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nmz-archiv
nmz 2003/02 | Seite 34
52. Jahrgang | Februar
Oper & Konzert
Ungeheure Wucht und Gestaltungskraft
„Magma 2002“, eine Biennale für zeitgenössische
Musik
Längst steht der Dirigent vor dem kleinen Kammerorchester,
einem Streichquartett, ergänzt durch Bassklarinette, Flöte
und Percussion. Der Saal verdunkelt sich, Stille kehrt ein. Neben
dem Flügel auf einem kleinen Pult ruht ein flacher Laptop,
dessen Logo, der angebissene Apfel, grünlich schimmert. Das
Publikum wartet, der Dirigent wartet – der Cellist ist noch
beschäftigt: er versucht einen Tonabnehmer in der Nähe
des Steges zu befestigen. Als er endlich fertig ist, gibt er kopfnickend
ein Zeichen. Nicht dem Dirigenten oder seinen Mitspielern, sondern
einem Mann, der sich auf den oberen Zuschauerplätzen des Kammermusiksaales
der Berliner Philharmonie eingerichtet hat. Er ist der Herr über
all die Regler für die Mikrofone und Tonabnehmer und er ist
es, der jetzt den ersten Ton auf die Reise schickt…
Diese kleine Szene zu Beginn eines Konzerts im Kammermusiksaal
der Berliner Philharmonie war symptomatisch für ein Festival,
das in seiner Besonderheit durchaus ein Novum für die Musiklandschaft
Berlins war: „Magma 2002“, eine Biennale zeitgenössischer
Musik der fünf nordischen Länder Dänemark, Finnland,
Island, Norwegen und Schweden.
Zum ersten Mal in der 114-jährigen Geschichte der Nordischen
Musiktage fanden diese nicht in der angestammten Heimat statt. Sie
zeigten sich sprichwörtlich weltoffen und kamen nach Berlin,
wo sie an verschiedensten Adressen, darunter so vorzüglichen
wie der Philharmonie mit ihrem Großen und dem Kammermusiksaal,
Station machten. Veranstalter, Organisatoren und nicht zuletzt die
Musiker selbst boten viel auf, um dem Mitteleuropäer einen
umfassenden Beweis dafür anzutreten, dass der Norden außer
atemberaubend schöner Landschaft und Musik von Nielsen und
Sibelius mehr zu bieten hat. Gleichwohl stehen die beiden Namen
für eine Tradition, die Generationen von Komponisten nach ihnen
aufnahmen und weiterentwickelten. So sind denn hierzulande natürlich
auch Namen wie Kaija Saariaho, Esa Pekka Salonen oder Fartein Valen
bekannt. Weniger hingegen weiß man darüber, in welchem
Verhältnis diese zu der jüngeren Generation der Komponisten
stehen, die, wie sollte es angesichts einer zunehmenden „Vernetzung“
der Welt auch anders sein, vielfältigsten akustischen und optischen
Einflüssen ausgesetzt sind und zugleich auf ganz individuelle
Weise versuchen, sich der Welt mitzuteilen.
Zu den zentralen Veranstaltungen, die durch ihre klugen Konzeptionen
zugleich exemplarisch das Anliegen des Festivals verdeutlichten,
gehörten zweifelsfrei die Konzerte im Großen Saal der
Philharmonie, etwa das zur Eröffnung des Festivals. Carl Nielsens
5. Sinfonie (1922), die seinerzeit gleichfalls ein kühner Entwurf
im Umgang mit musikalischen Mitteln war, wurde an diesem Abend ergänzt
durch das 15-minütige Stück „Time and the bell“
(1988) von Anders Hultquist aus Schweden sowie durch die 6. Sinfonie
des dänischen Komponisten Per Norgård aus dem Jahre 1999.
Das Stück mit dem Titel „At the End of the Day“
bot sich dar als ein Ensemble der Extreme. Ein Phänomen, das
viele der Kompositionsbeiträge dieses Festivals charakterisierte:
Vom Grundanliegen des Stückes über seinen musikdramaturgischen
Aufbau und die Instrumentierung gehen die Schöpfer oft bis
an die Grenzen dessen, was Musikinstrumente und ihre Spieler zu
leisten vermochten – um sie dann mit modernen Hilfsmitteln
zu überwinden.
Dass die Suche nach neuen Ausdrucksmitteln über das traditionelle
Instrumentarium hinaus auch für die nordische Moderne charakteristisch
ist, demonstrierten zum Beispiel die „Nordischen Nachspiele“
im Berliner Tränenpalast, wo das 1997 gegründete dänische
Ensemble „Contemporánea“ mit seinem audiovisuellen
Clubkonzert dem künstlerischen Zusammenhang von Klang, Raum,
Bewegung und Bildern eine sinnliche Dimension gab. Auch das Ensemble
wie „Cikada Chamber“ aus Norwegen stellte sich mit dem
Versuch einer Synthese aus Tradition und Moderne vor, etwa bei dem
Stück „Ur“ von Markus Lindberg. Dieser hatte eine
eigens für diese Komposition geschriebene Software verwendet,
um zu zeigen, dass der Computer der handschriftlichen (sprich: traditionellen)
Kompositionsarbeit durchaus erweiterte Dimensionen hinzufügen
kann. Ganz in diesem Sinne arbeiten auch Lasse Thorensen, dem der
Computer als Werkzeug bei seiner Beschäftigung mit der Mikrotonalität
dient oder Kaija Saariahio, deren in Berlin aufgeführtes Stück
„Nymphea“ für Streichquartett und Elektronik einst
als Auftragswerk für das KRONOS-Quartett entstand.
Geradezu augenscheinlich war der Umgang der jüngeren Komponisten
mit einem Instrumentarium, das sich aus den Mitteln heutiger Unterhaltungselektronik
und verschiedener Medien zusammensetzt. Ihr Publikum, und das stellt
diese Komponistengeneration meines Erachtens vor eine besondere
Herausforderung, ist im Umgang mit eben diesen Mitteln nicht minder
versiert, sie sind inzwischen längst für jedermann zum
alltäglichen Gebrauchsgegenstand geworden. Insofern treffen
die Komponisten heute ganz im Unterschied zu den anfänglichen
Versuchen etwa durch Pierre Boulez auf ein Publikum, dessen Hörerfahrung
im Bereich der elektronischen Medien durchaus geschult ist, wohingegen
es den Bereich der klassischen Formen der Musik immer weiter in
den Hintergrund treten lässt.
Umso verdienstvoller war das Bemühen des Festivals, den Nimbus
des Elitären zu zerstreuen, wie er gerade um die zeitgenössische
Musik häufig vermutet wird. Gleichwohl zeigte sich, dass dies
Bestreben andauern muss, denn gar zu oft hatte man, speziell bei
den kammermusikalischen Veranstaltungen den Eindruck, bei einem
typischen Insidertreffen zu stören, weil der ausbleibende Publikumszulauf
zu viele freie Plätze ließ.