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nmz-archiv
nmz 2002/11 | Seite 3
51. Jahrgang | November
Zukunftswerkstatt
Lebendigkeit, Tiefe und ökonomische Stabilität
Herausforderungen für Musikschule und Hochschule ·
Von Michael Dartsch
Musikpädagogik als Hochschuldisziplin braucht wie jede Pädagogik
den Bezug zur Erziehungspraxis: Sie reflektiert und durchleuchtet
diese und zeigt ihre Bedingungskomponenten auf. Pädagogische
Praxis aber ist immer gesellschaftlich und kulturell bedingt. So
orientiert sich die Musikerziehung daran, Menschen das Hineinwachsen
in die Musikkultur zu ermöglichen. Sie ist dabei ebenso vom
aktuellen Musikleben geprägt, wie sie ihrerseits auf dieses
zurückwirken kann. In der gleichen Wechselwirkung steht die
Instrumentalpädagogik an der Hochschule zur Praxis: Sie kann
– in ihrer Eigenschaft als wissenschaftliche Disziplin –
impulsgebend und erneuernd wirken. Sie bleibt andererseits –
in ihrer Legitimation als Berufsqualifikation – an die aktuelle
Praxis an Musikschulen und im Privatunterricht rückgebunden.
Die Herausforderungen und Aufgaben der Hochschulen im Bereich der
Instrumentalpädagogik und der Elementaren Musikpädagogik
sind daher mit den Entwicklungen in der Praxis verbunden. Im Wesentlichen
könnte man die Herausforderungen, die sich in der Gegenwart
für die Zukunft abzeichnen, unter drei Begriffen subsumieren:
Lebendigkeit, Tiefe und ökonomische Stabilität.
Lebendigkeit
Wo Routinen oder institutionalisierte Strukturen nicht mehr hinterfragt
werden, droht schnell Erstarrung. Das gilt für Lehrpersonen
an Musik- und Hochschulen, die so unterrichten, wie sie dies immer
getan haben und wie sie vielleicht schon selbst unterrichtet worden
sind. Es gilt in gleicher Weise für Strukturen an Musikschulen
sowie Prüfungsordnungen und Fächerkanons an Hochschulen.
Immer wieder ist der Verband deutscher Musikschulen dieser Gefahr
entgegengetreten, indem er neue Wege beschritten hat, wie dies Modellversuche
und Kongressthemen zeigen. Als Stichworte seien der Ausbau der Grundstufe,
Versuche zur Integration ausländischer Kinder, Musik mit Behinderten,
die Arbeit mit Erwachsenen, die Erweiterung der stilistischen Palette
durch Folklore, Jazz und verstärkt auch Pop, das Anbieten von
Projekten und Kursen aller Art genannt. Die Verbandspublikation
„Neue Wege in der Musikschularbeit“ sammelte 1996 neben
inhaltlichen Neuerungen auch institutionsbezogene Ansätze:
Kooperationen mit anderen Kulturinstitutionen, Partnerschaften mit
Schulen anderer Länder, alternative Modelle hinsichtlich der
Gebühren, der Honorierung von Lehrkräften, der Organisation
und Flexibilisierung von Gruppenunterricht sowie der Öffentlichkeitsarbeit
zeigen das Spektrum lebendiger Entwicklungen. Lebendigkeit aber
hat man nie sicher implantiert, sie stellt vielmehr eine ständige
Aufgabe dar. So werden auf der inhaltlichen Seite gegenwärtig
intensive Gespräche zur Didaktik der populären Musik geführt;
auf der institutionellen Seite zeichnen sich im Zusammenhang mit
der steigenden Zahl von Ganztagsschulen neue Möglichkeiten
und Herausforderungen ab: Kann die Musikschule hier eine Aufgabe
übernehmen, die sich als didaktisch sinnvoll und politisch
gewollt integrieren lässt? Auch Themen, über die man mittlerweile
viel spricht, sind damit noch nicht unbedingt erledigt. Die Unterrichtsbereiche
Neue Musik, Improvisation und Neue Medien sorgen vermutlich noch
in manchem Kollegium eher für Ratlosigkeit.
Die selben Herausforderungen stellen sich den Hochschulen. Diese
sind naturgemäß ein Stück weit von aktuellen Tendenzen
in der Praxis abgekoppelt. Der hauptamtliche Lehrkörper ist
schon lange aus der Musikschulpraxis heraus, die Studierenden kennen
sie noch nicht. Die Praxis zu kennen ist aber nötig, um sich
darauf zu beziehen – sei es auch kritisierend oder belebend.
