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nmz-archiv
nmz 2003/02 | Seite 24
52. Jahrgang | Februar
Forum Musikpädagogik
Musik und Transfer – ein weites Feld
Hans Günther Bastians Untersuchung und ihre Folgen ·
Von Michael Dartsch
Dieser Artikel basiert – ebenso wie die beiden demnächst
folgenden über „Musik und Persönlichkeit“
sowie „Musik und Identität“ – auf einem Aufsatz,
der im März 2002 in der Zeitschrift „Katholische Bildung“
erschienen ist. Die Literaturliste ist im Internet unter www.nmz.de
abzurufen.
Mittlerweile ist es zweieinhalb Jahre her, dass Hans Günther
Bastian zur EXPO 2000 seine Untersuchung „Musik(-erziehung)
und ihre Wirkung. Eine Langzeitstudie an Berliner Grundschulen“
vorstellte, die unter Mitwirkung von Adam Kormann, Roland Hafen
und Martin Koch entstand und im Mainzer Schott Verlag veröffentlicht
wurde. Bastian erregte damals ein bis dahin für derartige Fragen
ungekanntes Interesse in der Medienlandschaft. Die Studie erforschte
über die Dauer von sechs Jahren fünf Klassen, denen wöchentlich
zwei Musikstunden, in der Mehrzahl auch Instrumentalunterricht sowie
Ensemblespiel zuteil wurde. Diese wurden mit zwei Klassen verglichen,
die nur die übliche eine Musikstunde pro Woche genossen. Die
zu Tage getretenen so genannten „Transfereffekte“ von
Musik, insbesondere die Einflüsse auf Intelligenz, Sozialkompetenz
und Schulleistungen, von denen in renommierten Tageszeitungen und
Magazinen ebenso berichtet wurde wie im Rundfunk, dienten dem Autor
unter anderem als schlagkräftiges Argument für das weithin
gefährdete Schulfach „Musik“ an die Adresse der
Politik. Diese zeigte sich in Einzelfällen tatsächlich
beeindruckt und zog – so in Hessen und Berlin (vergleiche
Bastian, 2001) – entsprechende Konsequenzen: Von weiteren
Kürzungen nahm man dort Abstand, in Berlin wurden gar weitere
„musikbetonte Züge“ genehmigt.
In Fachkreisen ist die willkommene Schützenhilfe gleichwohl
auch auf Skepsis gestoßen. Zum einen wurde verschiedentlich
die Stichhaltigkeit der Ergebnisse in Frage gestellt, zum anderen
verwies man immer wieder darauf, dass die Musik um ihrer selbst
willen unterstützenswert und aus sich heraus wichtig sei (vergleiche
Röbke, 2000; Altenmüller, 2001; Davidson, Pitts, 2001),
was allerdings auch Bastian zu betonen nicht müde wird. Nichtsdestoweniger
hält er es für angezeigt, die Ergebnisse kämpferisch
für die gute Sache ins Feld zu führen. Hier soll nun noch
einmal der Versuch unternommen werden, der Frage nach der Wirkung
von Musik unter der Perspektive des Transfers nachzugehen. Die beiden
demnächst folgenden Texte werden das Thema unter den Leitbegriffen
„Persönlichkeit“ und „Identität“
behandeln.
Kritische Umschau
Das Thema selbst ist durchaus nicht neu, wie man an älteren
Überblicksartikeln (vergleiche Spychiger, 1992; Behne, 1995)
ablesen kann. In der Vergangenheit ist bereits eine Reihe einschlägiger
Untersuchungen durchgeführt worden: Internationale Beachtung
erfuhr seinerzeit die vierjährige Schweizer Studie von Weber,
Spychiger und Patry (1993). Hier erhielten 35 Versuchsklassen –
bei entsprechender Reduzierung der Stundenzahl für Mathematik
und die Muttersprache – einen von zwei auf fünf Wochenstunden
erweiterten Musikunterricht und wurden mit ebenso vielen Kontrollklassen
verglichen.
Zum geflügelten Wort wurde der „Mozart-Effekt“,
von dem Rauscher, Shaw und Ky berichteten (1993): Danach wirkte
sich das Hören einer Mozart’schen Klaviersonate positiv
auf das räumliche Denken der Testpersonen aus. Die Probanden
erreichten bei entsprechenden Aufgaben, wie Intelligenztests sie
üblicherweise enthalten, deutlich bessere Ergebnisse als nach
einer Stille- oder Entspannungsphase.
