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nmz 2003/02 | Seite 51
52. Jahrgang | Februar
Dossier: Musikhochschulen
Mitten in einer langwierigen Umstrukturierung
Ausbildungsstätten zum Musikerberuf in der Schweiz ·
Von Bernhard Billeter
Wir stehen mitten in einem langwierigen Umstrukturierungsprozess.
Wichtige Entscheidungen sind noch nicht gefallen, so dass im Moment
weniger über Resultate als über Tendenzen und Fragen berichtet
werden kann.
Etwas vereinfacht kann gesagt werden, dass vor vier Jahrzehnten
die Ausbildungsstätten alle „Konservatorium“ hießen,
ob groß oder klein, bedeutend oder unbedeutend, öffentlich
oder privat (damals hatten die Konservatorien vorwiegend private
Trägerschaften, waren aber von den jeweiligen Kantonen subventioniert),
und alle hatten das Recht, Diplome zu verleihen, wobei diese auf
dem Papier als gleichwertig galten. Man muss noch wissen, dass in
der Schweiz die Schulhoheit bei den Kantonen liegt, ähnlich
wie in Deutschland bei den Bundesländern, nur dass die Kantone
viel kleiner sind (Appenzell Innerrhoden etwa 10.000, Kanton Zürich
etwa 1.180.000 Einwohner).
Aus dieser Aufsplitterung des Erziehungswesens resultierte eine
Vielzahl von 16 Konservatorien, eigentlich zu viel für 6 Millionen
Einwohner. Neben den Konservatorien bestand auch die Möglichkeit,
ein Musikstudium – meist ein Zweitstudium mit größerer
Flexibilität – bei Privatmusiklehrern, Mitgliedern des
Schweizerischen Musikpädagogischen Verbandes (SMPV), zu absolvieren.
Der Verband organisierte nur die strengen Schlussprüfungen
und verlieh ebenfalls Lehr- und Konzertdiplome, Theorielehrerdiplome,
Schulmusik- und Chorleiterdiplome. Diese Besonderheit der SMPV-Diplome,
die es in keinem andern europäischen Land gibt und um die wir
beneidet werden, besteht bis heute. Allerdings wurde von den Konservatorien
die Gleichwertigkeit der SMPV-Diplome immer mehr in Zweifel gezogen,
so dass im Jahre 1981 die schweizerische Konferenz der kantonalen
Erziehungsdirektoren (EDK) eine Kommission beauftragte, diese Frage
zu prüfen, mit für den SMPV positivem Ausgang. Die damalige
Empfehlung der EDK an die Kantone, die SMPV-Diplome als gleichwertig
anzuerkennen, ist heute noch gültiges Recht, was deutschen
Amtsstellen immer wieder klar gemacht werden muss, auch wenn dieser
Rechtszustand in wenigen Jahren durch eine neue Ordnung abgelöst
werden dürfte.
Weitere Entwicklung
Die Zeit stand nicht still. Die größten Konservatorien,
nämlich diejenigen von Zürich, Basel und Bern, bezeichneten
sich schon bald als „Konservatorium und Musikhochschule“,
um der Anerkennung im Ausland nicht verlustig zu gehen. Es war kein
Etikettenschwindel, denn die Studienangebote, -richtungen und -anforderungen
wurden stets ausgebaut und angepasst, vor allem in pädagogischer
Hinsicht; es wurden Studios für Alte Musik, für Neue Musik,
für Popularmusik et cetera und Weiterbildungsmöglichkeiten
eingerichtet. Neben erweiterten Ensemblekursen erhielten die Studierenden
die Möglichkeit, ein Variantinstrument, namentlich ein historisches
(Barockvioline, Traversflöte et cetera) zu erlernen. Für
Pianisten bietet dies die Chance, sich mindestens eine Zeit lang
während des Studiums praktisch auf das Clavichord oder den
Hammerflügel einzulassen, was auch denjenigen, die später
sich auf das moderne Instrument beschränken, neben physiologischem
Nutzen (Anpassungsfähigkeit des Bewegungsapparates und des
Gehörs, Spannungsbalance) unschätzbare Impulse in Aufführungspraxis
gibt.
Der SMPV seinerseits verzichtete freiwillig auf die Diplome wie
zum Beispiel Schulmusik, die eine große Infrastruktur erfordern,
straffte die Anforderungen bei den Zulassungsprüfungen, führte
Zwischenprüfungen und Pädagogik/Didaktik-Obligatorien
ein und trifft seit 1997 eine strenge Auswahl unter Mitgliedern,
die zur Berufsausbildung akkreditiert werden. Die Diplomanforderungen
sind mindestens so streng wie diejenigen der Musikhochschulen, auf
dem Gebiete musikalischer Allgemeinbildung sicher strenger, seit
an den Musikhochschulen die „Theorie“-Fächer größtenteils
während des viersemestrigen Grundstudiums abgeschlossen werden.
