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nmz-archiv
nmz 2003/02 | Seite 8
52. Jahrgang | Februar
Kulturpolitik
Das verkümmerte Standbein will trainiert sein
100 Jahre Deutscher Musikrat – eine traumhafte Perspektive
· Von Christian Höppner
Da wächst und gedeiht fast fünfzig Jahre lang die größte
nationale Bürgerbewegung im kulturellen Bereich zu einem kapitalen
Netzwerk fachpolitischer Kompetenz, um sich nun – dem Trend
der Zeit folgend – im Jubiläumsjahr seines fünfzigjährigen
Bestehens in einem Insolvenzverfahren wieder zu finden. Aus dem
babylonischen Sprachengewirr der Ursachenanalyse sind vereinzelt
Stimmen zu vernehmen, die unter der Oberfläche der wirtschaftlichen
Schieflage nach tiefer liegenden Gründen für diese desaströse
Situation graben. Dabei wird mehr und mehr deutlich, dass die wirtschaftlichen
Schwierigkeiten nur auf dem Humus einer sich ausweitenden Sinnkrise
der Musikratsarbeit dieses Ausmaß annehmen konnten. Die Pipelines
im musikpolitischen Bereich sind in den letzten Jahren verödet
beziehungsweise verkalkt, weil statt Musikpolitik allenfalls Fachpolitik
betrieben wurde und der Dachverband des deutschen Musiklebens den
Häutungsprozess von der Bonner zur Berliner Republik nicht
vollzogen hat.
Christian Höppner.
Foto: M. Hufner
Natürlich wird in dieser Krise die Schuldfrage als erste gestellt
und als erste beantwortet. Nun wird die Liste der „Sündenböcke“
aus mehr oder weniger berufenen Mündern lang und länger
und es stellt sich die Frage, wann denn diese „Verschuldungsphase“
eingesetzt hat – etwa bei Andreas Eckardt, der als graue Eminenz
mit geräuschloser Effizienz die Bonner Klaviatur bediente,
oder bei Franz Müller-Heuser, der in der Bilanz seiner gesamten
Amtszeit viele schöne Erfolge für die Musikratsarbeit
verbuchen konnte und sich gerade in schwierigen Zeiten mit ungeheurem
Engagement bis zuletzt seiner Verantwortung gestellt hat? Oder gar
bei den Mitgliedern, die in den zweijährlich stattfindenden
Generalversammlungen für satte Mehrheiten der jeweiligen Musikratspolitik
sorgten – zuletzt vor zwei Jahren mit einer nicht nachvollziehbaren
Entlastung des Präsidiums?
Diese Diskussion führt in die Sackgasse, weil sie den Blick
auf die Bedürfnisse und Notwendigkeiten gesellschaftlicher
Entwicklungen und den daraus folgenden Aufgaben für den Deutschen
Musikrat verstellt. Hieraus aber ergeben sich die Perspektiven für
die weitere Musikratsarbeit:
1) Musikpolitik ist Gesellschaftspolitik
Die Keimzelle bürgerschaftlichen Engagements ist der Wunsch
nach Teilhabe und Mitwirkung an der Entwicklung unserer Gesellschaft.
Auf dieser Grundlage entwickelt sich der Handlungsrahmen für
die Musikratsarbeit, der von diesen folgenden drei Grundfragen bestimmt
wird:
a) was ist: Ist-Analyse des gesellschaftlichen Umfeldes. b) was könnte sein: Prognose gesellschaftlicher Entwicklungen. c) was sollte sein: Welche gesellschaftlichen Aufgaben
wird das Musikleben beispielsweise in zehn Jahren haben?
Aus diesen Koordinaten entsteht im Idealfall ein permanenter Soll-Ist-Vergleich,
der in die strategische und operative Arbeit einfließt. Erst
jetzt entscheidet sich, was musikpolitisch und was fachpolitisch
zu bewegen ist.
Dieser Ansatz, die Arbeit des Musikrates durch die Brille der gesellschaftlichen
Verantwortung und Wirkung zu betrachten, stellt einen Paradigmenwechsel
gegenüber einer überwiegend fachpolitisch geprägten
Arbeit dar und signalisiert nach innen und außen: Wir mischen
uns als Bürger dieses Landes in alle Themenfelder der gesellschaftlichen
Diskussion ein, die unmittelbar oder mittelbar mit Bildung und Kultur
in einer Beziehung stehen.
Der Deutsche Musikrat ist kein Selbstzweck, auch wenn die Nabelschau
der vergangenen Wochen und Monate diesen Eindruck erwecken konnte,
sondern bezieht seine Existenzberechtigung aus dieser gesellschaftlichen
Verantwortung.
Musikpolitik bedeutet in diesem Zusammenhang Beeinflussung der
öffentlichen Meinungsbildung und Beratung der Politik.
2) Musikpolitik ist die erste Aufgabe des Deutschen Musikrates
Die Arbeit des Deutschen Musikrates steht seit vielen Jahren auf
einem Bein – den Projekten. Das zweite Standbein, die musikpolitische
Arbeit, hat der Musikrat seit geraumer Zeit mehr und mehr eingezogen.