Im „Rhode Island Report“ dokumentieren Gardiner, Fox,
Knowles und Jeffrey (1996) die Entwicklung von 80 Kindern im Alter
von fünf bis sieben Jahren, deren Leistungen in Mathematik
diejenigen einer Kontrollgruppe nach siebenmonatiger Testphase mit
speziellem Unterricht in Kunst und Musik schließlich überholten,
obwohl die Testkinder zu Beginn des Versuchs hinter ihren Mitschülern
zurückgeblieben waren.
Schließlich berichteten Chan, Ho und Cheung 1998, dass 30
chinesische Studentinnen, die mit weniger als zwölf Jahren
bereits mindestens sechs Jahre lang ein westlich klassisches Musikinstrument
erlernt hatten, ein besseres verbales Gedächtnis aufwiesen
als die Kontrollgruppe gleichen Umfangs, die keinerlei musikalisches
„Training“ genossen hatte.
Neben den genannten sind verschiedene speziellere Studien durchgeführt
worden, darunter auch solche mit benachteiligten oder behinderten
Kindern (zum Beispiel Moog, 1978; vergleiche Staines, 2001).
Die Ergebnisse fallen dabei – gemessen an den gehegten Erwartungen
– durchweg eher schmal aus. Wenn sie überhaupt festgestellt
werden können, so sind die Zusammenhänge häufig nicht
sehr stark. In der Schweizer Studie zeigten sich keine Zusammenhänge
zwischen erweitertem Musikunterricht und Intelligenzentwicklung.
Von vier Werten zum sozialen Gefüge in den Klassen zeigte nur
eines, nämlich die „Summe der Zuneigungspunkte“,
die sich Schüler untereinander vergaben, einen signifikanten
Zusammenhang, wohingegen bei den Abneigungen keine Unterschiede
zwischen den „normalen“ Klassen und denen mit erweitertem
Musikunterricht erhärtet werden konnten (vergleiche Spychiger,
2001a, S. 16f.).
Der Mozart-Effekt erwies sich in einer ganzen Reihe von Nachfolge-Untersuchungen
gegenüber den ersten Berichten als deutlich geringer, wenn
nicht gar als zweifelhaft (vergleiche Steele, Bass, Crook, 1999;
Chabris, 1999; Steele, Dalla Bella, Peretz, Dunlop, Dawe, Humphrey,
Shannon, Kirby, Olmstead, 1999; Rauscher, 1999; Staines, 2001).
In einer neueren Untersuchung zeigte das Vorlesen einer Geschichte
– besonders bei denjenigen, die sie gerne hörten –
den gleichen Effekt (Nantais, Schellenberg, 1999).
Im Rhode Island Report beziehen sich die Berechnungen der Unterschiede
nicht auf die mathematischen Leistungen selbst, sondern auf den
Anteil der Kinder, die sich ein zumindest durchschnittliches Niveau
erarbeiten konnten. Die Zahl der unterdurchschnittlichen Leistungen
verringerte sich also besonders bei den Kindern mit spezieller Musik-
und Kunsterziehung. Abzulesen ist hier, dass insbesondere eher schwächere
Kinder profitieren konnten. Dies korrespondiert mit Gembris’
Ansicht, dass „Transfer umso wahrscheinlicher ist, je ungünstiger
die Ausgangsbedingungen waren“ (Gembris, 1988, S. 304).
Bei Chan, Ho und Cheung erinnerten sich die „Musikerinnen“
an durchschnittlich ein bis zwei Wörter mehr, nachdem ihnen
eine Liste mit 16 zufällig angeordneten Wörtern vorgelesen
worden war. Wie viel von dieser Gedächtnisleistung sich im
Alltag als nützlich erweist, bleibt fraglich, wenn man bedenkt,
dass hier keinerlei syntaktische Information, keine sinnvollen Sätze
zu speichern waren.
