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nmz-archiv
nmz 2003/02 | Seite 60
52. Jahrgang | Februar
Kulturpolitik
Kunst, Kultur und der gesellschaftliche Gebrauchswert
Die neue musikzeitung im Gespräch mit Heinrich Bleicher-Nagelsmann,
Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di
Heinrich Bleicher-Nagelsmann ist seit Mitte 2002 Bereichsleiter
für Kunst und Kultur in der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft
ver.di. nmz-Herausgeber Theo Geißler traf sich mit ihm im
neuen Berliner Büro zum Gespräch über Gewerkschaftshistorie
und zukünftige Aufgabengebiete der in ver.di organisierten
Künstler und Musiker.
neue musikzeitung: Im Gegensatz zu heute gab es in den 60er-,
70er- und auch 80er-Jahren eine ausgesprochene Gewerkschaftskultur.
Woher kam die?
Heinrich Bleicher-Nagelsmann: Die Gewerkschaften haben
sich damals als Organisationen von Arbeiterinnen und Arbeitern,
aber auch von Kunst- und Kulturschaffenden in eine gesamtgesellschaftliche
Entwicklung eingefügt. Die ausgehenden 60er und beginnenden
70er Jahre waren geprägt von einer Zeit, die – in den
Worten Willy Brandts – „mehr Demokratie wagen“
versucht hat, überkommene Strukturen aufzusprengen. Es ging
auch darum, von der alten Trennung – Hochkultur für wenige
und Massenkultur für viele wegzukommen. Es wurde Werte diskutiert,
etwa die Frage: nach welchen Grundsätzen wollen wir unser Leben
gestalten und was sind die Leitgedanken, an denen wir das individuelle
Leben, aber auch das gesellschaftliche Leben ausrichten?
nmz: Damals begann es, dass sich die Künstler gewerkschaftlich
zusammentaten. Zuerst in kleineren Gruppen, dann gab es irgendwann
den ersten Fusionsprozess. Hast du den schon mitbekommen, die Überführung
der damaligen GDMK in den Gewerkschaftsverbund?
Bleicher-Nagelsmann: Ich war am Prozess des Zusammenschlusses
intensiv beteiligt. Die GDMK war wie zum Beispiel auch der Deutsche
Musikerverband Mitglied der Gewerkschaft Kunst. Von der GDMK am
deutlichsten vorgetragen war der Anspruch, mit Arbeiterinnen und
Angestellten zusammenzugehen, weil man erkannt hatte, dass sich
die Durchsetzung von Arbeitsbedingungen und Interessen in einer
großen und starken Organisation eher realisieren lässt,
als in einem kleinen, vielleicht feinen Berufsverband. Dieses war
ein erfolgversprechendes Konzept, dann aber auch in der Realisierung
der Industriegewerkschaft Medien ein gelungener Prozess, wobei man
darauf hinweisen muss, dass der Aufruf zum Zusammenschluss von Künstlerinnen
und Künstlern, von Schriftstellern, Druckern, Setzern, von
den Schriftstellern gekommen ist – seinerzeit von Martin Walser
sehr prononciert formuliert und vom Schriftstellerverband mit Günter
Grass, Dieter Lattmann sehr deutlich vorgetragen und unterstützt.
nmz: Schauen wir uns die Entwicklung der IG Medien in den
80er-, 90er- Jahren an, wo waren da die gewerkschaftlichen Highlights,
und wo vielleicht die Klippen, die ihr nicht überwunden habt?
Bleicher-Nagelsmann: Man muss hier mindestens in zwei Richtungen
denken. Zum einen innergewerkschaftlich: Die sehr aufmüpfigen
Künstlerinnen und Künstler haben es trotz kleiner Zahl
immer wieder geschafft, sich auch Gehör zu verschaffen und
sind in der Gesellschaft und auch in der Organisation unbequem geblieben.
Die erfolgreiche über Fachgruppen organisierte Vielfalt in
der Einheit hat mit dazu geführt, dass dieses Organisationsprinzip
der IG Medien, das Fachgruppen Autonomie in ihren Bereichen zusichert
und verbrieft, von ver.di als Strukturprinzip übernommen wurde.
Was die gesellschaftlichen aber auch kultur- und medienpolitischen
Auseinandersetzungen nach außen anbelangt, ist die IG Medien
durchaus erfolgreich gewesen, zum Beispiel was die Auseinandersetzung
um die Arbeitszeitfrage betrifft. So war Arbeitszeitverkürzung
bis hin zur 35-Stunden-Woche einerseits ein Projekt, das versucht
hat, der Massenarbeitslosigkeit mit gewerkschaftlichen Mitteln Rechnung
zu tragen, was aber auch dazu diente, mehr Raum für Leben und
damit für Lebensqualität zu schaffen und damit Zeit für
kulturelle Betätigung und Teilhabe am kulturellen Leben. Im
Sektor der Kunst und Kultur ist es leider nicht immer gelungen,
Forderungen die sich die IG Medien auf die Fahnen geschrieben hatte,
in ausreichendem Maße durchzusetzen. So wurde – von
den Schriftstellern angestoßen – der „Goethe-Groschen“
diskutiert: was Künstlerinnen und Künstler geschaffen
haben, soll auch lebenden Künstlerinnen und Künstlern,
und nicht nur den Verwertern zugute kommen. Nach 70 Jahren endet
das Urheberrecht und die Werke künstlerischer Art werden gemeinfrei.