Dadurch ist die Muskulatur derart verkümmert, dass dieses Bein
besonders intensiv trainiert werden muss, damit es wieder zu einem
gleichberechtigten Standbein erwachsen kann. Es wird viel Zeit und
gemeinsame Anstrengungen kosten, das Beziehungsgeflecht einer offenen
und vertrauensvollen Kommunikation mit den gestaltenden Kräften
in Politik, Wirtschaft, Medien und anderen gesellschaftlichen Gruppen
im Sinne einer Partnerschaft auf Augenhöhe aufzubauen. Hierzu
bedarf es der Übereinstimmung in der Mitgliedschaft, dass die
musikpolitischen Aktivitäten des Deutschen Musikrates besonders
intensiv zu betreiben sind – nicht zu Lasten der Projekte,
sondern auch und gerade zum Erhalt und der Weiterentwicklung der
Projekte.
Die Projekte sind ein wesentlicher Teil des Wurzelwerkes gesellschaftlicher
Verankerung des Musikrats und Impulsgeber für das Musikleben.
Darüber hinaus sind sie ein ideales Medium musikpolitischer
Botschaften, um die uns viele andere Verbände beneiden –
nur was nutzen die schönsten Projekte, wenn die Rahmenbedingungen
nicht mehr stimmen?
3) Es gibt viel zu tun – der Themenberg wächst
Die Rahmenbedingungen für Bildung und Kultur haben sich weiter
verschlechtert, was wir nicht erst seit der letzten PISA-Studie
wissen. Die immer noch beispiellose Dichte und Vielfalt einer föderalistisch
geprägten Infrastruktur im Bildungs- und Kulturbereich ist
einem wachsenden Erosionsprozess ausgesetzt, der sich nicht nur
mit den ökonomischen Schwierigkeiten von Bund, Ländern
und Gemeinden begründen lässt. Begleitet wird diese Entwicklung
von einer Diskrepanz zwischen Ankündigen und Handeln. Der Politiker,
der das, was er sonntags verkündet, montags umsetzt, wird mehr
und mehr zu einer Utopie.
Die aktuellen Themen wie etwa:
die Auswirkungen und Konsequenzen des Tarifabschlusses auf
die öffentlich finanzierten Kultureinrichtungen
Vernetzung von Bildungs- und Kultureinrichtungen (nicht nur
vor dem Hintergrund der Einführung der Ganztagsschule) sollten
genauso vom Musikrat begleitet werden wie etwa die Themenfelder.
auswärtige Kulturpolitik (mit einer Verbindungsstelle,
die beim Musikrat angesiedelt sein muss)
Europäische Bildungs- und Kulturpolitik
soziale Rahmenbedingungen für die Kulturschaffenden
Konsequenzen aus dem sich verändernden Rezeptionsverhalten
(Stichwort: Globalisierung der Klangästhetik)
Positionierung zeitgenössischer Ausdrucksformen
Kulturelle Identität im interkulturellen Dialog
Der Musikrat ist vor allem dort gefragt, wo es um ordnungspolitische
und gesellschaftliche Themen von gesamtstaatlicher Bedeutung geht,
die Einfluss auf unsere Themenfelder haben. Dabei kann auch er sich
in der kommentierenden Begleitung politischer Entscheidungsprozesse
des neu geschaffenen Instruments der Kulturverträglichkeitsprüfung
bedienen. Es gibt viel zu tun…
4) Eile und nicht Weile – dem Musikleben eine Stimme geben
Das Tempo gesellschaftlicher Veränderungen und die Fülle
der Themen schreien nach einem Sprachrohr für das Musikleben.
Damit erhöht sich der Druck auf den Deutschen Musikrat, schnellstmöglich
seine Sprachfähigkeit wieder zu erlangen. Die Notwendigkeit,
schon gestern Stellung zu Themen von heute und morgen zu beziehen,
bedingt einen handlungsfähigen Musikrat – so schnell
als möglich. So wie sich das Wasser immer einen Weg sucht,
wird der breite Mitgliederstrom des Deutschen Musikrates sich ein
neues Flussbett bahnen, wenn die Staumauern weiter hochgezogen werden.
Jetzt gilt es mit dem Blick für das Ganze und der Erkenntnis,
dass der Deutsche Musikrat sich nicht gerade auf dem Höhepunkt
seiner politischen Schlagkraft befindet, das Bewusstsein für
das aktuell Erreichbare zu schaffen. Dabei dürfen wir allerdings
nicht dem sich abzeichnenden Paradigmenwechsel gegenüber der
bisherigen Zuwendungspraxis, Steuergelder für die Erfüllung
der satzungsgemäßen Aufgaben zuzuwenden, Vorschub leisten,
indem der Staat künftig mit Sitz, Stimme und Vetorecht in den
steuernden Gremien vertreten sein möchte. Deshalb liegt die
Reißleine konsensualer Vereinbarungen auf der Ebene: wirtschaftliche
Transparenz – unbedingt; die inhaltliche Steuerung muss beim
Musikrat verbleiben.