Bei Bastian und seinen Mitarbeitern zeigt die Verwendung zweier
unterschiedlicher Intelligenztests verschiedene Verläufe und
Ergebnisse: Während sich beim AID (Adaptives Intelligenz Diagnostikum)
zunächst ein Vorsprung für die Musikklassen zeigte, der
sich aber zum Ende der Untersuchung hin wieder egalisierte, während
man also hier von einer bei den „Musik-Kindern“ beschleunigten
Entwicklung mit „normalem“ Endniveau sprechen kann,
trat der Vorsprung der Musikklassen bei den CFT-Messungen (Culture
Fair Intelligence Tests), die weniger auf Sprache und kulturabhängige
Erfahrungen abheben, erst am Ende, nach vier Jahren erweiterter
Musikerziehung zu Tage. Weiter war in Berlin im Gegensatz zur Schweizer
Studie bei drei von vier Messungen gerade der Anteil abgelehnter
Kinder in den Musikklassen kleiner als bei der Kontrollgruppe. Bezüglich
der Schulleistungen in so genannten Hauptfächern ergaben sich
keine Vorteile für die Musikklassen. Wie auch die Autoren der
Schweizer Studie (Weber, 1997) hebt Bastian hervor, dass die Musik
zumindest nicht zu Lasten der anderen Fächer ging, was allerdings
in der Schweiz vor dem Hintergrund der leichten Stundenreduktionen
in Hauptfächern bemerkenswerter erscheint.
Kritisch zu vermerken ist sicher die Tatsache, dass die Interpretation
der Ergebnisse selten zwingend eindeutig ausfällt. Zunächst
gibt es hier grundsätzliche Fehlerquellen zu bedenken, etwa
einen Effekt besonderer Anstrengung bei den „auserwählten“
Versuchsschülern und -lehrern, der mög- licherweise noch
durch die Veröffentlichung positiver Zwischenergebnisse verstärkt
werden mag (vergleiche Bastian, Kormann, Weber, 1997). Weiter können
Ergebnisse bei zu kleinen Versuchs- oder Kontrollgruppen nur eingeschränkt
verallgemeinert werden, was zum Beispiel Maria Spychiger in Bezug
auf Bastians Studie kritisch betont (Spychiger, 2001b, S. 68). Auch
der Zeitaspekt ist zu beachten: Wenn sich – wie bei Bastian
– Tendenzen erst spät zeigen und andererseits auch wieder
egalisieren können, muss der Zeitpunkt eines Ergebnisses im
Grunde stets mitgenannt und -gedacht werden. Der Mozart-Effekt wiederum
verpuffte, wo er sich beobachten ließ, bereits nach etwa zehn
Minuten.
Neben diesen Gefahren für die Interpretation von Ergebnissen
gilt es auch „vermittelnde Größen“ in statistischen
Zusammenhängen zu bedenken. Konkret können Leistungssteigerungen
zum Beispiel auf Veränderungen der Einstellung zur Schule,
des Gemeinschaftsgefühls, des Selbstbewusstseins oder des allgemeinen
Lernverhaltens zurückzuführen sein. Bezüglich der
beiden zuletzt genannten Punkte sei darauf hingewiesen, dass Bastian
schon 1997 von der vergleichsweise stärkeren Neigung seiner
Versuchskinder zu leichter Angeberei berichtete (S. 147) und dass
die Lehrerschaft der Musikklassen das Lern- und Arbeitsverhalten
ihrer Schülerinnen und Schüler besser beurteilte als die
Kollegen in den „normalen“ Klassen (Bastian, 2000, S.
481ff.). Im Rhode Island Report führen die Autoren die Ergebnisse
der Testkinder ausdrücklich auch auf die sich verbessernde
Grundeinstellung zur Schule zurück (Gardiner, Fox, Knowles,
Jeffrey, 1996).
Auch die Einflüsse des Musikunterrichts auf solche vermittelnden
Größen wären pädagogisch begrüßenswert.
