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nmz-archiv
nmz 2003/02 | Seite 40
52. Jahrgang | Februar
Jazz, Rock, Pop
Gegen den Strom
Vorsicht, Wackeldackel
Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft…
Es ist noch gar nicht so lange her, da waren alle völlig begeistert
von den asiatischen „Tigerstaaten“ an denen wir uns
alle ein Beispiel nehmen sollten, wie „Experten“ in
den ewig gleichlabernden Talk-Runden forderten. Die Musikbranche
dackelte hinterher und alles flog mit Scheckbuch zur MIDEM Asia.
Dann kam dort der Crash, ich traf einen Schallplattenfirmenbesitzer
in einer deutschen Großstadt und der sagte: „Asien?
War ich nie dafür! Spanien und Lateinamerika, das ist die große
Nummer.“ Dann ging es an die Börse. Die Musikbranche
(vor allem viele Kleine) dackelte mit, eine Firma ohne „AG“
im Namen war nun keine Firma mehr. Hinzu kam noch der www.-Hype
– tausende Start-ups konnten sich doch nicht irren und kündeten
von einer Geisteshaltung, die an das Comeback des legendären
Dackels mit dem Wackelkopf in den Autoablagen erinnert. Dieser Kopf
wackelt bei Bewegung auf dem Untergrund in alle Richtungen mit.
Nach diversen Downs jagt die Branche nun dem nächsten Phänomen
hinterher, allerdings nicht nur die Musikindustrie, mehr denn je
wird das ganze Land mit seinen Opportun-Opinion-Leadern von Megatrends
erfasst, ohne dass diese noch irgendwie Alternativen erkennen beziehungsweise
angemessen überprüfen. Das jeweils herausposaunte Nonplusultra
ist stets Dogma mit strengem Ausrufezeichen.
Berlin, Berlin: SONY und Universal sind schon da, der ECHO auch,
es folgen die Branchenverbände, die Werbung ist auch da, die
Frankfurter Buchmesse stellt die Standortfrage (klammheimlich nach
Berlin?) und auch die PopKomm. kann nach Wunsch der Berlin-Strategen
gar nicht schnell genug aus Köln abgezogen werden. Nichts gegen
die Hauptstadt, aber wer hat da Drogen ins Trinkwasser gekippt?
Warum wird allen Ernstes der kostbare Föderalismus im kulturellen
Sektor wenig still und noch weniger heimlich entsorgt? Wer hat ein
Interesse an der Verödung der Republik und einer künstlichen
und überhöhten „Wichtigkeit“ der Stadt an
der Spree? Deutschland ist auf dem schlechtesten Weg zu purer Langeweile.
Die PopKomm. ohne das Ringfest und die Kölsche Atmosphäre?
Gähn. Branchentreffen der Musikmacher bald nur noch in Berlin?
Doppel-Gähn. Als der unlängst verstorbene Ex-Präsident
von BMG Entertainment International, Rudi Gassner, noch in New York
weilte, schwärmte er in einem Interview Ende der neunziger
Jahre von einem Deutschland, „wo jeder an jedem Ort Popstar
werden kann“, er könne sich ein Label unter anderem in
Stuttgart, Frankfurt, München oder Hamburg aussuchen. Im Gegensatz
zu London/UK und New York/USA, wo der Nachwuchskünstler aus
allen Landesteilen anreisen müsse, zu Musikfirmen, deren Mitarbeiter
ständig zwischen den Firmen hin und her wechseln würden,
man müsse beim Jobwechsel ja nicht umziehen – Geschäftsgeheimnisse
hätte man daher dort schon längst nicht mehr.
Schöne neue Welt mit viel heißer Berliner Luft. Die
Musik wird durch und nur in Berlin besser? Der neue Superklüngel
aus Pop, Politik und Medien soll die Geschicke des Landes besser
lenken? Aus den Medien kommt bereits eine Antwort. Wenn in Deutschland
Sylvester ist, dann berichtet ntv hinterher nur über Berlin.
Dann feiert „Deutschland“ am Brandenburger Tor, einige
Eisschwimmer in Berliner Vororttümpeln feiern im Wasserloch,
die werden auch gezeigt. Den Fackellauf der Reit im Winkler Skilehrer,
den Sylvesterkarneval am Hamburger Hafen, die Kölsche Supersause
in der Altstadt und am Rhein – kein Reporter mehr. Sorry,
Kapazitäten dicht, wir können leider nur noch aus Berlin
berichten…