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nmz-archiv
nmz 2003/02 | Seite 1
52. Jahrgang | Februar
Leitartikel
Wie man sich fit macht für die Gegenwart
Neue Ausbildungsstrukturen an deutschen Musikhochschulen ·
Von Andreas Kolb
Comedy-Star Anke Engelke dirigiert in einer TV-Show ein Jugendorchester.
Das Münchner Rundfunkorchester arbeitet unter Anleitung der
amerikanischen Geigerin Monique Mead für ein Jugendprojekt
mit dem FC Bayern Junior Team zusammen. Während des Lucerne
Festivals 2002 trat DJ Spooky live mit einem Remix von Pierre Boulez‘
„pli selon pli” vors Publikum. Erst kürzlich lud
Dirigent Christian von Borries acht DJs und Elektronikmusiker dazu
ein, Claude Debussys „Prélude à l’Après-
midi d’un Faune” nicht für den Konzertsaal, sondern
für die After Work Party im Clubambiente neu zu interpretieren.
Dies sind nur einige Beispiele für Events und Experimente,
wie sie inzwischen im Konzertbetrieb gang und gäbe sind. Man
sollte sie nicht nur als Moden abtun, denn es sind Symptome für
einen tiefer gehenden Wandel. Das klassische Bild des Musikers,
der aufs Podium geht, im Kopf ein Repertoire mit Ewigkeitswert,
oder des Orchestermusikers, der mit 26 sein Probespiel absolviert
und bis zur Pensionierung im Orchester bleibt, das sind nur noch
zwei Möglichkeiten unter vielen.
Der Wandel ist offensichtlich: Gab es 1992 noch 168 Kulturorchester,
so schrumpfte die Anzahl innerhalb von zehn Jahren um etwa 17 Prozent
auf 139. Das blieb nicht ohne Folgen. Gab es 1992 etwa 12.000 Orchester-Planstellen,
so waren es 2002 gerade noch 10.000. Das entspricht den oben genannten
17 Prozent minus. In den Jahren von 1998 bis 2002 gab es 848 freie
Planstellen, denen im selben Zeitraum 7.500 Hochschulabgänger
gegenüber standen. Was machen die zirka 6.652 Instrumentalisten,
die keine Planstelle erspielen konnten? Auch wenn sie nicht in „Orchester-Pools“
outgesourct sind oder als Springer „Personalspitzen“
bei Mahler und Bruckner-Aufführungen abbauen, macht dieser
„Rest“ oftmals sehr Vernünftiges. Junge Absolventen
gründen Ensembles für Neue oder Alte Musik, sie rufen
Kammermusikensembles oder Salonorchester ins Leben, sie jazzen,
sie unterrichten oder sie werden Radioredakteure, Kulturmanager
oder Musikvermittler, Filmmusikkomponisten und Sounddesigner. Kurz:
sie bereichern unser Kulturleben.
Der musikalische Gelegenheitsauftritt, früher stillschweigend
akzeptiertes Zubrot gut situierter Orchestermusiker, ist für
viele freiberuflich agierende Künstler zur Haupteinnahmequelle
avanciert. Noch ein paar Zahlen: etwa 500 Pianisten drängen
Jahr für Jahr neu aufs Konzertpodium. 20 verkrafte der Markt,
sagt man. Was geschieht mit den restlichen 480? Endlich sind wir
beim Thema: der Ausbildung von Musikern. Ein Musikhochschulstudium
ist – im Gegensatz zu vielen universitären Studiengängen
– schließlich noch immer eine Berufsausbildung. Auf
der einen Seite gibt es die„Überproduktion“ junger
Musiker mit Konzertdiplom, auf der anderen Seite herrscht Mangel
an ausgebildeten Schulmusikern (zumindest an gehaltenen Musikstunden).
Klassik und E-Musik sind an allgemeinbildenden Schulen aus dem
Bildungskanon herausgefallen, die musikalische Sozialisation und
Ausbildung findet außerschulisch statt. Hier ist natürlich
die Musikschule gefragt, bei der die Nachfrage nach Unterricht allerdings
ungebrochen ist. Doch was ist mit denen, die kein Instrument erlernen?
Die Mehrheit der Jugendlichen kennt nur noch die „Curricula“
von MTV, VIVA und RTL 2. Kein Wunder, dass die Klassik als Konzertmusik
aus dem Bewusstsein einer ganzen Generation verschwunden ist.
Die Ausbildungsinstitute kennen die Probleme und sind aufgefordert,
sich wieder einmal neu zu legitimieren. Da kann die Rektorenkonferenz
vom Mai vergangenen Jahres als ein positives Beispiel herangezogen
werden. Die sieben Beschlüsse dieses Gremiums zeigen Reformwillen
und Anpassungsfähigkeit an geänderte gesellschaftliche
Rahmenbedingungen (Klaus-Ernst Behne geht in seinem Artikel „Quo
vadis Musikhochschule“ auf Seite 49 ausführlich darauf
ein). Deutschlands Musikhochschulen werden weiter internationale
Spitzeninstitute mit internationaler Ausstrahlung sein, doch sie
werden stärkere Akzente auf die künstlerisch-pädagogischen
Studiengänge legen, neue Bachelor- und Master-Studiengänge
anbieten. Und sie werden sicher noch selbstbewusster ihre Rolle
als städtische und regionale Kulturzentren wahrnehmen.
Doch nicht nur die Anpassung und Neuausrichtung der Institutionen
ist gefragt. Auf die Künstler selber kommt es an. Heute braucht
es Musiker, die kreativ auf neue Lebens- und Arbeitsumstände
reagieren können. Die den Mut zur Neuen Musik haben, die sich
nicht scheuen, Genregrenzen niederzureißen, die neue Veranstaltungsformen
entwickeln und erproben. Musiker, die ein Ensemble als GmbH gründen
oder im städtischen Orchester gemeinsam mit Schule, Musikschule
neue Musikvermittlungsformen suchen und probieren. Die dafür
nötigen „neuen“ Kompetenzen zu vermitteln, wird
immer stärker Aufgabe der Musikhochschulen werden müssen
– die ersten Schritte in diese Richtung sind bereits getan.
Andres Kolb
Information zu Bildungspolitik und Hochschule finden Sie im Dossier
„Musikhochschule”. Oder recherchieren Sie im Web-Archiv
der nmz. Allein unter dem Suchbegriff „Musikhochschule”
finden Sie dort 515 Artikel (Stichtag 25. Januar 2003) aus den
vergangenen fünf Jahren, geschrieben von Fachleuten aus Hochschule,
Fachpresse und natürlich von Musikern selbst.