Allerdings müsste der Gedanke einer einfachen und direkten
Kausalität in solchen Fällen revidiert werden. Wenn Dorothée
Kreusch-Jacob ein verhältnismäßig neues Buch mit
dem Titel „Musik macht klug“ (1999) versieht, dann erscheint
das ebenso simplifizierend wie der Untertitel der populären
Kurzfassung von Bastians Untersuchung: „Intelligenz, Sozialverhalten
und gute Schulleistungen durch Musikerziehung“. Ebenso gut
könnte man hinsichtlich der schulischen Hauptfächer titeln:
Verstärkte Musikerziehung beeinträchtigt die Schulleistungen
nicht, also im Grunde: „Gute Schulleistungen trotz (verstärkter)
Musikerziehung“, und käme damit der Aussage der Studie
näher. Möglicherweise liegen solche Verzerrungen da besonders
nahe, wo sich musikpädagogischer Idealismus mit wirtschaftlichen
Interessen berührt – in diesem Fall mit den Interessen
des „Dachverbandes Musikwirtschaft und Veranstaltungstechnik“,
der das Buch in seine Aktion „Intelligent mit Musik“
hineingenommen hat, was hier nicht grundsätzlich gebrandmarkt
werden soll.
Erklärungsansätze
So sehr man sich also bei besonnener Umschau gegen allzu starke
Vereinfachungen verwahren muss – sogar Bastian berichtet,
er müsse sich mittlerweile gegen seine Liebhaber verteidigen
(2001), so lohnend erscheint dennoch die Frage nach den möglichen
Wirkmechanismen der dokumentierten Transfereffekte. Wie könnten
sie zustande kommen? Hierzu wird verschiedentlich auf die nun 100-jährige
Theorie der identischen Elemente von Thorndike verwiesen (Thorndike,
Woodworth, 1901a; vergleice auch 1901b; 1901c; Spychiger, 2001a;
Bastian, Kormann, 2001): Diesen Grundansatz erweiternd kann man
davon ausgehen, dass für Transferleistungen von einer Aufgabe
auf eine andere stets Ähnlichkeiten zwischen diesen Aufgaben
bestehen müssen. Dabei können sich einzelne Elemente oder
auch übergreifende Strukturen ähneln. Weiter kann eine
ähnliche Herangehensweise an die Aufgaben angezeigt sein. Man
könnte hier den Schema-Begriff Piagets heranziehen. Erworbene
motorische oder geistige Muster werden bei genügender Ähnlichkeit
auf neue Erfahrungen übertragen. Piaget nennt dies „Assimilation“.
Manchmal müssen die Schemata dazu entsprechend modifiziert
werden; hier spricht Piaget bekanntlich von der „Akkomodation“.
So entwickeln sich neue Schemata immer auf der Grundlage der Konfrontation
aktueller Erfahrungen mit alten Schemata. Transfer wird so verstanden
zum Grundgesetz menschlichen Lernens und Entwickelns. Dabei wird
immer an bereits Bekanntes angeknüpft, alte Erfahrungen werden
gewissermaßen danach abgetastet, wo sich Möglichkeiten
zum Hineinarbeiten neuer Erfahrungen bieten. Ähnlichkeiten
und „Kompatibilitäten“ werden zum tragenden Fundament
neuer Schemata. Der Schema-Begriff wird in der Psychologie auch
ohne Bezug auf Piaget zur Beschreibung von kognitiven, motorischen
und auch musikbezogenen Lernvorgängen gebraucht (vergleiche
Evans, 1967; Schmidt, 1975; Jones, 1982). Bei genauem Hinsehen liegt
auch bei den oben veranschlagten Vermittlungsgrößen –
wie Selbstbewusstsein, Einstellung zur Schule oder auch Disziplin
– ein Schema-Transfer vor, die Übertragung einer Gefühlsgrundlage,
Sichtweise, Einstellung oder Gewohnheit auf neue Zusammenhänge.
Vor dem Hintergrund der notwendigen Ähnlichkeiten leuchtet
ein, dass es bei Transferwirkungen von Musik entscheidend auf die
genaue Gestalt der erworbenen Erfahrungen ankommt. Welche Art von
Musik stand im Mittelpunkt? Welche Art der Vermittlung wurde erlebt?
Der coole, lässige oder vielleicht aggressive Star einer Popgruppe
bietet sicher andere Schemata zur Identifikation an als der nachdenkliche
Songwriter. Ein leistungsorientierter Unterricht vermittelt andere
Erfahrungen als ein an Kreativität orientierter Ansatz (vergleiche
Spychiger, 2001a, S. 29). Auf der „Wirkungsseite“ wäre
entsprechend zu fragen: Welche Intelligenzkomponente oder Sozialkompetenz
wird in welchem Zusammenhang wie erhoben?
