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nmz-archiv
nmz 2002/11 | Seite 17
51. Jahrgang | November
Rezensionen
Büttner taucht auf
Orchestrales in alten und neuen Aufnahmen
Ein Euro von jeder verkauften CD soll an die Opfer der Flutkatastrophe
gehen, verspricht die Werbung für die CD-Erstveröffentlichung
von Paul Büttners Vierter Symphonie. Dabei ist kaum anzunehmen,
dass sich unter den Betroffenen jemand befand, der sich in den Fluten
so wohl fühlte wie das Coverpaar Triton und Nereide…
Ausschnitt aus dem Cover
zur CD „Heroic Overture“, Symphony No. 4 in
B minor von Paul Büttner, Sterling CDs
Und ob Büttner mit der Flut etwas zu tun hat, wird für
den Käufer nicht ersichtlich. Ja, wer ist denn überhaupt
dieser Komponist? Paul Büttner wurde 1870 in Dresden geboren
und starb daselbst, als bekennender Sozialdemokrat von den Nationalsozialisten
verfemt, im Oktober 1943. Die DDR-Kulturpolitik bewahrte ihm ehrendes
Gedenken, wenngleich er selbstverständlich als „altmodischer
Spätromantiker“ postum nicht gerade zum Aushängeschild
wurde. Was überdies hätte der sozialistische Realismus
mit seiner idealistisch geprägten Tonsprache ausrichten sollen?
Bisher gab es kein Orchesterwerk Büttners, der einst in Nikisch,
Schuricht, Fritz Busch, Reiner u. a. Vorkämpfer gefunden hat,
auf CD und eine ausschließlich seinem Schaffen gewidmete Zusammenstellung
sowieso nicht. Nun sind vom äußerst findigen schwedischen
Label Sterling (Hans Huber, Burgmüller, Wetz, Staehle und viele
mehr…) historische Dokumente des Radio-Sinfonieorchesters
Berlin wieder zugänglich gemacht: die 1918 vollendete Vierte
Symphonie vom 26. Juni 1964 unter Gerhard Pflüger (einst bei
Eterna als LP erschienen) und die 1925 komponierte Heroische Ouvertüre
von 1974 unter dem einstigen Helsingborger Chefdirigenten Hans-Peter
Frank. Die Vierte Symphonie ist eine großartige Entdeckung,
mit der sich Büttner als großer, aus der Tradition weitergeschrittener
deutscher Meister neben Richard Strauss und Hans Pfitzner hören
lassen kann, als einprägsamerer symphonischer Kombattant sozusagen
des Österreichers Franz Schmidt. Handwerklich eignet ihm, dem
bedeutendsten Schüler des eminenten Kontrapunktisten Felix
Draeseke, eine an Strauss gemahnende Souveränität und
Eloquenz. Doch ist er eine viel ernstere, symphonischere Natur.
Auch stehen sein Schwung und die melodische Zugkraft kaum hinter
dem großen Münchner zurück. Strauss ist origineller
und hat Büttner passagenweise beeinflusst. Doch auch Büttner
hat seine eigene Sprache, deren Wesen jedoch – vergleichbar
dem schwedischen Zeitgenossen Wilhelm Stenhammar – mehr eklektizistischer
Natur ist, ja geradezu eine die konkurrierenden Lager synthetisierende
Qualität hat. Man hört die knorrigen „fingerprints“
des alten Draeseke, Beethovens übermächtiger Schatten
wirkt immer noch, die Disziplin von Stimmverlauf und Phrasenbau,
der nobel-gemütvoll gezügelte Affekt sind Brahms verwandt,
die harschen Blöcke im Finale eindeutig von Bruckner bezogen.
Alles in allem kann ich nur konstatieren: Büttner war ein großartiger
Symphoniker. Die zyklische Anlage seiner Vierten Symphonie ist von
exquisiter dramatischer Kohärenz, das Wechselspiel von „logischer“
Abfolge und Überraschung ist fulminant beherrscht, die Harmonik
äußerst wendig, folgerichtig und farbenreich, der Kontrapunkt
grandios und doch nicht überladen, die Orchestration virtuos,
leuchtkräftig und weitgefächert nuanciert im Sinne Mahlers.