Bisher haben davon nur die Verwerter, die Goethe wieder aufgelegt
haben oder die Mozart verbreitet haben, davon profitiert, und die
Forderung der IG Medien war es, dass hiervon auch die lebenden Künstlerinnen
und Künstler profitieren sollen. Dies ist ein Projekt, das
sich ver.di erneut auf die Fahnen geschrieben hat.
nmz: Konnte man zum Beispiel für die Musikschullehrer
Verbesserungen erreichen?
Bleicher-Nagelsmann: Es ist noch im Gründungsprozess
der IG Medien gelungen, für Musikschullehrer Verbesserungen
durchzusetzen, zum Beispiel die Anerkennung gleicher Rechte von
Teilzeitbeschäftigten wie für Vollzeitbeschäftigte.
Eine weitere Forderung ging hin zu Landesmusikschulgesetzen, die
eine Drittelfinanzierung sicherstellen: ein Drittel Beiträge
der Eltern, ein Drittel Beiträge der Kommunen, ein Drittel
Beiträge durch das Land. Derartige Regelungen sind nur in Ausnahmefällen
realisiert worden. Meistens ging man den Weg über Richtlinien.
Erst in jüngster Zeit konnte jedoch in Brandenburg ein Musikschulgesetz
verankert werden, das diesen Forderungen zwar noch nicht vollkommen
Rechnung trägt, aber ein nicht unwesentlicher Schritt auf dem
Weg dahin ist.
nmz: Bei ver.di sind vom Busfahrer, von der Sekretärin
bis zum Redakteur, Schriftsteller und Musikschullehrer eine noch
viel größere Spannweite von Berufsgruppen vereinigt als
dies in der früheren IG Medien bereits der Fall war. Kann das
Schlagwort Solidarität heute noch die Basis sein, auf der so
weit auseinanderstehende Berufsgruppen einen gemeinsamen Boden finden?
Bleicher-Nagelsmann: Es ist nicht einfach, Solidarität
in einer so vielfältigen Organisation orientiert an den spezifischen
Bedürfnissen der jeweils einzelnen Gruppen aber übergreifenden
Interessen zu organisieren. Solidarität ist nichts, was verordnet
werden kann – sondern etwas was sich im Arbeits- und Lernprozess
herstellen und herausbilden muss.
Wenn wir als aktuelles Beispiel die Tarifrunde im öffentlichen
Dienst nehmen, dann können wir feststellen, dass diese eben
nicht nur die Müllmänner, die Flughafenbediensteten, die
Bürobeschäftigten betrifft, sondern auch die Beschäftigten
in kommunalen Einrichtungen wie Theatern und Musikschulen. Hier
wird deutlich – einerseits sehr unmittelbar über den
Tarifvertrag, aber auch durch die Betroffenheit in ihren Handlungsmöglichkeiten,
dass man sich gemeinsam dafür einsetzen muss, bessere Arbeits-
und Lebensbedingungen zu haben.
nmz: Gesellschaftsgestalterische Verantwortung zu übernehmen,
das ist ja auch die Aufgabe deiner Abteilung. Auch Du selbst bist
schon lange auch nach außen hin vernetzt: etwa in Deiner Aufgabe
als stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Kulturrates. ver.di
will sich auch in anderen Fachverbänden differenzierter engagieren,
beispielsweise in einem neu entstehenden deutschen Musikrat. Kann
man dieses Netzwerk genauer definieren?
Bleicher-Nagelsmann: Die künstlerischen Fachgruppen,
die sich in ver.di wiederfinden, stehen natürlich nicht isoliert
unter dem Gewerkschaftsdach. Es gibt vielfältige Verknüpfungen
hin in den kulturellen Bereich und mit anderen künstlerischen
Organisationen. In meiner Person kommt dies verschiedentlich zum
Ausdruck. Ich arbeite im Kulturrat als Gewerkschaftsvertreter. Es
liegt mir aber auch daran, deutlich zu machen, dass wir mit anderen
Organisationen eine künstlerische und kulturpolitische Debatte
führen müssen.