Zur Erklärung von Transfereffekten wird außerdem auch
die Hirnforschung herangezogen. Da sowohl das räumliche und
mathematische Denken als auch das Musikhören zu großen
Teilen in der rechten Gehirnhälfte lokalisiert wurden, wäre
eine Stimulation der entsprechenden Hirnregionen durch Musik denkbar,
die sich auch auf andere Formen des so genannten visuo-spatialen
Denkens (räumliches und mathematisches Denken) positiv auswirken
könnte. Zu beachten ist dabei allerdings, dass Musiker die
Musik stärker auch linkshemisphärisch verarbeiten als
Nicht-Musiker (Gembris, 1998, S. 141).
Die These, „dass Musik inhärente Abläufe von Entladungsmustern
in der Hirnrinde beeinflussen, eventuell sogar begünstigen
könne“ (Petsche, 1997, S. 93), veranlasste seinerzeit
Shaw und Rauscher zu Untersuchungen, die schließlich auch
die Annahme des Mozart-Effekts zur Folge hatten. Die kurzfristigen
Einflüsse des Mozarthörens auf die innere Vorstellung
vom Falten einer Papierfigur konnte Petsche auch mittels EEG-Untersuchungen
beobachten. Das Hören von Mozart zeitigte dabei tendenziell
stärkere Nachwirkungen auf das Vorstellen des Faltvorganges
als das Hören eines Textes, was sich an den Entladungen und
„elektrischen Beziehungen“ zwischen verschiedenen Hirnarealen
erkennen ließ. Es zeigten sich jedoch grundsätzlich für
das Texthören, das Musikhören und die Faltvorstellung
jeweils charakteristische und voneinander verschiedene Entladungsmuster
(S. 94).
Dieses Ergebnis bestätigt die Eigenständigkeit musikalischen
Denkens gegenüber dem verbalen, aber auch dem räumlichen
Denken. Es könnte so auch als Beleg für Gardners Theorie
der „multiplen Intelligenzen“ (2001; vgl. auch Spychiger,
1997) gewertet werden, die von sieben bis neun unabhängigen
Intelligenzen ausgeht – darunter auch eine räumliche,
eine mathematische, eine verbale und eben eine eigenständige
musikalische Intelligenz. Dabei hat sich die theoretische Grundannahme
von der Unabhängigkeit der Intelligenzbereiche allerdings empirisch
nicht bestätigen lassen. Mögliche Verbindungen der musikalischen
Intelligenz zum räumlichen Denken erwägt auch Gardner
(2001, S. 120f.).
Im Gegensatz zu Shaw und Rauscher ließen sich Chan, Ho und
Cheung zu ihrer Untersuchung über das verbale Gedächtnis
von Musizierenden (s.o.) gerade von Forschungen anregen, die die
linke Hirnhälfte betreffen: Schlaug, Jäncke, Huang und
Steinmetz (1995) zeigten nämlich bei Musikern mit absolutem
Gehör eine deutliche Vergrößerung desjenigen linken
Hirnbereiches, der für das Speichern akustischer Reize zuständig
ist (vgl. dazu auch den neueren Beitrag von Jäncke, 2001).
Die chinesischen Forscher folgerten, die „besser entwickelte
kognitive Funktion“ könne sich auch auf das Erinnern
sprachlicher Reize auswirken. Ging es hier lediglich um einzelne
Wörter, so erhellen jüngste Forschungsergebnisse auch
das syntaktische Moment und dokumentieren Ähnlichkeiten der
Verarbeitung von Sprache und Musik im Gehirn: Grammatisch falsche
Sätze und tonartfremde Akkorde in Kadenzen, also Abweichungen
des Gehörten von früh erworbenen Erwartungen, werden –
unabhängig vom bewussten Bemerken dieser Abweichungen –
gleichermaßen in der linken Hirnrindenregion registriert (Maess,
Koelsch, Gunter, Friederici, 2001). Bei aller Eigenständigkeit
musikbezogener Hirnaktivitäten sind bestimmte Areale und Funktionen
des Gehirns also nicht ausschließlich der Musik vorbehalten.
Parallelen zu anderen Bereichen der menschlichen Physiologie bieten
sich an: So hat das Klavierspielen mit dem Schreiben auf einer Computer-Tastatur
einen großen Teil der aktivierten Muskulatur und der auszuführenden
Bewegungen gemeinsam.