Rahmenstudienpläne
Obschon die EDK de iure den Kantonen keine Vorschriften, sondern
nur Empfehlungen geben kann, haben Entscheidungen dieses Gremiums
größtes Gewicht, zum Beispiel bei der Ablösung der
Lehrerseminare durch Pädagogische Hochschulen. Vor zehn Jahren
liefen die Bemühungen an, auch die musikalische Berufsausbildung
in den Griff zu bekommen. Das führte zum „Rahmenstudienplan
für das instrumentale und vokale Lehrdiplom in Klassik“,
zum entsprechenden Papier für „Jazz“ und zum „Reglement
über die Anerkennung der Diplome für höhere Ausbildung
in Musik“, alle vom 28. August 1997. Unterdessen hatte die
gesamtschweizerisch geregelte Bildung von Fachhochschulen in technischen,
wirtschaftlichen, pädagogischen und künstlerischen Bereichen
zur Etablierung von eigentlichen Musikhochschulen geführt.
Es sind heute fünf: Basel, Bern/Biel, Genf, Luzern (durch den
Zusammenschluss des Konservatoriums, der Akademie für Schul-
und Kirchenmusik sowie der Jazzschule) und Winterthur/Zürich;
angestrebt wird dieser Status von Lugano. Die EDK erließ im
Juni 1999 das „Profil der Musikhochschulen“ und das
„Reglement über die Anerkennung kantonaler Fachhochschulen“.
Für deutsche Leser stiftet das Wort „Fachhochschule“
Verwirrung, weil die deutschen Musikhochschulen sich nicht als Fachhochschulen
verstehen, sondern eine Stufe höher (während in Österreich
und in Berlin sich sogar der Name „Universität“
durchgesetzt hat). Diese Unterscheidung existiert in der Schweiz
nicht. Eine Reihe strenger Anforderungen entscheidet über die
Anerkennung als Musikhochschule, namentlich: die Größe
(mindestens 250–300 Studierende), die Anzahl von mindestens
drei Studiengängen, Weiterbildungs- und Nachdiplomkurse, „anwendungsorientierte
Forschung und Entwicklung“ (aF&E), ein entsprechendes
kulturelles Umfeld (Konzert- und Theaterleben, Universität),
Qualifikation der Lehrkräfte und Zulassungsbedingungen. Für
die Zulassung zur Aufnahmeprüfung wird verlangt: eine Maturität
oder Berufsmaturität oder der Abschluss einer anderen anerkannten
allgemeinbildenden Schule der Sekundarstufe II; nach längerem
Seilziehen wurde eine Ausnahmeregelung beim Nachweis einer außerordentlichen
künstlerischen Begabung zugestanden, was für Jungstudierende
(zum Beispiel Orchesternachwuchs) wichtig ist.
Pädagogische Ausbildung
Im Rahmen dieser von der EDK erlassenen Papiere sind die Musikhochschulen
autonom. Ihre Trägerschaft ist ein Kanton oder (im Fall Luzern)
ein Konkordat von Kantonen. Für außerkantonale Studierende
sorgen Abkommen zwischen Kantonen einigermaßen für Finanzausgleich.
Noch nicht überall sind die Lehrkräfte fest angestellt:
Luzern zum Beispiel kennt bis jetzt nur den Lehrauftrag, dessen
Stundenzahl sich von Semester zu Semester erhöhen oder eben
auch verringern kann. Die Rektoren der Musikhochschulen treffen
sich regelmäßig und vereinbaren unter anderem Studienschwerpunkte.
Da in dieser Hinsicht noch vieles im Fluss ist, hat es wenig Sinn
darüber zu berichten. Traditionellerweise kümmert sich
Basel besonders um Alte Musik (Schola Cantorum Basiliensis), Luzern
um katholische Kirchenmusik, Zürich um Orchesterausbildung
und protestantische Kirchenmusik. Mehrere neue Angebote bereichern
die Palette, zum Beispiel Ausbildungsgänge in Musikmanagement
oder Audiodesign. Bemerkenswerten Aufschwung hat in den letzten
Jahren die Forschung genommen, in Bern und Zürich durch Übereinkünfte
mit den musikwissenschaftlichen Instituten der Universitäten
untermauert.
Eine Besonderheit der Berufsausbildung in der Schweiz verdient
es, beachtet zu werden: Da erfahrungsgemäß die meisten
ausübenden Musiker auch Musikunterricht erteilen, wird der
pädagogischen Ausbildung große Bedeutung zugemessen.
