[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2003/02 | Seite 38
52. Jahrgang | Februar
Oper & Konzert
Fantastische Reise zum Ursprung der Welt
Uraufführung von Claudio Ambrosinis „Big Bang Circus“
in Venedig, Musikbiennale im Aufbruch
Neustart bei der Biennale Venedig. Der im letzten Dezember ernannte
Präsident der Biennale, der frühere Industriemanager Franco
Bernabè, gab am 11. Oktober die Programmpolitik der Sektoren
Musik/Theater/Tanz für die nächsten Jahre bekannt. Wichtigste
Neuerung ist, dass die Direktoren künftig jedes Jahr wechseln
werden. Verantwortlich für die Musikprogramme der Biennale
Venedig sind 2003 Uri Caine und 2004 Giorgio Battistelli. Für
das Jahr 2005, in dem das abgebrannte Teatro Fenice wieder eröffnet
werden soll, gibt es noch keine definitive Ernennung. Vorgesehen
sind jedoch gemeinsame Musik/Tanz-Projekte in Zusammenarbeit mit
Michail Barishnikov, dem Tanzdirektor für 2004. Zu den Programmverantwortlichen
im Sektor Theater gehört unter anderen Peter Sellars (2003).
Die Pläne signalisieren eine Akzentverschiebung hin zu einer
Ästhetik der Mischformen und Querverbindungen. Wenn bei dieser
aktuellen Orientierung auch die Traditionen der klassischen Avantgarde
nicht unter den Tisch fallen, kann sich ein perspektivenreicher
Programm-Mix ergeben.
2002 gab es im Sektor Musik zwei Veranstaltungsserien, die trotz
ihres Übergangscharakters ein durchaus eigenes Gesicht hatten:
Im Mai ein dreitägiges Klavierfestival und nun im September
eine Serie von Konzerten und szenischen Produktionen. Einen Schwerpunkt
bildete die Uraufführung des Musiktheaterstücks „Big
Bang Circus“ von Claudio Ambrosini im Piccolo Teatro Arsenale,
einer einfachen, aber zweckmäßig eingerichteten Off-Bühne
am Rande der weitläufigen Militäranlagen im Osten der
Stadt.
Der 1948 geborene Ambrosini, Komponist und langjähriger Leiter
des Ex Novo Ensemble Venedig, nennt sein Werk im Untertitel eine
„kleine Geschichte des Universums“ und deutet damit
die Schwierigkeit, aber auch den Reiz seines Unterfangens an: Die
größte aller Erzählungen, den Mythos vom All, auf
die Miniaturform einer Kammeroper zu reduzieren. Die Kosmogonie
als Kammerspiel. Das Libretto verfasste er zusammen mit dem Theaterschriftsteller
und Dramaturgen Sandro Cappelletto, der ihm vor zwei Jahren auch
schon den Text zu einer abendfüllenden, semiprofanen Markus-Passion
geliefert hat.
Im ersten der beiden Teile verknüpfen die Autoren Textfragmente
aus Schöpfungsmythen von den Sumerern bis zu den Azteken, von
den Ägyptern bis zu den Eskimos, von der Bibel bis zum Taoismus
zu einem dichten semantischen Beziehungsnetz. Der zweite Teil, der
mit einem Dialog zwischen dem Schach spielenden Albert Einstein
und dem würfelnden Max Born anfängt, stellt philosophisch-naturwissenschaftliche
Deutungsmuster von heute ins Zentrum. Ein hübscher Einfall
der Autoren, die Entwicklung der Welt mit Lichtgeschwindigkeit zum
Ursprung zurück zu verfolgen, so dass das Publikum nach der
Theaterreise durch Raum und Zeit am Schluss Zeuge des mystischen
Big Bang wird: Ein ferne zuckendes Licht, untermalt von elektronischen
Sphärenklängen, die sich im Raum verlieren.
Das Libretto, dessen Charakter als Zitatenmontage von Ferne an
Massimo Cacciaris Textsteinbruch zu Nonos „Prometeo“
erinnert, inspirierte Ambrosini zu einer farbigen und gestenreichen
Partitur. Von der geräuschhaften Aktion bis zu kollektiven
Klangprozessen hält sie ein breites Spektrum an Zwischentönen
bereit. Von dem unter Marcello Panni musizierenden Ex Novo Ensemble
wurde diese Klangvielfalt sorgfältig realisiert und durch die
Live-Elektronik (Alvise Vidolin) zum suggestiven Raumklang ausgeweitet.
Die Stimmen der vier Gesangssolisten sind meist zu mehrstimmigen
Vokalsätzen gebündelt – Madrigalismen, durch die
all die poetisch beschworenen Naturerscheinungen, die archetypischen
Rituale und mythologischen Figuren aus der Sphäre der Individualität
herausgeholt und als Allegorien und Inkarnation kollektiver Sehnsüchte
und Fantasien gedeutet werden.
Für die Bühne schuf Philippe Marioge einen neutralen
schwarzen Raum mit verstellbaren Wandelementen, die sich leicht
auch zu Kammern und Spiegelkabinetten zusammenstellen lassen. Im
Zusammenspiel mit den vielfältigen Lichtwirkungen entstand
so ein durchaus brauchbarer Rahmen für das zu erwartende Wundergeschehen.
Doch aus dem Angebot der Partitur an fantastischen Bildern und Klängen
vermochte die Inszenierung wenig herauszuschlagen. Die Regisseurin
Christine Dormoy ließ die vier Protagonisten vorwiegend feierlich
auf und ab schreiten, wodurch wenigstens die bunten Kostüme
von Stefania Battaglia zur Geltung kamen.
Ein weiteres Handicap lag im Stück selbst. Vielleicht aus
Angst, das abstrakte Geschehen nicht richtig über den Bühnenrand
bringen zu können, führten die Autoren die Figur des „Presentatore“
in ihre Geschichte ein, eine Art Zirkusdirektor oder Jahrmarktrufer,
der die Szenen wortreich ansagt und kommentiert. Ein Fehler, wie
sich nun erwies, denn der Darsteller dieser Sprechrolle machte sich
das Inszenierungsvakuum zunutze und spielte sich ebenso virtuos
wie hemmungslos ins Zentrum und die musikalischen Partien an die
Wand. Ambrosini will nun offenbar eine kürzere, rein musikalische
Fassung ohne Sprechrolle ausarbeiten. Davon kann das Stück
nur profitieren.