Wenn sich bei Musikern schon im Ruhe-EEG eine stärkere Kooperation
verschiedener Hirnregionen zeigt (Petsche, 1997, S. 90), das Gehirn
also – auch wenn gerade nicht musiziert wird – gewissermaßen
Spuren des Musizierens aufweist, dann liegt der Vergleich mit einem
Kraftsportler nahe, der Alltagstätigkeiten mit seiner spezifisch
ausgebildeten Muskulatur angeht und wohl ein ums andere Mal mit
größerer Leichtigkeit zu bewältigen vermag, ohne
allerdings zwangsläufig ein besserer Handwerker sein zu müssen.
Für den professionellen Musikerstand kann man vermuten, dass
die gefundene hirninterne Kooperation sich auch einmal bei anderen
Gelegenheiten zeigt, ohne bei spezifischen differenzierten Anforderungen
unbedingt zu Leistungssteigerungen führen zu müssen.
Schließlich zeigten sich auch unterschiedliche Entladungsmuster
für verschiedene musikalische Betätigungen – für
das Hören ein anderes als für das Komponieren (Petsche,
1997, S. 91) – und sogar auch für verschiedene musikalische
Niveaus: Für die Stufe der „figuralen Repräsentation“
von Musik, wo man etwa Rhythmen und Akkorde als Folge einzelner
körperlicher Bewegungen speichert, ergab sich ein anderes Muster
als für die Stufe der „formalen Repräsentation“,
wo Bewegungsfolgen automatisiert und Strukturen wie Akkorde und
Melodien in ihrer Klanglichkeit vorstellbar sind (Altenmüller,
Gruhn, Parlitz, 1997).
So legt auch die Hirnforschung nahe sehr genau zu unterscheiden,
welche Art von musikalischer Aktivität jeweils für eine
behauptete Transferwirkung herangezogen wurde. Daneben aber zeigt
sie sowohl die Eigenständigkeit musikalischen Denkens als auch
dessen Verbindung zu anderen Tätigkeiten, die sich in gemeinsamen
Erregungsarealen in beiden Gehirnhälften manifestiert.
Transfer versus Eigenwert?
Welche Einschätzung scheint vor dem Hintergrund all dieser
Überlegungen im Streit um Transfer und Eigenwert der Musik
angemessen? Die Fragestellung erinnert an die alte Polarität
von „formaler“ und „materialer“ Bildung.
Die Entgegensetzung dieser Begriffe wird heute häufig als obsolet
betrachtet. Hentig fragt hinsichtlich der formalen Bildung: „Ist
hierzu nicht immer ein Gegenstand nötig und wäre dieser
etwa beliebig [...]?“ (1999, S. 58). Möchte man andererseits
eine Materie als wichtig und bildend deklarieren, ohne dass sie
eine über die konkrete Situation des Erlernens hinausreichende
Relevanz besäße? Außerdem schwingt für Benner
(1996) in den Begriffen des Formalen und Materialen jeweils ein
affirmatives Moment mit. Auf Musik übertragen läge dieses
Moment – formal – in der Zurichtung von Musikunterricht
auf gesellschaftlich verwertbare so genannte „Schlüsselkompetenzen“
und – material – in dem Willen zur unbedingten Festigung
und Konservierung der überlieferten Musikkultur.
Musik und die Beschäftigung mit ihr besitzen mithin selbstverständlich
einen Eigenwert, der vor sachfremder Verzweckung geschützt
werden muss. Genauso selbstverständlich aber steht Musik in
engem Zusammenhang zu vielen anderen Lebensbereichen, die sie mit
der ihr eigenen Seinsweise befruchten kann. Und schließlich
kann man beim Musiklernen selbstverständlich eine Vielzahl
von Schemata erwerben, die sich auch in anderen Zusammenhängen
als brauchbar erweisen können. Dieser Transfer ergibt sich
allerdings nicht von selbst, ihn muss immer das konkrete Individuum
leisten. In Abhängigkeit von Biographie, sozialem Umfeld und
Disposition werden wohl die Schülerinnen und Schüler eines
Instrumentallehrers oder einer Gesanglehrerin auf ganz unterschiedliche
Weise von dem Unterricht bei der gleichen Lehrperson geprägt.