Gerade auch von Musikschulseite wird der Praxisbezug des Studiums
immer wieder angemahnt. Der Deutsche Musikrat hat im Jahr 2000 ein
Memorandum zur Ausbildung für musikpädagogische Berufe
verabschiedet, das ebenfalls einen stärkeren Berufsbezug fordert.
Schließlich widmet sich die diesjährige Tagung der GMP/VMP
im Oktober dem Thema „Berufsbezogen ausbilden!?“. Die
Interpunktion in diesem Titel regt zum Nachdenken an. Offensichtlich
handelt es sich um ein virulentes Problem. Irreführend mag
dabei der Gebrauch des Wortes „Ausbildung“ sein, der
an das Lehrlingswesen erinnert und mit dem Wunsch nach direkter,
praktischer Verwertbarkeit korrespondiert. Soll allerdings die Etablierung
von teilweise universitätsäquivalenten Studiengängen
ihren Sinn behalten, dann muss der Reflexion, der Suche nach eigenen,
stimmigen künstlerisch-pädagogischen Wegen, der möglichst
tief gehenden Durchdringung der musikalischen und erziehungswissenschaftlichen
Fragen – quasi in Humboldt’scher Freiheit, Einsamkeit
und Gemeinsamkeit (von Lehrenden und Lernenden!) – der gebührende
Raum gegeben werden. Auch das mittlerweile fast selbstverständliche
Praktikum bleibt als „Fenster in den Beruf“ dennoch
in diesen Raum eingebettet. Man trägt die Erfahrungen wieder
in die Hochschule hinein, vergleicht, wertet aus, entfaltet oder
verwirft Details, Konzeptionen oder Grundanschauungen. Darüber
hinaus sollten die Praxisfelder auf dreierlei Weise in die Hochschulen
hineinwirken: Zum Ersten müssten sie in den Fächern Musikpädagogik
und Fachdidaktik thematisiert werden. Es liegt in deren Wesen, einer
menschlichen Praxis beobachtend, deutend, befruchtend gegenüber
zu stehen. Lehrende dieser Fächer stehen daher vor der manchmal
mühevollen Aufgabe, sich mit neuen Publikationen, mit Themen
von Kongressen und Fortbildungen, mit den Entwicklungen im Arbeitsfeld
auseinander zu setzen und sich mit den Studierenden um Klärung,
Einordnung und Standortbestimmung zu bemühen.
Zur Fachdidaktik gehören dann auch praktische Lehrversuche
– gemäß des Herbart’schen Diktums: „Die
Erziehungslehre will nicht bloß gelehrt sein; es muss auch
etwas gezeigt und geübt werden.“ Zum Zweiten ist der
Fächerkanon immer wieder zu überdenken. Er soll Gewähr
dafür bieten, dass sich die Studierenden mit den relevanten
Bereichen der Musikerziehung in der nötigen Breite beschäftigen.
Die Relevanz aber ist auch von der kulturellen Praxis herzuleiten.
Wer Musikerziehung studiert, sollte heute auch mit einer gewissen
stilistischen Breite, mit Neuer Musik im Unterricht, mit Improvisation,
mit verschiedenen Unterrichts- und Vermittlungsformen, mit praxisnahen
und erfahrungsgestützten Reflexionen zur Arbeit mit Gruppen,
mit Fragen des Umgangs mit dem eigenen Körper (in Zeiten häufiger
Haltungsprobleme bei Kindern), mit Musiklernen in unterschiedlichen
Lebensaltern bis hin zum älteren Menschen und mit den kulturellen
Einflüssen der Medien konfrontiert werden. Er sollte durch
die gesamte Palette der Pflichtfächer schließlich auch
befähigt werden, nicht nur Instrumentaltechnik, sondern „die
ganze Musik“ zu vermitteln. Zum Dritten wäre wünschenswert,
dass allgemein der „Geist“, der an Hochschulen herrscht,
von Offenheit und Sensibilität, nicht aber von Gleichgültigkeit
oder Geringschätzung gegenüber der Praxis gekennzeichnet
ist. Auch Instrumentalprofessoren steht ein Interesse am späteren
Arbeitsfeld ihrer Studierenden, im besten Falle sogar eine gewisse
Beratungskompetenz, gut an.
