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nmz-archiv
nmz 2003/02 | Seite 35
52. Jahrgang | Februar
Oper & Konzert
Improvisatoren auf Klassenfahrt
Musik des Zufalls: Ein neues Projekt präsentierte sich in
Leipzig
„DRZK.wähuh°“ bedeutet nichts oder die absolute
Wahrheit. Das ist einfach oder kompliziert. Über so einen Titel
muss man nicht nachdenken, über die Rolle der Improvisation
im genormten Leben schon. Es gibt einen deutschlandweit eingetragenen
Verein, der sich zum Ziel gesetzt hat, „alle Belange der Improvisation
zu fördern und zu unterstützen“. Gut so, und wer
dabei nur an die Künste denkt, denkt zu kurz. Es geht ums Leben,
es geht ums Ganze – und um die Rolle des Zufalls dabei. Um
alles, was sich nicht planen lässt also. Um das, was uns noch
aufstören kann, falls wir die Antennen haben, das Unverhoffte
zu empfangen.
Der Verein hat eine Zweigstelle in Sachsen, die sich jüngst
in einer Leipziger November-Sonntagnacht in der knackevollen naTo
als Bastion gegen das Diktat standardisierter Abläufe präsentiert
hat. Knapp 20 Akteure waren gar nicht zufällig mobilisiert
und inszenierten unter der Federführung des agilen Leipziger
Statthalters Oliver Schwerdt ein Projekt aus Klängen, Bewegungen,
Farben, Worten und Bildern. Diese Musik des Zufalls dominierte ein
Nummernprogramm der vereinseigenen Kapelle EUPHORIUM_- freakestra,
junge Leute allesamt, die zwischen Jazz und Rock die Töne setzten,
wobei ihnen der Spaß ins Gesicht geschrieben stand. Ihren
schrillen Reigen haben sie durch die Integration zweier Altvorderer
der improvisierten deutschen Musik geadelt: Günter ‘Baby’
Sommer und Friedrich Schenker. Sommer, die Dresdner Schlagzeuglegende,
der leibhaftige Blechtrommler, hat die konventionelle Rolle seines
Instruments seit Jahrzehnten hinter sich gelassen hat, um Grenzen
einzureißen mit einem Spiel, das Rhythmus in jedem Wortsinne
verkörpert. Schenker, Meisterschüler Paul Dessaus, ist
Motor zeitgenössischer Musik und also ebenfalls Initiator des
konzeptionell Abweichenden, wobei er als studierter Posaunist stets
den improvisierenden Virtuosen mitdenkt. Zwei Mentoren seit gut
30 Jahren, zwei die dem Leipziger Projekt Kontur gaben.
Die Bühne war zu klein fürs Happening der Akteure, Instrumente
und Dinge. An ihrem Rand mischten sich Komparsen und Publikum. Ein
laufender Fernseher, ein Tourist mit Bierbüchse und Lutscher,
eine Schöne presst Orangensaft und verabreicht ihn. Viel ist
los auf den 13 Stationen dieser Klassenfahrt mit Dozenten. Ganz
am Schluss trötet der nackte Saxophonist aus dem Kinderplanschbecken,
wozu es von oben „It don’t mean a thing“ schrammelt.
Das Publikum verläuft sich, bis alles gegangen ist, nach gut
zwei Stunden.