Die vier Sätze bilden entschiedenen Kontrast, die Melodik ist
– anders als bei Draeseke – nicht nur edel, sondern
fesselnd, die finale Apotheose schafft organische Einheit. Die Aufführung
lotet nicht das Potenzial aus, ist aber frisch und fließend
musiziert (viel packender als der heutige Standard bei Raritäten),
wobei zumal am Ende das Orchester (hohe Trompete!) überfordert
ist und die Intonation leidet. Die abwechslungsreiche, das Titelversprechen
einlösende Heroische Ouvertüre ist eine willkommene Ergänzung.
Zu Leopold Stokowskis 25. Todestag hat die britische Firma Cala
Records, die hierzulande derzeit leider ohne Vertrieb ist, in Zusammenarbeit
mit der Stokowski Society vier neue Scheiben ausgeworfen. Mendelssohns
Italienische und Brahms’ Zweite Symphonie stammen aus Stokowskis
letztem Lebensjahr. Nach wie vor ist unglaublich, welche sinnliche
Jugendlichkeit und gebündelte Freude der 95-jährige bei
Mendelssohn entfesselte. Auch dieser Brahms gehört zum Feinsten
und beides ist nun in bisher nicht erreichter Tonqualität verewigt.
Un-gefähr 30 Jahre früher gab es in New York „Stokowski
and his Symphony Orchestra“. Die Begeisterung der damaligen
Hörer ist nicht zeitgebunden. Haydns 53. Symphonie, ‘L’Impériale’,
wird mit unübertrefflich strahlender Tonschönheit und
rhythmischem Leben gegeben, Schumanns Zweite Symphonie in einer
sehr subjektiv hypnotisierenden, so eigenwilligen wie in sich stimmigen
Weise dargeboten – auch wenn ich über vieles entschieden
anderer Meinung bin, lasse ich mich durchweg mit Gewinn auf diese
zauberisch abenteuerliche Reise mitnehmen! Als Dreingabe gibts höchst
unorthodox springlebendigen Johann Strauß. Des weiteren von
Cala zwei Folgen, in welchen Stokowski 1947-49 die New Yorker Philharmoniker
leitet, voll herrlicher Entdeckungen von Wagner und Tschaikowsky
hin zu Kabalevsky und Messiaen. Ein besonderer Clou ist das Stokowski-Porträtalbum
in der von IMG kreierten und von EMI veröffentlichten Reihe
‘Great Conductors of the 20th Century’, die mittlerweile
24 Doppel-CDs umfasst: Erstmals auf CD ist hier die meines Erachtens
hinreißendste Wiedergabe einer Symphonie von Carl Nielsen,
die je auf Tonträger dokumentiert wurde: die Zweite Symphonie,
die ‘Vier Temperamente’, 1967 live mit dem Dänischen
Rundfunk-Symphonieorchester. Nicht nur, dass Nielsen nie sonst so
gut geklungen haben dürfte, auch strukturell, in der Plausibilität
der alles entscheidenden harmonischen Entwicklung wird auf höchstem
Niveau agiert. In der suggestiven Qualität zu empfehlen natürlich
für alle, die Nielsen schätzen und lieben, aber fast noch
mehr für jene, die bisher skeptisch oder ablehnend geblieben
sind.
Nach wie vor angepriesen als der von Stokowski gelobte „größte
Meister orchestraler Balance“ (aus dem Munde dieses Orchestergenies
will das etwas heißen…), legt der in Uruguay geborene
und in New York lebende Dirigent und Komponist José Serebrier
seit Jahrzehnten eine hochklassige Einspielung nach der anderen
vor, ohne dass unsere Fachwelt davon viel wahrnähme. Das ist
vollkommen unverständlich. Als Fortsetzung des Tschaikowsky-Zyklus
für BIS mit den Bambergern (der uns eine vorzügliche Vierte
Symphonie bescherte) gibt es diesmal die drei Shakespeare-Tondichtungen
und allen drei sehr anspruchsvollen und in der sensiblen Ausgestaltung
äußerst heiklen Werken wird Serebrier in begeisternder
Weise gerecht. Dass Celibidaches Romeo und Julia noch höher
angesiedelt ist, kann keine Schande sein. Aber wo – außer
bei längst verstorbenen Maestri wie Stokowski — hörte
man den Hamlet oder die Sturm-Fantasie so überwältigend
und bezwingend ausmusiziert?
