser, Kultur dürfe keinesfalls
zur Beute wirtschaftlicher Dominanz werden. Was ist denn nun zu
tun? Was ist richtig, was ist falsch?
Matthias Schüßler: Die FDP besteht nicht alleine
aus dem Guido-Mobil. Die FDP hat auch kulturpolitische Inhalte.
Der Punkt ist natürlich der, dass immer zuerst an der Kultur
gespart wird, wenn gespart wird. Der Fehler ist aber auch der: Verlässt
man sich zu sehr auf den Staat, dann kommt irgendwann einfach nichts
mehr. Deswegen ist die Idee mit der Wirtschaft zusammenzuarbeiten
gar nicht so schlecht.
Höppner: Die Summe der Kennmarken der gesellschaftlichen
Entwicklung weist den Weg in eine autistische Gesellschaft. Ich
hätte mir gewünscht, dass wir im Wahlkampf etwas mehr
über Bildung und Kultur gehört hätten, nicht nur
in den Parteiprogrammen, sondern auch im tatsächlichen Wahlkampf.
Das wäre doch toll gewesen, wenn sich der Kanzler und der Kandidat
in ihrem so genannten Duell auch mal dafür ausgesprochen hätten,
dass die Kinder eben nicht nur den Computer bedienen können
müssen, sondern dass sie auch in den musischen Fächern
eine gewisse Kompetenz erlangen. Medienkompetenz, künstlerische
Kompetenz, kreative Kompetenz.
Jochimsen: Sie haben doch vollkommen Recht, wir diskutieren,
dass wir uns drei Opernhäuser in Berlin einfach nicht leisten
können. Wir als große Kulturnation. Wir leisten uns Bonner
Ministerien, die eine irrsinnige Verschwendung von öffentlichen
Geldern darstellen und schreiben das auch noch auf weitere Jahre
fest. Es ist schließlich nicht so, dass der Staat kein Geld
mehr hat. Es ist da, nur es wird für andere Dinge ausgegeben.
Und ich möchte nur noch mal auf das Thema des heutigen Abends
zurückkommen und erinnern. Ich bin als junges Mädchen
nach 1945 in Frankfurt/Main aufgewachsen und ich kann nur sagen,
die Entwicklung eines neuen Landes, da gebe ich Bärbel Bohley
vollkommen Recht, geht nicht über die Cola, die D-Mark oder
den Euro allein. Wenn wir nicht lernen, welche große Rolle
die Kultur dabei spielt, übrigens in einer Welt, in der im
Grunde genommen über Geld und Globalisierung eine totale Verwahrlosung
des kulturellen Bereichs, der Sprache, der Musik, der Bildenden
Kunst, der Kreativität auch gerade der nachwachsenden Generationen
vorprogrammiert ist. Was wir heute bereden, wie viele junge Menschen
interessiert das überhaupt noch?
Geißler: Aber warum?
Jochimsen: Wir erkennen den Wert der Kultur als „nation
building“ und als Gesellschaftsfundament nicht mehr genügend
an.
Griefahn: Die Bundesregierung legt ein Programm auf mit
4 Milliarden für Ganztagsschulen. Es ist ganz wichtig, dass
wir in dem Konzept Ganztagsschulen berücksichtigen, dass zu
sozialem Lernen gehört, zum Beispiel am Nachmittag ein Orchester
zu machen oder dass man im Chor singt. Ich bin immer so begeistert
von dem venezolanischen Kinderorchester, das wirklich bewiesen hat,
dass die Kinder aus den Slums rauskommen, dass sie keine Gewalt
mehr ausüben, wenn sie miteinander Musik machen.
Ullmann: Das Problem ist ein gesellschaftliches. Um mal
ein sehr hoch gegriffenes Beispiel zu nehmen: Die „Zeit“
–auch ein Kulturfaktor – interviewt die neue Staatsministerin
Christina Weiss. Erste Frage: „Kriegen Sie einen größeren
Etat“. Da würde ich sagen, bei dieser Herangehensweise
wird das nichts. Das ist die Herangehensweise, Kultur kostet was
und es muss sich rechnen. Aber es wird falsch gerechnet. Das sehe
ich auch an dieser Interviewfrage. Es wird überhaupt nicht
überlegt, dass die Kultur etwas Motivierendes, Inspirierendes
sein soll, auf neue Gedanken bringen soll. Wenn man immer nur Haushaltspläne
und Quoten und Verkaufszahlen im Kopf hat, kommt man nie auf neue
Gedanken. Aber die Kultur ist just dazu da, die Leute auf neue Gedanken
zu bringen. Was die Politiker bezahlen wollen, das bezahlen sie
auch. Deshalb muss man fragen, wollt ihr denn wirklich drei Opern?
Sie
können dabei sein: Entweder live in Leipzig oder München,
an ihrem Rundfunkgerät (UKW oder ADR), per Live-Real-Audio-Stream
oder unter www.contrapunktonline.de/