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nmz-archiv
nmz 2002/11 | Seite 38
51. Jahrgang | November
Jazz, Rock, Pop
Gegen den Strom
Totalschaden
Das deutsche Feuilleton hat soeben seinen Geist aufgegeben. Es
verschied nach langem Siechtum und hinterlässt nun Millionen
degenerierter Leser, die mit den Stempeln „PISA“ und
„Rechtschreibreform“ bereits vorher schon deutlich in
ihren Zeugnissen gekennzeichnet wurden. Wie konnte es geschehen,
dass es zu diesen literarischen Kollateralschäden in zahlreichen,
ehemals ehrbaren Redaktionen des Landes kam? Wie kam ein Mann namens
Dieter Bohlen ins Feuilleton der FAZ ... ? Warum geht das Abendland
vermutlich doch noch unter? Der Reihe nach. In den achtziger Jahren
brach die Generation Nix in Magazinen wie Tempo und Wiener auf,
um Hedonismus an die Stelle von Linksideologie und schlabberiger
Alternativkultur zu setzen. Das hatte durchaus eine gewisse Berechtigung,
welche über Inhalte und nicht über eitle Posen zu definieren
wäre. Doch das Kind wurde mit dem Bade ausgeschüttet,
es ging von einem Extrem ins nächste: Helmut Kohls „geistig-moralische
Wende“ fand tatsächlich statt. Jeder Ansatz von vermeintlicher
Weltverbesserung wird seither diffamiert und ins Abseits abgewiesen.
Höhepunkt dieses ultraschicken Zeitgeistes der 80er war schließlich
ein Gewächs namens Tom Kummer, der Interviews mit Superstars
simulierte und diesen Betrug an Lesern und medialen Auftraggebern
salopp und selbstsicher als „Borderline-Journalismus“
rechtfertigte.
Über Kummer stürzten nach Bekanntwerden seiner Textattrappen
Redakteure der ex-ehrbaren Süddeutschen Zeitung, das Niveau
sinkt seither im freien Fall. Überall sitzen heute im Feuilleton
jene Menschen, die durch die schräge und weitgehend unseriöse
Tempo-Zeitgeist-Schule unter Chefideologe und -redakteur Markus
Peichl gingen. Dieses Netzwerk angeblicher „junger Wilder“
übt in den Medien zunehmend Macht aus, schreibt oder schweigt
Leute mit kritischem Engagement tot - und entblößt sich
jetzt auf dem Höhepunkt dieses Siegeszuges selbst. Dieter Bohlen
auf der Frankfurter Buchmesse. Und natürlich vorher seitenweise
in der BILD-Zeitung. Und jeden Tag im TV-Boulevard bei RTL. Und
nun auch noch im deutschen Feuilleton. Seltsam undistanziert. Bohlen
steht mit seinen Lebensabschnittspartnerinnen, die stets eine Aura
von Silikonbrüsten, Bräunungsstudio und Ich-hab-alle-Platten-von-Abba-gehört
hervorrufen, für jenen männlichen Teil der Ballermann-Society,
der als Extremkunde auch in thailändischen Bordellen und bei
entsprechenden Menschenhändlern stets gern gesehen ist. Bohlen
erklärte auf der Buchmesse, dass Frauen den Männern das
Abendessen zu kochen und zu servieren hätten. Und drumherum
kreischten Dummteenies, grinsten zwinkernd die zynischen Koksnasen
gewisser Nachrichtenmagazine und Kulturblätter, die Ehrbarkeit
auch schon lange für eine rustikale Eigenschaft halten, die
man beim Dealer seines Vertrauens halt nicht kaufen kann. Ein langjähriger
Lektor eines altehrbaren großen deutschen Taschenbuchverlages
nach der Messe: „Warum wurden bei diesem Auftritt von Bohlen
keine Kotztüten gereicht?!
Die Messe macht sich doch lächerlich, Literatur verkommt zur
Event-Fassade und alle machen mit. Das Feuilleton hat Angst einen
Trend zu verpassen und nimmt Bohlen in seinen Reihen auf. Damit
haben die RTL-Menschen nun die Mehrheit im Lande.“ „Scheiss
am Stiel“ (der echte Name des buchähnlichen Machwerkes
ist mir leider entfallen) von Dieter Bohlen verkaufte sich bei Redaktionsschluss
bereits 300.000 mal, es wird kräftig nachgedruckt. Nach Ablauf
dieses Hypes werden wir die genaue Anzahl der Fliegengehirne in
unserem Land kennen, die an diesem Haufen begeistert geleckt haben.