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nmz-archiv
nmz 2003/02 | Seite 33
52. Jahrgang | Februar
Oper & Konzert
Nonos Muse
Dieter Schnebel zum Tode von Carla Henius
„Carla ist tot!“ – So ein Anruf von Freund Joe
Riedl am 27. Dezember 2002 aus Murnau. Wie meist hatte sie mit ihrem
Mann, dem ehemaligen Intendanten Jochen Klaiber, Weihnachten in
diesem geliebten Ort verbracht. Und nun dieser Schock! Wir hatten
uns erst zwei Monate zuvor in Donaueschingen gesehen, und da war
sie munter wie stets.
Wie viele Erinnerungen, wie viele Eindrücke rief die Nachricht
herauf; ganz frühe: Darmstadt in den 50er-Jahren, Auftritte
der schönen stattlichen Person, Schönberg singend sorgfältig
studiert, angemessen expressiv; gelehrig und geachtet im Kreis der
Darmstädter Interpreten Kontarsky, Palm, Caskel, Maderna; dann
Adorno singend – neu: Wer kannte ihn schon als Komponisten?
Er wurde ihr gestrenger Lehrmeister und mit ihm verband sie eine
lebenslange enge Freundschaft. In den sechziger Jahren machten sie
Aufführungen von Maderna, Manzoni und Nono in Italien berühmt,
zumal die solistische Mitwirkung bei der Premiere von „Intolleranza“.
Ihre ganz in den Dienst des Werks gestellten Aufführungen –
im Wortsinn „werktreu“ – setzten Maßstäbe
und sie wurde im Kreis der Neuen Musik, in der „Avantgarde“
eine hochgeschätzte Interpretin.
Erinnerungen: Carla Henius
(links) und Nuria Nono-Schönberg in Wiesbaden im Jahr
1998.
Foto: Charlotte Oswald
Im Sommer 1969 kam ich in näheren Kontakt zu ihr. Sie besuchte
mich als Mitglied des Colloquium Musicale in Rom, das sie zusammen
mit Michael Marschall von Biberstein, dem damaligen Leiter des dortigen
Goethe-Instituts begründet hatte, und das eine wichtige Institution
wurde. Mit ihr kam Iris Kaschnitz quasi als Agentin von „Nuova
Consonanza“. Man wollte etwas von mir aufführen. Ich
arbeitete damals an den „Maulwerken“, beziehungsweise
an der Basisschicht „Atemzüge“. Wir wurden uns
bald einig: Eine erste Version der Prozesskomposition sollte einstudiert
und dann in Rom uraufgeführt werden.
Im Spätherbst 1969 trafen wir uns wieder bei einer eher traurigen
Gelegenheit: einer Gedenkveranstaltung in der Frankfurter Musikhochschule
anlässlich des Todes von Adorno. Ich hielt eine im ersten Teil
wohl etwas mühsame und dem Gegenstand angemessen ziemlich theoretische
Rede über Adornos Sprachkomposition, die bei dem studentischen
68er-Publikum nicht gut ankam – es flogen Papierschwalben.
Im zweiten Teil führte ich in seine Musik ein und Carla sang
Lieder von ihm. Die Stimmung schlug um, es stellte sich fast so
etwas wie Andacht ein.
Dann kamen 1970 die Proben zu den „Atemzügen“.
Ein Trio wurde zusammengestellt: Gisela Saur-Kontarsky, eine renommierte
Diseuse, der bekannte Bariton William Pearson und eben Carla Henius.
Man traf sich jeweils in Köln. Das Stück war für
das Ensemble eigentlich eine Zumutung: Drei professionelle Vokalisten
sollten hauptsächlich – allerdings ziemlich artifizielle
– Atemprozesse ausführen. Die Proben waren entsprechend
schwierig. Carla verhielt sich manch- mal störrisch, aber arbeitete
hingebungsvoll; sie konnte schmollen, aber auch die Naive spielen:
„Nun erklär mir das mal!“ Wir wurden endgültig
Freunde.