Bis vor wenigen Jahren war es in der Schweiz kaum möglich,
ein Konzertdiplom zu erwerben, ohne vorher ein Lehrdiplom absolviert
zu haben. Heute trennen sich an den Musikhochschulen nach vier Semestern
Grundstudium die Ausbildungswege: instrumental oder vokal besonders
Begabte erhalten die Möglichkeit, in vier bis sechs Semestern
Hauptstudium direkt ein Konzertdiplom zu erwerben, an das sich in
Ausnahmefällen ein Solistendiplom anschließen kann. Immerhin
kann bei diesem Studiengang auch eine in der Diplomurkunde speziell
vermerkte pädagogische Ausbildung zusätzlich erworben
werden, was von vielen Studierenden genutzt wird. Die übrigen
Studierenden werden großmehrheitlich dem pädagogischen
Studiengang I zugeteilt, der mit einem Lehrdiplom endet. Die stark
ausgebaute pädagogische Ausbildung während vier bis fünf
Semestern schließt Schwerpunkte auf zum Teil obligatorischen,
zum Teil frei gewählten Gebieten ein, wobei namentlich Pflege
von Jazz, Popularmusik und Improvisation genannt sei. Was Jazz/Popularmusik
betrifft, so sind die ursprünglich selbständigen Jazzschulen
jetzt als Abteilungen den Musikhochschulen angegliedert, zum Vorteil
einer besseren gegenseitigen Durchmischung von U- und E-Musik.
Probleme in Diskussion
Ob neben dieser Hochschulausbildung auch eine musikalische Berufsausbildung
auf der Stufe „höhere Fachschule“ (Konservatorium)
zugelassen werden soll, ist eine Frage, die bis heute nicht entschieden
ist. Zwar hat die EDK die Reglemente von 1997 außer Kraft
gesetzt. Aber die verbliebenen Konservatorien in der französischen
Schweiz sowie in St. Gallen verteidigen altüberkommene Gewohnheiten
der Berufsausbildung, die zwar zahlenmäßig gegenüber
den von Musikhochschulen verliehenen Diplomen kaum ins Gewicht fallen,
aber im föderalistischen Gefüge eidgenössischer Kulturpolitik
doch offenbar ein nicht zu unterschätzendes Gewicht haben.
Merkwürdigerweise konnte sich ein Zusammenarbeitsmodell, wie
es beispielsweise in Bayern zwischen Musikakademien und Musikhochschulen
besteht, in der Schweiz nicht (oder noch nicht) durchsetzen. Dadurch
droht in der Schweiz eine Berufsausbildung auf zwei verschiedenen
Niveaus zu entstehen, womit sich wieder einmal zu bestätigen
scheint, dass die Schweiz Fehler ihrer deutschen und österreichischen
Nachbarn mit der Verzögerung einiger Dezennien nachmacht ...
Immerhin hat sich eine Einsicht im Zusammenhang mit der europäischen
Übereinkunft von Bologna durchgesetzt: Für die immer anspruchsvoller
werdende Ausbildung zum Musikpädagogen (man denke beispielsweise
an Gruppenunterricht, Ensemblespiel, Einbezug von Popularmusik,
Improvisation) genügt ein Bachelor-Abschluss nicht.
Und wie steht es mit den SMPV-Diplomen, immerhin zwischen 50 und
60 Abschlüssen pro Jahr? Der SMPV hat von Anfang an erkannt,
dass eine Verteidigung des althergebrachten Zustands keine Zukunftschancen
hat, und hat konsequent die Zusammenarbeit mit den Musikhochschulen
gesucht. Im Moment sind noch keine Aussagen über die Zukunft
möglich. Klar ist lediglich, dass ein SMPV-Berufsstudium sich
fast ausschließlich für den zweiten Bildungsweg eignet,
ob nun die Musikhochschulen ein Alterslimit für die Zulassung
haben oder nicht. Klar ist auch, dass neben der Berufsausbildung
in Zukunft der Weiterbildung eine erhöhte Bedeutung zukommt.
Das trifft aber ebenso auf die Musikhochschulen zu, die trotz garstiger
Finanzwiderstände bemerkenswerte Initiativen auf diesem Felde
entwickeln.
Den Lesern wird nicht entgangen sein, dass die vorstehenden Ausführungen
über nicht verschwiegene Auseinandersetzungen persönlich
geprägt sind. Wo steht der Schreibende? Er hat bis zu seiner
kürzlich erfolgten Pensionierung als Dozent für Orgel,
Clavichord und Hammerflügel an der Musikhochschule Zürich,
früher auch für Klavier am Konservatorium Luzern gewirkt,
kümmert sich anderseits um die Berufsausbildung des SMPV, meint
also, für sich in Anspruch nehmen zu dürfen, beide Seiten
aus eigener Erfahrung zu kennen.