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nmz-archiv
nmz 2002/11 | Seite 24
51. Jahrgang | November
Pädagogik
Geständnisse
eines Musikschulleiters a. D.
Prüfungen
Beim Aufräumen meines Arbeitszimmers fand ich tatsächlich
noch, schön versteckt in der hintersten Ecke eines Schrankes,
einen riesigen Stapel von alten Zeugnisformularen. Zeugnisse, Zwischenzeugnisse
und was sonst noch. Kaum etwas habe ich so schnell und gründlich
in den Papierkorb geworfen wie diese Formulare, schämte ich
mich doch noch im nachhinein, als treuer Gefolgsmann des „Verbandes
deutscher Musikschulen“, diese völlig unnötige,
mit viel Leerlauf und Bürokratie verbundene Aktion an der Lahrer
Musikschule ausprobiert zu haben. Wenn unsere Schüler schon
freiwillig und voller Freude in die Musikschule kommen, hier mit
anderen regelmäßig zusammen musizieren, im Orchester
mitspielen, in den Vortragsstunden zu hören sind und mit mal
mehr, mal weniger Erfolg an den Wettbewerben „Jugend musiziert“
teilnehmen, wozu dann noch eine Prüfung? Und um ehrlich zu
sein wer wird denn hier geprüft, der Lehrer oder die Schüler?
Kann der Schüler etwas dafür, wenn ihn nicht alle Lehrer
seiner Musikschule kennen? Ist es seine Schuld, wenn er keine Gelegenheiten
zu öffentlichen Auftritten hatte? Wer gibt schon freiwillig
so viel Geld für einen Unterricht aus, der meist zu Zeiten
stattfindet, wo andere Kinder spielen gehen oder sich vor den Fernseher
hocken? Ist es Schuld der Eltern, wenn ihnen nicht deutlich genug
gemacht wurde, welche Ansprüche die Musikschule und deren Lehrer
stellen, welche Leistungen sie alle gemeinsam zum Wohle der Kinder
erbringen möchten und auf welche Unterstützung und Mitarbeit
der Eltern alle angewiesen sind? Nicht, dass ich grundsätzlich
gegen jede Art von Prüfungen oder Zeugnissen wäre. Viele
unserer Schüler, die für sich entschieden hatten, ein
Studium an einer Musikhochschule aufzunehmen, baten uns um ein Abgangszeugnis.
Das haben wir dann auf Wunsch auch gerne ausgestellt. Die beteiligten
Lehrer gaben ihre Zensuren und wären sofort von Kollegium und
Schulleitung zur Rechenschaft gezogen worden, hätten die Zensuren
der Wirklichkeit nicht entsprochen, schließlich kannten wir
doch alle unsere Schüler. Das war dann ein wenig so, wie bei
„Jugend musiziert“.
Eine Prüfung kann auch berechtigt oder sogar notwendig sein,
beispielsweise wenn über die Vergabe von Fördermitteln
entschieden werden muss. Das schönste Beispiel solcher Prüfungen
habe ich Eugene Maegey, dem Direktor des „Conservatoire de
Musique“ in Colmar, zu verdanken. Man muss wissen, dass die
Verhältnisse in Frankreich in punkto Musikerziehung etwas anders
liegen als in Deutschland. Jedes Kind in Frankreich hat Anspruch
auf Unterricht in einer der städtischen Musikschulen oder Konservatorien
des Landes zu sehr günstigen Konditionen. Wird nach dreimaligem
Versuch in einer Zeitspanne von mehreren Jahren ein bestimmter Leistungsstand
nicht nachgewiesen, darf der betroffene Schüler seinen Unterricht
zwar fortsetzen, muss allerdings wesentlich höhere finanzielle
Beiträge leisten. Zu dem mit öffentlichen Mitteln geförderten
Unterricht gehören nicht nur Instrumentalfächer, sondern
auch das Pflichtfach Solfège. In Colmar verliefen die Instrumentalprüfungen
folgendermaßen: Die Lehrer der zu prüfenden Schüler
kamen etwa eine Stunde vor dem Prüfungstermin mit den fünf
Jurymitgliedern zusammen und hatten Gelegenheit, besondere Vorfälle
wie beispielsweise Krankheiten oder Schulprobleme ihrer Schüler
vorzutragen. Danach spielten die zu Prüfenden einzeln und nacheinander
in Anwesenheit aller Lehrer ihr Pflichtstück, ein Stück
freier Wahl und einen Teil eines Werkes, welches ihnen eine Stunde
vor Prüfungsbeginn zur selbständigen Einstudierung übergeben
worden war. Die Wertungen erfolgten nach einem Punktesystem: Maximal
sechs Punkte für Technik, maximal sechs Punkte für Intonation
und rhythmische Genauigkeit, maximal acht Punkte für künstlerische
Gestaltung. Nach jedem Prüfungsvorspiel von zirka 30 Minuten
wurde in Anwesenheit aller Lehrer über das Resultat und die
persönliche Situation des Schülers gesprochen. Hatten
alle Schüler vorgespielt, wurden Eltern und Schüler gemeinsam
zu Jury und Lehrerschaft gebeten. Unter der Leitung des Juryvorsitzenden,
aber doch im gemeinsamen Gespräch, konnten alle Leistungen
erläutert, die Gesamtpunktzahl bekanntgegeben und Vorschläge
für die weitere Ausbildung vorgetragen werden. Danke, Eugene
Maegey! Man kann vieles machen und vieles gut machen, es kommt nur
darauf an, wer es macht und wie er’s macht!