Es kamen dann ziemlich viele Aufführungen der „Atemzüge“
und wir trafen uns häufig, erst in Rom, dann auch in London
und Paris und weiteren Orten. Bei einer gewissermaßen sinfonischen
Aufführung der gesamten „Maulwerke“ mit allem Drum
und Dran – Elektronik, Dias, Filme – gab es drei Gruppen
von Ausführenden; außer den solistischen drei ein Viererensemble
aus Mitgliedern eines Chors (der Stuttgarter Schola Cantorum) und
schließlich ein Laienensemble aus fünf Primanern des
Münchener Oskar-von-Miller-Gymnasiums, an dem ich damals unterrichtete.
Den „Professionellen“ behagte diese Zusammenstellung
wenig. Indessen schloss Carla bald Freundschaft mit den „Welpen“,
wie sie sie nannte – und lud sie später auch nach Gelsenkirchen
ein.
In den 80er-Jahren, wo sie sich als Sängerin etwas zurückzog,
wurde sie Organisatorin. Sie hatte stets einen Sinn fürs Praktische
– und das Herz auf dem rechten Fleck. Claus Leininger, der
Intendant des Musiktheaters im Revier in der Arbeiterstadt Gelsenkirchen,
betreute sie mit der Leitung der neubegründeten Musiktheaterwerkstatt,
einer Art Experimentierbühne, und hier leistete sie quasi Basisarbeit.
Alles was Rang und Namen hatte, von Nono über Ferrari, Riedl
bis Kagel, wurde, soweit es die bescheidenen Mittel zuließen,
hier präsentiert und in klugen – oft handgeschriebenen
– Programmheften pädagogisch vermittelt. Aber sie schaffte
auch wieder Jugend um sich: Kalitzke, Stäbler, Klötzke,
auch der junge Wolfgang Rihm.
Es war ein gelinder Schock, als Carla 1989 ihren siebzigsten Geburtstag
feierte. Man wusste – wie meist bei Künstlerinnen –
ihr Alter nicht. Und nun sollte diese im Wesen Jugendliche, dynamische
Person an der Schwelle des Alters stehen.
Sie bat mich anlässlich der öffentlichen Feier um eine
theologische Rede und ich sprach auch über das „Bedenke
das Ende!“ Ihre Reaktion war wütend. Als Leininger nach
Wiesbaden wechselte, nahm er sie mit und sie setzte hier ihre Arbeit
in der reichen, gepflegten Kurstadt fort – fand dort bei dem
konservativen Publikum neue Reibeflächen. Und sie hatte angesichts
von Sparmaßnahmen, die ja bereits in den neunziger Jahren
um sich griffen, zu kämpfen. Aber sie war zäh und tapfer.
Die Siebzigjährige erweiterte noch- mals ihren beruflichen
Radius: begann Bücher zu schreiben – historische Zeugnisse
aus bald einem halben Jahrhundert engagierter Tätigkeit in
Sachen Neuer Musik. Sie fanden nicht nur wegen der dokumentarischen
Inhalte, sondern auch wegen der farbigen Darstellung, des persönlichen
Tons, aber auch als Frauenliteratur ein dankbares Publikum. Auch
sonst war sie gefragt – kannte ohnehin Gott und die Welt.
Im Alter wuchs ihr eine Würde zu: eine Grand Dame der Neuen
Musik.
In den letzten zehn Jahren (oder mehr) machten Carla und Jochen
immer wieder Ferien in Murnau – in einem Appartement des Hotels
Burgklause: Blick aufs Münterhaus und die Berge; sie kam immer
mit einem schweren Koffer voller Papier. Zuletzt arbeitete sie an
einer Autobiographie anhand ihrer reichen brieflichen Materialien
von Adorno bis Zender. Wenn wir ebenfalls in Murnau waren, traf
man sich zu Spaziergängen, im Schwimmbad am Staffelsee oder
zum Essen, oft auch zusammen mit Riedls. Öfters sahen wir sie
vormittags um elf im Café Fodermayr, wo sie stillvergnügt
mit Zeitung und einem Gläschen Wein saß – um dann
„Tacheles zu reden“. Der Ort ist nun nicht mehr das,
was er war: sie fehlt.
Indes gibt es sie doch noch leibhaft, nämlich als Stimme
auf dem Tape der Tonbandkomposition „La Fabbrica illuminata“,
die der Meister mit ihr hergestellt hat.