Als ver.di haben wir zum Beispiel mit der Deutschen Orchestervereinigung
(DOV) eine Kooperation, in der es einerseits um die berufliche Interessenvertretung
geht, andererseits aber auch darum deutlich zu machen, warum Kunst
und Kultur in dieser Republik geschützt werden muss. Stichwort
ist die Finanzdiskussion für kulturelle Einrichtungen.
Die künstlerischen Fachgruppen von ver.di finden sich auch
wieder in den einzelnen Sektionen des deutschen Kulturrates und
in Zusammenarbeit mit den anderen dort zusammengeschlossenen Organisationen
versuchen wir, Kunst- und Kulturpolitik in der Bundesrepublik nicht
nur eine Bedeutung zu geben, sondern die notwendigen Voraussetzungen
dafür zu schaffen. Einerseits über eine ordnungspolitische
Diskussion, die sich auf gesetzliche Regelungen bezieht, andererseits
aber auch über eine inhaltliche Diskussion.
nmz: Welche ordnungspolitischen Themen liegen ver.di besonders
am Herzen?
Bleicher-Nagelsmann: Es geht darum, die Bedingungen für
Kunst und Kultur in der Bundesrepublik zu verbessern. Als es etwa
um die Änderung des Künstlersozialgesetzes ging, haben
wir gemeinsam – trotz aller Unterschiedlichkeit zwischen Künstlern
und Verwertern, Produzenten und Vermittlern – es geschafft,
Verschlechterungen abzuwehren und auf Notwendigkeiten aufmerksam
zu machen. Unterschiedlichen Interessen im Kulturrat haben sich
bei der Auseinandersetzung um das Urhebervertragsrecht deutlich
gezeigt. Da haben wir in und mit ver.di in sehr prononciert vorgetragenen
Auseinandersetzungen und Diskussionen für das Urhebervertragsrecht
gestritten. Und wir waren dabei erfolgreich.
nmz: Wenn man über Kultur und Bildung in unserer Gesellschaft
spricht, dann spricht man auch immer über eine Verwaltung des
Mangels. Steht wirklich zu wenig Geld zur Verfügung?
Bleicher-Nagelsmann: Es geht uns darum, eine Diskussion
zu entwickeln, welchen Stellenwert Kunst und Kultur haben, das heißt
welchen gesellschaftlichen Mehrwert die Künste für die
Gesellschaft ausmachen. Es ist offensichtlich, dass ein Verständnis,
was sich allein am Tauschwert orientiert, hier nicht ausreicht.
Wir müssen hier wieder stärker zu einer Gebrauchswertorientierung
und zu einem Gebrauchswertdenken kommen.
nmz: Sind die Künstler in den letzten Jahren und Jahrzehnten
nicht ein bisschen zu sehr aufgepäppelt worden?
Bleicher-Nagelsmann: Dass Künstler in dieser Republik
zu gut gefüttert würden, gehört ins Reich der Legende.
Man muss sich nur die Zahlen der Künstlersozialkasse anschaulich
machen, um festzustellen, dass viele Künstler unter dem Existenzminimum
leben, dass sie nicht einmal das durchschnittliche Einkommen eines
Arbeiters oder Angestellten haben.
nmz: Müssen nicht die Kultureinrichtungen, die Theater
etwa, auch einen deutlichen Schritt auf eine durch das mediale Verhalten
veränderte Publikumserfahrung reagieren?
Bleicher-Nagelsmann: Was sehr oft vernachlässigt wird,
ist die gesamte kleinere Theaterszene, sind die freien Theater,
und das Dilemma ist, dass bei diesen am ehesten der Hahn zugedreht
wird. Hier muss gegengesteuert werden. Aber natürlich müssen
sich auch Theater sowie andere Kultureinrichtungen, Museen und Bibliotheken
diesem veränderten Rezeptionsverhalten stellen.
Es geht vor allem auch darum – Stichwort Musikschulen –
dass ein Musikunterricht an allen Schulen gewährleistet bleibt.
Wir diskutieren ja Modelle, wo Musikschulen die gefährdet sind,
auch zur Gewährleistung des musischen Unterrichts an allgemeinbildenden
Schulen einen Beitrag leisten können.
nmz: Was wird die Kulturabteilung von ver.di tun, um diese
Ziele in den nächsten fünf bis zehn Jahren zu befördern?
Bleicher-Nagelsmann: Es wäre ein falsches Verständnis,
von einer „Kommandozentrale“ aus den Kulturbetrieb beeinflussen
zu können. Es geht uns darum, den Diskussionsprozess, der in
ver.di auf allen Ebenen stattfindet, gemeinsam mit den anderen Verbänden,
mit denen wir ja ein weites Netzwerk bilden, zu verbreiten und so
weit lautstark bemerkbar zu machen, dass auch die Politiker, die
in Sonntagsreden immer von Kultur sprechen, sich dieses im Alltag
und in ihrer täglichen Arbeit zu Herzen nehmen.