5) Die Satzungsreform ersetzt keine Strategie- und Strukturdebatte
Die seltene Chance für den Deutschen Musikrat, das Koordinatensystem
seines Beziehungsgeflechtes neu auszurichten, einen neuen Grundriss
zu zeichnen und dabei wirklich neu zu schauen und neu zu bauen,
hat er jetzt und nur jetzt für einen kurzen Zeitraum seiner
Existenzkrise. Dabei sollten sinnvollerweise getreu dem Motto „Neues
wagen– Bewährtes bewahren“ die tragenden Wände
mit einbezogen werden. Das reformierte Insolvenzrecht ist ja glücklicherweise
primär auf den Erhalt vorhandener Potentiale angelegt –
nicht auf deren Abwicklung. Leider ist nun vor allem im Hinblick
auf die Gläubigerversammlung die Zeit zu kurz, die Dinge in
einer sinnvollen Reihenfolge abzuarbeiten.
Erst die strategische Neuausrichtung, dann die Debatte um die
innere Struktur des Musikrates und daraus folgend die Satzungsdebatte.
Der Satzungsentwurf, den die Generalversammlung zur Abstimmung
vorgelegt bekommt, stammt von einer Einzelperson, die zurzeit das
Sagen im Musikrat hat. Sie ist mit niemandem abgestimmt und schon
gar kein Entwurf der Strukturkommission. Dieser Entwurf erfüllt
die Kriterien der dringend notwendigen Trennung der strategischen
und operativen Ebene durch klare Kompetenzzuweisungen und Verantwortlichkeiten,
das Prinzip der Staatsferne und den Grundsatz der Einfachheit.
Er erfüllt nicht die gebotene Zurückhaltung in den satzungsmäßigen
Strukturfragen von strategischer Bedeutung und würde in dieser
Form eine schwere Hypothek für die politische Arbeit des Musikrates
bedeuten. Die offenbarte Beratungsresistenz (wozu hat eigentlich
die Strukturkommission zweimal getagt?) zeigt sich besonders deutlich
in den folgenden Punkten:
a) Abschaffung des Generalsekretärs: Der Generalsekretär
ist der Brückenkopf zwischen allen Bereichen und der hauptamtliche
Exponent der strategischen Arbeit des Präsidiums. Er ist
ausführendes Organ und im Verbund mit der Präsidentin/dem
Präsidenten in einem fein austarierten Bandenspiel Handelnder
im politischen Tagesgeschäft. b) Rückzug nach Bonn: Politisch wirksame Arbeit erfordert
(glücklicherweise) immer noch die physikalische Präsenz
der Handelnden vor Ort. Gerade die nicht ritualisierten Begegnungen
schaffen oft den Raum, Erkenntnis- und Problembewusstsein für
politisches Handeln zu schaffen. In Berlin spielt die Musik; deshalb
muss der Deutsche Musikrat so schnell als möglich endlich
nach Berlin umziehen, wenn er mit dem Vorsatz, musikpolitisch
zu agieren, Ernst machen will. c) die Wahl der Präsidentin/des Präsidenten und
Vizepräsidenten durch das gewählte Präsidium offenbart
ein merkwürdiges Demokratieverständnis und schafft vor
allem unnötige Abhängigkeiten für die Führungspositionen.
Selbstverständlich muss die Generalversammlung als höchstes
Organ alle Positionen auf dieser Steuerungsebene auf dem Wege
der Direktwahl besetzen.
Darüber hinaus bleiben weitere Fragen offen wie zum Beispiel
die Frage nach einer geeigneten Struktur für ein effektiv und
effizient arbeitendes Präsidium, das in der Lage ist schnell
auf aktuelle Entwicklungen zu reagieren; die Frage, mit welcher
Gewichtung sich die Mitgliedschaftsstruktur im Präsidium (Stichwort:
sechs Sitze für die Landesmusikräte) widerspiegeln soll;
oder die Frage des geplanten Statuswechsels von stimmberechtigten
Einzelmitgliedern zu nicht stimmberechtigten Ehrenmitgliedern. Hier
wird die nächste Generalversammlung sicherlich weise Entscheidungen
treffen.
6) Die Aussichten für die nächsten Wochen
Alles ist offen – wie in einem Wetterbericht üblich,
reicht die Bandbreite der möglichen Wetterlagen von Sturmtiefs
bis zu einer am Horizont sichtbaren Schönwetterlage. Entscheidend
wird das Signal der nächsten Generalversammlung sein, die grundlegende
Reformbereitschaft mit einer Satzungs- und Strukturreform zu dokumentieren
und gemeinsam mit der Politik einen schnellen Weg aus der Krise
zu gehen. Ein Verbleib des Patienten Deutscher Musikrat auf der
Intensivstation und der damit verbundene Beschluss lebensverlängernder
Maßnahmen ist weder dem deutschen Musikleben und unseren Mitgliedern,
noch der Politik zuzumuten.
Christian Höppner ist Sprecher für die
Sektion Musik im Deutschen Kulturrat und Präsident des Landesmusikrates
Berlin.