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nmz-archiv
nmz 2003/02 | Seite 25
52. Jahrgang | Februar
Pädagogik
Geständnisse
eines Musikschulleiters a.D.
Musikschule und Streichinstrumente
Die ulkige Bemerkung meines Violoncelloschülers Frank-Michael,
mit der ich die letzte Folge abgeschlossen hatte, kann vielleicht
nur denjenigen erstaunen machen, der nicht aus eigener Erfahrung
weiß, welche Bedeutung die Streichinstrumente für die
Orchester- und Ensemblearbeit der Musikschule haben oder doch haben
sollten.
Als ich am 1. April 1966 zum ersten Mal in meinem Leben Lahr aufsuchte,
um mir die dortige Musikschule anzuschauen, erfuhr ich, dass diese
ein halbes Jahr zuvor von Musiklehrern der Lahrer Gymnasien einzig
und allein deswegen gegründet worden war, weil es zu jener
Zeit in dieser Stadt keine Lehrer für Streichinstrumente mehr
gab und als Folge davon auch nicht ein einziges Schulorchester.
Ich entschloss mich damals nur deswegen spontan, die Leitung der
Musikschule zu übernehmen, weil der Schule von Beginn an ein
wunderbarer Saal für Ensemblearbeit jeder Art zur Verfügung
stand. Der schöne „Pflugsaal“ wurde natürlich
auch weiterhin als Konzertsaal der Stadt genutzt. Dass ich von Anfang
an einen Schwerpunkt der Arbeit auf die Ausbildung von Streichern
legte, hatte weniger mit meiner persönlichen Situation als
Violoncellist und Violoncellolehrer zu tun, als vielmehr mit der
Erkenntnis, dass hier die Hauptverantwortung, aber auch die Stärke
der Musikschule liegt. Ein Rechenbeispiel möge dies verdeutlichen:
Für ein Sinfonieorchester, das diesen Namen verdient, benötigt
auch eine Musikschule zehn erste Violinen, zehn zweite Violinen,
acht Violen und acht Violoncelli. Berücksichtigt man, dass
auch der talentierteste Schüler mindestens fünf Jahre
intensiver Arbeit benötigt, um mit schönem Ton und einwandfreier
Intonation in einem Ensemble mitspielen zu können, lässt
sich leicht errechnen, wie hoch allein der quantitative Anteil der
Streicherschüler einer Musikschule sein muss, um diesem Anspruch
gerecht werden zu können. Und wer hätte wohl bessere Voraussetzungen
für diese Aufgabe als die Musikschule! Kann diese Aufgabe etwa
ein einzelner Lehrer leisten? Kann ein einzelner Lehrer das erforderliche
Angebot an Ensemblespiel wie Orchester und Kammermusik bereitstellen?
Kann ein einzelner Lehrer die Teamarbeit der Musikschule ersetzen?
Und drängt sich für die musikalische Ausbildung der Kinder
und Jugendlichen an der Musikschule diese Form des Musizierens und
der Zusammenarbeit nicht geradezu auf?
Es ist für Kinder, die in jungen Jahren ja noch kein Ohr und
keinen Sinn für harmonische Zusammenhänge haben, sehr
leicht und unproblematisch, schon mit fünf oder sechs Jahren
ein Streichinstrument zu erlernen. Das Streichinstrument, ganz besonders
die Violine, bietet wie kaum ein anderes Musikinstrument dem kleinen
Kind die Möglichkeit, seine persönlichen Empfindungen
und Gefühle auf das eigene Instrument und in das eigene Spiel
zu übertragen. Bei uns durfte jedes Kind selbstverständlich
erwarten, dass alle Lehrer der Musikschule an dieser langjährigen
persönlichen Entwicklung und Erfahrung des Kindes Anteil nahmen
und es vor schädlichen äußeren Einflüssen wie
unsinnigem Konkurrenzdenken, musikalischer Anspruchslosigkeit, Ungeduld
oder Gleichgültigkeit schützten. Und dann noch zusätzlich
zum individuellen Unterricht des Kindes dieses Musizieren mit anderen!
Es schärfte nicht nur die Ohren, sondern sensibilisierte auch
für die Gemeinschaft, für Toleranz, Anerkennung des Anderen
und Wohlwollen.
Deshalb waren unsere Schüler stets mehr als nur gute Spieler,
sie waren durchweg auch immer freundliche, hilfsbereite, engagierte
und wenig neidische Zeitgenossen. Ich denke gern und dankbar an
diese Zeit und unsere (meine) Schüler zurück! Vor einigen
Tagen fiel mir ein Programm aus alten Zeiten in die Hände,
das mich sehr nachdenklich gestimmt hat. Anlässlich der Hauptarbeitstagung
1971 des Landesverbandes der Jugendmusikschulen Baden-Württembergs
e.V. in Lahr spielte damals das Orchester der Musikschule Lahr außer
dem 3. Brandenburgischen Konzert von J. S. Bach, der Ouvertüre
zu „Iphigenie in Aulis“ von Ch. W. Gluck und den Rumänischen
Volkstänzen von B. Bartok auch die Kantate „Musica begleite
unser Leben“ für drei gleiche Stimmen und Orchester von
W. A. Mozart sowie die Sinfonia Es-Dur für Doppelorchester
von J. Ch. Bach. Die Orchester bei der Sinfonia waren mit insgesamt
19 ersten Violinen, 15 zweiten Violinen, 12 Violen, 14 Violoncelli,
2 Kontrabässen, 6 Flöten, 4 Oboen, 4 Klarinetten, 3 Hörnern,
3 Fagotten, 2 Trompeten und Pauken besetzt. Bei der Kantate sangen
drei Chöre mit jeweils 27 Sängerinnen und Sängern,
alles Instrumentalschüler, Klavier, Streicher, Bläser.
War dies das Geheimnis des Erfolgs – keine musikalische Ausbildung
ohne Singen? Ein Jahr später, im Frühjahr 1972, wurde
mit dem Orchester der Lahrer Musikschule als Basis das spätere
Landesjugendorchester Baden-Württemberg gegründet. Einen
ganz anderen Beitrag dazu leistete Friedrich Dilger, seinerzeit
Finanzbürgermeister in Lahr: Er gewährte dem damals noch
armen Landesverband der Musikschulen spontan ein zinsloses Darlehen
in Höhe von 5.000 Mark!