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nmz-archiv
nmz 2003/02 | Seite 34
52. Jahrgang | Februar
Oper & Konzert
In der Ehrlichkeit liegt die Stärke
Beat Furrers Musiktheaterwerk „Begehren“ in Graz
Graz ist Kulturhauptstadt Europas. Das Zentrum des Steirischen
Herbstes, von dem schon viele Impulse für die Kunstszene des
letzten Vierteljahrhunderts ausgingen, lässt sich nicht lumpen.
Mit der Helmut-List-Halle hat man auch einen neuen und aufwändigen
künstlerischen Veranstaltungsort errichtet. Sie liegt hinter
dem Bahnhof in der denkbar hässlichsten Gegend der Stadt. Eine
Terra incognita aus Industriehallen und Gegenständen, die sich
dem Recycling sperren. So präsentiert sich die Halle auch im
kühnen, dabei höchst geschmackvollen Fabrikgebäudelook.
Sie wirkt wie eine überdimensionale Streichholzschachtel aus
Metall und Glas, aus der auf beiden Seiten Schubfächer zur
Hälfte herausstehen. Helmut List ist Grazer Ingenieur (Motorenentwicklung,
Elektronik), ohne den die Autoindustrie heute um einiges schlapper
dastehen würde. Mit der Halle hat er sich schon zu Lebzeiten
ein imposantes, multifunktionales und akustisch superbes Denkmal
gesetzt.
Filigranes Netzwerk der
Bebilderung. Szenenfoto: www.mrs-lee.com
Dort wurde nun die Kulturhauptstadt mit Beat Furrers Musiktheater
„Begehren“ eröffnet. Das Stück hat schon eine
eigene Leidensgeschichte hinter sich. Ursprünglich war es für
den Steirischen Herbst 2001 konzipiert, die Grazer Oper aber verweigerte
die szenische Umsetzung. Die konzertante Aufführung war verheißungsvoll,
aber ernsthaft begriffenes Musiktheater ohne Theater lässt
auch die Musik verblassen. So hatte Furrer denn auch die erste Szene
zu einem Chor-Orchesterwerk umgearbeitet, das ebenfalls 2001 in
Donaueschingen erklang. Jetzt wurde mit einem Graz-typischen Spagatschritt
alles nachgeholt. Der Steirische Herbst 2002 wurde übers Jahr
hinaus verlängert, sein Ende markierte die Eröffnung des
Kulturhauptstadt-Jahres. An diesen Schnittpunkt wurde „Begehren“
platziert (und Peter Oswald, Leiter des „Herbstes“,
gebärdete sich vor der endgültigen Uraufführung denn
auch mit dem Überschwang eines Boxring-Moderators).
Während viele (auch jüngere) Komponisten heute Opern
komponieren, als hätte die Gattung überhaupt noch keine
Überlagerungs-Dellen abbekommen, versuchen verantwortungsvol-
ler Denkende Musiktheater neu zu formieren. Selbstverständlich
kann nicht ein einziges auch noch so geniales Werk diesen notwendigen
Umschwung leisten. „Begehren“ des in der Schweiz geborenen,
längst aber in Österreich beheimateten Beat Furrer wird
sich ohne Zweifel in die Reihe radikal innovativer Musiktheateransätze
integrieren.
Zugrunde liegt der Orpheus-Stoff. Sichtweisen von Ovid, Vergil,
Hermann Broch, Cesare Pavese und Günter Eich wurden in Textauszügen
kompiliert. Freilich nicht, um Handlungsstränge zu rekonstruieren,
sondern um Zustände des suchenden Verlangens (und des Vergeblichen
daran) bildhaft in zehn Szenen aufscheinen zu lassen. Altgriechisches
Theater, auch in der Konfrontation von Individuum und Chor, steht
als Modell hinter dem Entwurf Furrers, vielleicht auch das japanische
No-Theater. Seinsgründe, menschliche Befindlichkeiten werden
statisch postiert und mit existenzphilosophischen Randvermerken
unterfüttert. Die Musik wagt sich stets in die Grenzwelten
von Sprache und Gesang, beugt sich hinunter zum nackten Atem oder
hinein in die Stille. Sie ist konzessionslos herb, lässt den
Hörer allein in seiner wahrnehmenden Betrachtung. Nirgendwo
gibt die Musik nach, öffnet sich, sucht Wärme zum Publikum.
Und gerade in dieser Ehrlichkeit liegt ihre Stärke. Furrer
wagt viel – und gewinnt. Wer an seinen frühen Arbeiten
der 80er Jahre ein Übermaß an konstruktiver Starre bemängeln
mochte, der muss feststellen, dass Furrers Musiksprache nun (ohne
Aufweichung des Strukturellen) ein geradezu beklemmendes Maß
an körperlicher Intensität hinzugewonnen hat. Vielleicht
wäre karge Tiefe als Charakterisierung angemessen. Der Sänger
Orpheus („Er“) ist auf Sprechen und Atmen reduziert,
gleichsam seiner ureigensten Fähigkeiten beschnitten, Euridice
(„Sie“) entgegnet mit ungreifbaren Koloraturen (hervorragend
Johann Leutgeb und Petra Hoffmann). „Deine Einsamkeit verdoppelt
die meine“, sagt sie am Ende der neunten Szene und bringt
damit die Stoßrichtung des ganzen Werks auf den Punkt. Der
Chor (das Vokalensemble NOVA) bringt intensive Schattenklänge
hervor, fahl begleitend und bedrückend unterminierend zugleich.
Und immer enger schließt sich die Schraube bis zum sich zu
einer negativen Apotheose verkriechenden Schluss.
Eine ins Reale zerrende Bebilderung hätte dieses filigrane
Netzwerk erschlagen. Reinhild Hoffmanns Inszenierung vermied dies
auf glückliche Weise. Sie kommt vom Tanz her, vom Bewegungstheater.
Und so wurde ein körperlicher Kontrapunkt entworfen, mit Gesten,
die ins Leere greifen, die sich wie Kugelgestalten winden und gerade
durch die feinst konstruierte Bewegungspartitur des Sinnlosen zum
Wesen vordringen. Es sind kahle Gestalten mit statischen Gesichtern,
immer wieder, als Pendant zur Musik, an der Grenze von Starre und
Bewegung. Der abstrakte Bühnenbau der Irakerin Zaha Hadid –
ein von unten beleuchtetes Plexiglas-Gelände, das von Hebemaschinen
zu Brücken oder Steilwänden aufgeworfen wird, rundete
die theatrale Einheit: Eine Einheit, die nicht auf Verdoppelung
setzte, sondern in verschiedenen Strängen an einer gemeinsamen
Idee baute. So definiert sich Musiktheater neu und die auf körperliche
Aktion abgestellte Musik hätte gewiss ohne diese asketische
Front des Visuellen viel an Wirkung eingebüßt.
Beat Furrer selbst leitete das (auf 15 Spieler verstärkte
und hautnah agierende) ensemble recherche. Dass der Applaus nicht
in Trubel ausartete, hatte schon die Sinnstruktur des Stücks
verboten. Aber er machte klar, dass jeder dankbar etwas mit auf
den Weg bekommen hatte. Graz kann ein Jahr lang so weiter machen.
Der zum Teil selbstverordnete Charakter eines heim-lichen Kulturzentrums
in Europa würde Bestätigung erfahren.