Tiefe
Eine zweite Herausforderung, die oftmals gewissermaßen die
Kehrseite der Lebendigkeit darstellt, ist die Tiefe, die die Musikerziehung
im Idealfall kennzeichnet. Auch in einer Zeit, in der längerfristige
Bindungen ebenso wie Anstrengungen gern gemieden werden, kann sich
Musikerziehung nicht als eine Form des Entertainments neben den
vielen konkurrierenden Angeboten verkaufen, ohne dabei substanzielle
Einbußen zu erleiden. Dies gilt für manches grellbunte
Schulwerk, aber ebenso für institutionelle Unterrichtsprofile.
Auch wenn man sich natürlich eine möglichst große
Reichweite des musikerzieherischen Angebots wünscht, also so
genannte Breitenarbeit möchte, müssen personelle und strukturelle
Ressourcen erhalten oder geschaffen werden, die nach den grundlegenden
Erfahrungen mit dem Musizieren auch den weiteren Weg ermöglichen.
An nicht wenigen Musikschulen findet sich kaum eine Mittel- und
Oberstufe im Sinne der Lehrpläne. Konzentriert sich diese Klientel
im Sektor des Privatunterrichts, dann fehlt sie an der Schule als
Vorbild, Inspirationsquelle, Mitgestalter und Stütze der Ensembles.
Auch ein gegen den Willen der Lehrkraft verordneter und organisatorisch
unflexibler Gruppenunterricht über eine festgelegte Dauer von
Schuljahren – etwa als Voraussetzung dafür, dann schließlich
in einer besonderen „Förderstufe“ eine immer noch
knapp bemessene, wöchentliche Unterrichtseinheit Einzelunterricht
erhalten zu können – birgt die Gefahr, Wege in die Tiefe
zu verbauen. Selbstverständlich erschließt der vom Kind
widerwillig hingenommene sture Drill nach dem Programm „X“
diese Tiefe genauso wenig. Für Kinder, die noch kein persönliches
Verhältnis zur Musik und zum Instrument aufgebaut haben, ist
schließlich auch die populäre Musik kein Allheilmittel.
Von Fall zu Fall ist eher danach zu suchen, auf welche Weise ein
Kind auf welche musikbezogene Betätigung anspricht und wie
ihm neue Reichtümer erschlossen werden können. Schließlich
droht auch der Grundstufe potenziell immer wieder Tiefenverlust
– etwa wenn in der Arbeit mit Eltern und Kleinkindern kritiklos
marktgängige Konzeptionen praktiziert werden oder wenn in der
Arbeit mit Vorschulkindern der Keim des Künstlerischen, des
wirklich Berührenden, hinter Betulichkeit oder einer fruchtlos
starren Lernzielfixierung auf der Strecke bleibt. In der Elementaren
Musikpädagogik ebenso wie im Vokal- und Instrumentalunterricht
ist der authentische Ausdruck, sind Bereicherung und Vertiefung
anzustreben und zu ermöglichen.
Vor diesem Hintergrund kommt der Entfaltung einer künstlerischen
Persönlichkeit an den Hochschulen auch für Studierende
der Musikpädagogik eine von Praxisvertretern manchmal verkannte
Bedeutung zu. Sicher können kritiklose Selbstzufriedenheit
und das fehlende Wehen eines „künstlerischen Windes“
besonders an Instituten, die nur oder in der Hauptsache musikpädagogische
Studiengänge anbieten, eine Gefahr sein. Aber auch an renommierten
Hochschulen kann es für Studierende der Musikpädagogik
zu Defiziten kommen, wenn sie weder in gute Ensemblearbeit eingebunden
werden, noch mit den begehrten, charismatischen Lehrerinnen und
Lehrern zu tun haben. Aus Erfahrungen, die man bei überzeugenden
Lehrpersonen oder bei guter Kammermusik und Orchesterarbeit sammelt,
schöpft man später im Unterrichtsalltag immer wieder.
Im Idealfall müsste jedwede Unterrichtsaktion von einem musikalisch-künstlerischen
Zentrum in der Person der Lehrkraft gespeist sein.
So geht es auch in der Fachdidaktik nicht nur um Tipps und Tricks,
sondern im Letzten um den Anspruch lebendiger, fantasievoller künstlerischer
Arbeit mit Anfängern wie mit Fortgeschrittenen. Unterrichtsgestaltung
und Vermittlungsformen zielen ja nicht auf richtigen Gebrauch einer
Sache oder richtige Bedienung einer Maschine, sondern auf die Entwicklung
künstlerischer Persönlichkeiten. Dies gilt natürlich
auch an den Hochschulen selbst für den Unterricht in den auf
verschiedene Aspekte spezialisierten Fächern, die doch alle
auf Musik oder Pädagogik bezogen bleiben. So ist beispielsweise
Musiktheorie mehr als eine Rezeptologie, Gehörbildung mehr
als sportliches Training, Musikgeschichte mehr als Faktenbuchhaltung,
Pädagogik mehr als Lehr- und Lerntechnik.
