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nmz-archiv
nmz 2003/02 | Seite 34
52. Jahrgang | Februar
Oper & Konzert
Zwischen Mitleid und Erschrecken
Pocket Opera mit „Those Who Speak in a Faint Voice“
von Andrea Molino und Oliviero Toscani
Vor drei Jahren sorgte die agile Pocket Opera aus Nürnberg
für Diskussionsstoff mit dem Stück „The Smiling
Carcass“ von Andrea Molino, in dem es um das problematische
Verhältnis von Werbung und Moral ging. Pikant war damals, dass
Stoff und Bildmaterial von Oliviero Toscani stammten, dem Urheber
der umstrittenen Werbekampagnen der Firma Benetton. Auch bei der
jüngsten Produktion der Pocket Opera arbeiteten die beiden
Italiener nun wieder zusammen. Diesmal ging es nicht um Werbung
und Klamotten, sondern um das heikle Problem der Todesstrafe. Das
Ausgangsmaterial bilden Videoaufnahmen, die Oliviero Toscani in
den Todestrakten amerikanischer Gefängnisse machte. Ruhige,
genaue Bilder, kühl und kommentarlos, aber nicht ohne Anteilnahme
beobachtet. Häftlinge, die seit Jahren auf ihre Hinrichtung
warten, antworten vor der Kamera auf Fragen wie „ Was träumen
Sie?“, „Wie sind die Geräusche hier?“, „Wie
empfinden Sie die Zeit?“ Man hört sie sprechen, sieht
in ihre Gesichter, blickt in die Zellen, hört den allgegenwärtigen
metallischen Lärm der schließenden Türen. Sprache
und Bild konzentrieren sich ganz auf den Lebensalltag, politische
und juristische Themen sind bewusst ausgeklammert.
Aus 36 Stunden Aufnahmematerial destillierte Molino eine Auswahl
von meist sehr kurzen Sequenzen und montierte sie zu einer Klang-Bild-Polyphonie
auf fünf Kanälen. Seine Musik ist eng damit verzahnt.
Sie reagiert auf die Bilder mit kurzen Einwürfen, die die Aussagen
der Häftlinge quasi rezitativisch gliedern, mit improvisatorischen
Kommentaren des Saxophons, mit aggressiven Ausbrüchen des reichhaltigen
Schlagzeugs. Immer wieder wird der Tonfall in subtile Bereiche zurück
genommen. „Those Who Speak in a Faint Voice“ („Die
mit leiser Stimme reden“), heißt das Stück und
tatsächlich sprechen die Todeskandidaten mit seltsam tonloser,
gedämpfter Stimme über sich und ihr Schicksal –
Ausdruckswerte die den Grundcharakter des Stücks prägen.
Eine Solistenrolle hat der Vokalist David Moss. Als Sprecher trägt
er themenbezogene Texte von Shakespeare bis Erich Fromm vor, und
wo er improvisiert, vermischt sich sein zurückgenommener Vokalklang
mit den instrumentalen Kommentaren und verlängert so die Stimmen
der Häftlinge in die Musik hinein.
Molino nennt das Werk, das ein Jahr nach der konzertanten Premiere
in Basel nun in Nürnberg seine szenische Uraufführung
erlebte, eine Videoinstallation. Aufführungsort war der Innenhof
eines Nürnberger Geschäftshauses aus den dreißiger
Jahren mit Längsgalerien, die von ferne an die vergitterten
Gänge eines Gefängnisses erinnern. In der Mitte des Raums
hing die große, transparente Projektionswand, darum herum
waren die elf Musiker des Ensemble Phönix aus Basel und das
Publikum postiert. Ein mit wenigen Requisiten hantierender Schauspieler
brachte eine weitere Textebene ins Spiel: Aussagen von Befürwortern
und Gegnern der Todesstrafe, auch von Angehörigen von Opfern.
Peter Wyrsch, Regisseur und Leiter der Pocket Opera, hatte sie von
Amnesty International erhalten und in das Stück eingebaut,
um die Perspektive zu öffnen und das Publikum zum Nachdenken
anzuregen.
Vielleicht geriet Molino manchmal etwas zu stark in den Sog des
suggestiven Bildmaterials, wodurch zwar packende Wechselwirkungen
zwischen Bild und Ton entstanden, die Gestaltung des großen
Bogens aber etwas vernachlässigt wurde. Doch das Werk vermag
durchaus zu fesseln. Nicht zuletzt dank der Ambivalenz der Musik
schwankt der Besucher immer wieder zwischen Mitleid und Erschrecken,
zwischen der Identifikation mit den einsamen, auf ihre Schuld zurückgeworfenen
Gestalten und der Beklemmung über die Nähe zu ihnen. Einige
Male sind in diesen Bildern der Mörder und der Heilige ganz
nah beieinander.
Das Stück, das im Rahmen einer Nürnberger Aktionswoche
gegen die Todesstrafe uraufgeführt wurde, geht im nächsten
Jahr auf eine internationale Tournee nach Mailand, Tokyo, Seoul,
Wien und New York. Der Termin der New Yorker Aufführung ist
mit Bedacht gewählt: Sie soll zum Zeitpunkt stattfinden, da
die Europäische Union bei der UNO einen Vorstoß zur internationalen
Ächtung der Todesstrafe unternimmt.