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nmz-archiv
nmz 2003/02 | Seite 36
52. Jahrgang | Februar
Oper & Konzert
Der Mailänder und das Meer
Luca Francesconis neue Oper „Ballata“ am Théâtre
de la Monnaie
Vordem hätte man’s einfach der Weltläufigkeit
zugeschlagen, heute interpretiert es sich eindeutig als musterhafte
EU-Tugend: Der Internationalismus der Brüsseler La Monnaie-Oper,
die als Uraufführung ein italienisches Opus („Ballata“
von Luca Francesconi) präsentiert nach einem 200 Jahre alten
klassischen englischen Text („Rime of the Ancient Mariner“
von S. T. Coleridge), selbstverständlich penibel in den zwei
belgischen Landessprachen übertitelt und mit einem deutschen
Szeniker (Achim Freyer) als Koproduktion mit der Oper Leipzig annonciert.
Geschult an Debussy: der
Komponist Luca Francesconi. Foto: Charlotte Oswald
Coleridges Meeresballade hatte literarische Auswirkung bis zu Edgar
Allen Poes „Maelstrom“-Version. Das Meer ist hier nicht
(wie etwa im „Fliegenden Holländer“, bei „Peter
Grimes“ oder Henzes „Verratenem Meer“) Hintergrund
eines dramatischen Geschehens, sondern Medium und Ort einer philosophischen
Reflexion über das Leben. Die Theatralisierung kann daher kaum
mit Elementen einer „Handlung“ hantieren. Sie macht
das Sinnbildhafte auch in Allegorien anschaulich. Seefahrt als Männerwelt
(im entgegenständlichten Verständnis: Männer als
Subjekt der Geschichte) begegnet dem Weiblichen als imaginärer
Verlockung (Sirene) und Friedensengel (Mond). Während der Tod
männlich konnotiert ist, weist der Komponist der Mystischen
Zwiefachfigur „Leben-im-Tod“ eine Sopranrolle zu. Das
romantische Doppelgänger-Ich ist in den „alten“
und den „jungen“ Seemann aufgespalten. Moderne Oper
als Folge stationärer lyrischer Bilder ohne narrativen Drive
hat inzwischen Tradition. Francesconi handhabt die vom Erzählzwang
freie Dramaturgie denn auch so erfahren und sicher, dass die Gefahr
eines staubtrockenen Bühnen-Traktats niemals aufkommt. Mit
ungemein sinnlichem Impetus, fast möchte man von Gusto sprechen,
fängt die Musik das maritime Schillern, Scheppern und Tosen
ein (als Professor unter anderem in Rotterdam hat der gebürtige
Mailänder offenbar unmittelbare Meerberührung). Dazu versichert
er sich einer aktualisiert impressionistischen Palette, geschult
an Debussy. Die Klangbilder sind wirkungsvoll, dabei einfach angelegt.
Größere formale Einheiten werden durch relativ feste
Akkordstrukturen hergestellt, die durch allerlei Farbwerte zum Oszillieren
gebracht werden. Die oft pathetische Vokaldiktion ordnet sich diesen
harmonischen Feldern gleichsam natürlich zu. Der Gesang mag
sich expressiv geben; er bleibt doch Teil der musikalisierten Lebens-
und Meeresbrandung. Insgeheim tendiert die harmonische Rezeptur
zu tonalen Schwer- oder Bezugspunkten hin, weshalb die Gesangsstimmen
intonationstechnisch keine übermäßigen Anforderungen
stellen. Ein irisierender, räumlich distanzierter Frauenchor
(in den beiden Rängen postiert) hat ebenso suggestiv-illustrative
Funktion wie das hinzugefügte elektronische Klangmaterial (IRCAM-Studios
Paris). Kazushi Ono, der neue musikalische Chef der Brüsseler
Oper, sorgte für eine hingebungsvoll-genaue Realisierung, die
auch den Chor und das Orchester fulminant koordinierte.
Das Meer als musikalisches Sujet veranlasst Francesconis musiksprachliche
Eloquenz zu überbordender, bisweilen ans Chaotische grenzender
Bilderfülle und -überflutung. Hilfreich, dass die Szene
dazu eher ein Gegenprinzip der Klarheit und Kargheit verfolgte.
Der Theaterzauberer Achim Freyer, mindestens ebenso souverän
seiner Mittel gewiss wie der Komponist, bestach auch durch Ausstattungs-Reduktion.
Der leere Bühnenraum verzichtete fast ganz auf Accessoires.
Geschickt wurde im ersten der beiden Werkteile das Schwanken des
Schiffes durch die Bewegung der Begrenzung des hellen Hintergrunds
(und die aus Bühnenlöchern hin- und herwippenden Köpfe
der Seemänner) erzielt. Zunächst sind die Akteure wie
gebannt an ihre Plätze: der alte und der junge Seemann als
Drehfiguren, die anderen ebenso blitzschnell sich verwandelnd von
Hochzeitsmusikern zu Schiffsleuten mit der frontal wie an einen
Bug gehefteten weiblichen Galionsfigur in gleißend roter Robe
oder provozierender Nacktheit (Kostüme: Maria-Elena Amos).
Im zweiten Teil belebt sich die strenge Ordnung etwas, auch durch
die immer mehr dominierenden Todesfiguren in einem bizarren Totentanz.
Durch die finale singende Erscheinung des madonnenhaft auf einer
Sichel stehenden Mond-Engels erfährt das makaber getönte
Erinnerungsbild (auch musikalisch) eine natur- und lebensgläubige
Befriedung. Das verhalten Religiöse dieser Schlusspointe wird
in Freyers Interpretation noch behutsam unterstrichen.
Eindringlich wurden die Personen sängerdarstellerisch verkörpert.
Marco Beasley war der alte Seemann, der, bald rezitierend, bald
traumwandlerisch singend, das Geschehen als Erinnerungsstrom aus
der Rückschau zu durchleben scheint. Aus dem Italienischen
(Libretto: Umberto Fiori) verfällt der Text übrigens manchmal
wieder ins Coleridge’sche Original. Ganz in der unmittelbaren
Anschauung wurzelt die Expressivität des jungen Seemanns mit
dem vehementen Bariton Anders Larsson. Wichtige Chargen sind der
Page von Laure Delcampe und der Steuermann von Kim Woo-Kyung. In
den langen Schlussphasen werden die Gesänge der Sirene (Sylvia
Weiss), des Todes (Eberhard Francesco Lorenz), des Lebens-im-Tod
(Ildiko Komlosi) und schließlich des Mondes (Susanne Schimack)
visionär bedeutsam.