Schließlich kann die Vielfalt der Pflichtfächer an
den Hochschulen, wenn denn zu viel des Guten vorgeschrieben ist,
auch ins Gegenteil eines oberflächlichen Aktionismus oder gleichgültigen
Abhakens der Testate und Scheine umschlagen. Ein zu umfangreiches
Studium würde denn auch für Studierende rein künstlerischer
Studiengänge – deren beruflicher Markt auch nicht gerade
für alle eine Arbeit bereithält – ein Doppelstudium
erheblich erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen. Die
Alternative, in künstlerische Studiengänge obligatorisch
ein wenig Didaktik oder Pädagogik zu integrieren, stellt demgegenüber
die pädagogisch schmalere Variante dar.
Ökonomische Stabilität
Schleichend, aber nicht weniger dramatisch hat sich die musikpädagogische
Landschaft in den vergangenen Jahren berufspolitisch verändert.
Festanstellungen werden Mangelware, die Zahl der Vakanzen steht
in krassem Missverhältnis zu der der Studienabgänger.
Die Honorartätigkeit auch an Musikschulen hat wieder Konjunktur,
nachdem sie dort bereits zur Ausnahme geworden zu sein schien. Musikschulleitungen
schlagen sich mit Budgets herum, die ihnen die Hände binden,
Träger sind vom Zwang zu sparen beherrscht. Unbefriedigende
Verhältnisse und Frustrationen etablieren sich, wenn etwa der
ältere Kollege sein BAT hat, die junge Berufsanfängerin
im Zimmer nebenan hingegen – auf ihrem Instrument topfit und
voller pädagogischer Ideale – eine Arbeit in gleichem
Umfang für ein mäßiges Honorar leistet und jede
gehaltene Stunde dafür nachzuweisen hat. Chancen bietet natürlich
auch der freie Markt, hierfür bedarf es jedoch auch eines unternehmerischen
Geschicks und der viel beschworenen Flexibilität. Während
die Länder als öffentliche Hand das Studium der zukünftigen
Instrumentallehrkräfte institutionell absichern, ist das Ideal
einer jedem zugänglichen, kontinuierlichen, bedarfsgerechten,
transparenten und niveauvollen Musikerziehung in der Gefahr, durch
die Finger der kommunalen, öffentlichen Hand zu rinnen.
Die Hochschulen haben hier den Spagat zwischen Desillusionierung
und Motivationsstärkung zu leisten. Die Studierenden brauchen
eine kräftige Reserve an Liebe zu ihrem Beruf, zur Musik und
zur Jugend. Andererseits muss die Zeit des Studiums bereits eine
Zeit der Orientierung sein: Wo liegen Stärken und Schwächen,
Vorlieben, Zusatzbegabungen und Interessen? Sowohl eine individuelle
Profilierung als auch eine wachsende Flexibilität setzen eine
gewisse Vielfalt des Studienangebotes voraus. Gefragt ist eine Fächerbreite,
die noch Wege offen lässt: etwa in die Grundschule, das eigene
Tonstudio, den Selbstverlag, die auf mittelalterliche Musik spezialisierte,
konzertierende Gruppe, die Leitung von Kursen zur Atem- und Körpertechnik,
das Kinderheim, die Musiksoftware-Firma. Hilfreich sind Wahlmöglichkeiten,
an denen sich Interessen ausrichten lassen, die schon Wege erproben
lassen und zusätzliche Farben in das Abschlusszeugnis bringen
können. Zusatzhauptfächer und Ergänzungsstudien eröffnen
weitere Möglichkeiten und sollten strukturell, zum Beispiel
auch noch berufsbegleitend und zu günstigen Bedingungen, ermöglicht
werden. Mögen die Hochschulen auch die zuvor genannten Herausforderungen
meistern und als lebendige Kulturwerkstätten getragen sein
von künstlerischem Enthusiasmus und pädagogischem Ethos
– in ihrer notwendigen Wechselwirkung mit der Praxis bleiben
sie auch an das gesellschaftlich-
politische Gefüge gebunden. In diesem Gefüge nicht bloß
passiv betroffen zu sein, sondern eine mitgestaltende und bewusstseinsbildende
Rolle zu spielen, mag eine ihrer größten Herausforderungen
für die Zukunft sein.