Vom „schwedischen Mussorgsky“ Ture Rangström
(1884-1947), einem nordisch-mystischen Originalgenie, sind in Ersteinspielungen
die in völlig unorthodox durchbrochenem Satzbild formulierte,
neobarocke Partita für Geige und Orchester, die in magischem
Moll anbrandenden, schroff behauenen Klangformationen von Havet
sjunger (Gesang des Meeres) und der Orchesterlieder-Zyklus ‘Hexen’
zu hören, in ziemlich ordentlichen Aufführungen. Der Altmeister
der schwedischen Moderne, Hilding Rosenberg (1892-1985), wird erstmals
mit der späten Symphonie für Bläser und Schlagzeug
präsentiert, einem konzessionslosen, freitonal dissonanten
Werk absoluter Musik, von immenser handwerklicher Meisterschaft
und Charakterisierungskunst und nicht ebenso großer Persönlichkeit.
Ergänzt wird die CD mit drei Konzerten für Cello und Bläser:
je eins vom hochbegabten, pfiffigen Mats Larsson Gothe (geb. 1965)
sowie, in zwei Dreisätzern aus Mitte der 20er-Jahre, von Martinu
und Ibert. Ein bunter Strauß, kurzweilig.
Christoph Schlüren
Diskografie
Paul Büttner: 4. Symphonie, Heroische Ouvertüre;
RSO Berlin, G. Pflüger, H.-P. Frank; Sterling CDS 1048-2
(Vertr. Musikwelt)
Stokowski dirigiert: Schumann: 2. Symphonie, J. Haydn: 53.
Symphonie, Werke von Humperdinck, J. Strauß II, Mozart;
Cala CD 0532
Stokowski & National Philh. Orch.: Mendelssohn: 4. Symphonie
A-Dur, Brahms: 2. Symphonie; Cala CD 0531Stokowski & New York
Philharmonic
I: Tschaikowsky: Francesca da Rimini, Wagner: Fliegender Holländer-Ouvertüre,
Wotans Abschied und Feuerzauber, Messiaen: L’Ascension,
Werke von Griffes, Ippolitov-Ivanov, Vaughan Williams; Cala CD
0533
Stokowski & New York Philharmonic II: Wagner: Rienzi-Ouvertüre,
Siegfrieds Rheinfahrt und Trauermarsch, Kabalevsky: Maskerade-Suite,
Werke von Sibelius, Copland, Schönberg, Tschaikowsky; Cala
CD 0534
Leopold Stokowski dirigiert: C. Nielsen: 2. Symphonie, Sibelius:
1. Symphonie, Wagner/Stokowski: Liebesmusik aus ‘Tristan
und Isolde’, Ibert: Escales, Werke von Grainger, Turina,
Brahms, Liszt, Dukas, Glière; EMI 2CD 575480-2
Tschaikowsky: Romeo und Julia, The Tempest op. 18, Hamlet op.
67; Bamberger Symphoniker, J. Serebrier; BIS 1073 (Vertr. Klassik-Center)
Rangström: Havet sjunger, Divertimento elegiaco, Partita
für Violine & kl. Orch., Häxorna; B. Lysell (Violine),
K. Ingebäck (Sopran), Schwedisches RSO; Phono Suecia PSCD
712 (Vertr. Liebermann)
Rosenberg: Symphonie für Bläser und Schlagzeug, sowie
Konzerte für Cello und Bläser von Mats Larsson Gothe,
Martinu und Ibert; T. Thedéen (Cello), Östgöta
Blåsarsymfoniker, H. Bäumer; BIS 1136 (Vertr. Klassik-Center)