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nmz-archiv
nmz 2003/02 | Seite 16
52. Jahrgang | Februar
Portrait
Dem Ruf der Paradiesvögel lauschen
Das Leipziger Iturriaga Quartett auf Schatzsuche in abgelegenen
Repertoire-Gewässern
Zusammengezählt sind sie gerade mal etwas mehr als hundert
Jahre alt, die vier Streicher des Iturriaga Quartetts. Damit dürften
sie gegenwärtig eines der jüngsten Quartett-Ensembles
über- haupt sein. Zum Teil stecken sie sogar im Moment noch
im Hochschulprüfungsstress. Seit 1996 spielen sie zusammen
und haben sich in kurzer Zeit und trotz gleichzeitigem Studiums
zum Quartett mit professionellem Anspruch verbunden – einem
Anspruch, den sie auch einzulösen in Lage sind.
Unverkrampft und ohne jedes
Vorurteil auf die Werke zugehen: das Iturriaga Quartett.
Foto: Archiv
Die Gründung des Quartetts verdankt sich wohl dem Zufall,
der die Streicher an der Leipziger Hochschule für Musik zusammenführte.
Die aus dem Baskenland stammenden Aitzol und Iokine Iturriagagoitia
(Violine) hatten schon vorher in Madrid , als sie dort an der Escuela
Superior de Reina Sofia studierten, Quartett gespielt und wollten
das gern in Leipzig fortsetzen, Rebekka Riedel (Violoncello) hatte
auch schon mal Quartett gespielt und dann haben sie Katia Stodtmeier
(Viola) gefunden, die aus Berlin kam und in Leipzig studieren wollte.
Wenn man erst einmal so viel Freude am Quartettspiel hat, dann heißt
das jedoch nicht zwangsläufig, dass man davon leben kann, oder
dass man als Musiker auch zusammenpasst. Man wollte jedoch von Beginn
an das Quartettspiel auf höchstem Niveau betreiben und es vor
allem zu einem musikalischen Lebensmittelpunkt machen. So komisch
es klingen mag, gerade die Doppelbelastung durch das Studium erhöhte
den Wunsch, sich als Quartett und im Quartett zu engagieren.
Um sich heute als neues Quartett auf dem doch sehr breiten und
im Wesentlichen hochqualitativen Markt zu behaupten, muss man allerdings
nicht nur gut sein, sondern auch etwas Besonderes beisteuern. Das
hat das Iturriaga Quartett geschafft. So widmet sich das Ensemble
ganz besonders der Quartettliteratur von verfemten und vergessenen
Komponisten des letzten Jahrhunderts. Zum Repertoire gehören
da Werke aus der Feder von Philipp Jarnach, Berthold Goldschmidt,
Günter Raphael, Ignace Strasfogel. Den Impuls für diesen
einen Schwerpunkt der Quartettarbeit hat ihnen einer ihrer Mentoren,
Kolja Lessing, gegeben. Das Iturriaga Quartett spielt diese Werke
ganz frisch, gerade so, als wären sie erst vor kurzem komponiert
worden. Dabei ist die Unbekanntheit der Werke gewiss ein großer
Vorteil: Es gibt kaum eine Interpretationsgeschichte – man
kann sich diesen Werken unverkrampft von ganz vorne nähern
ohne jede historisch-eingefahrene Verstellung. Das ist ein ungeheurer
Vorzug, den man den Interpretationen des Quartetts auch anhören
kann. Die wirken eigen, authentisch und sind voller musikalischer
Energie, genauso unverbraucht wie viele der Werke, die sie spielen.
Nach nur knapp vier Jahren der Quartett Arbeit während des
Studiums haben sie 2000 schon beim Kammermusikwettbewerb der European
Broadcasting Union einen ersten Preis gewonnen.
Mittlerweile reicht das Repertoire des Quartetts von Boccherini
und Haydn über Schubert, Brahms, Reger und Bartók bis
in die aktuelle Quartettliteratur eines Ulrich Leyendecker, Isang
Yun oder Toshio Hosokawa. Aber es sind vor allem die Quartett-Raritäten
aus den letzten dreihundert Jahren, denen sich das Iturriaga Quartett
stellt. Darunter findet sich zum Beispiel genauso Musik des amerikanischen
Komponisten George Chadwick oder von Ilse Fromm-Michaels. Mittlerweile
haben auch schon einige Komponisten Werke für das Iturriaga
Quartett verfasst: darunter Abel Ehrlich, Andrès Maupoint
und Aristidis Strongylis.
Der Raritätenschatz, den das Quartett bereit hält, könnte
aber gelegentlich auch zu einem Stolperstein werden. Nicht neu dürfte
die Erkenntnis sein, dass Konzertveranstalter, min- destens was
Programme angeht, nicht zu den risikoreichsten Wesen des Musiklebens
gehören. Dafür dürfte der Konzertmacher-Markt jenseits
dieses Veranstalter-Karpfenteiches umso dankbarer sein – und
auf lange Sicht ist dieses implizite Bekenntnis zu selten gespielten
Werken sowieso für die Festigung des musikalischen Charakters
des Iturriaga Quartett ein großer Vorteil. Im Jahr 2001 produzierte
man beim Bayerischen und beim Mitteldeutschen Rundfunk Werke von
Herbert Fromm, Joseph Haydn und Günter Raphael. Hinzu kommen
Auftritte bei zahlreichen Festivals, wo das Quartett gelegentlich
mit weiteren Musikern (Heinz Holliger, Martin Spangenberg, Ida Bieler,
Maria Kliegel und Ulrich Knörzer) spielt und sich zu Quintett
oder Sextett erweitert.
Gleichwohl lässt sich das Iturriaga Quartett nicht einfach
in die Ecke eines musikalischen Paradiesvogel-Sammlers stellen.
Genauso gewissenhaft studiert man die Zyklen der Streichquartette
von Robert Schumann und Felix Mendelssohn-Bartholdy ein, wobei augenscheinlich
selbst diese Quartette immer noch ein Schattendasein im Konzertrepertoire
fristen.
Da fehlt doch noch etwas? In der Tat, will man das Iturriaga Quartett
hören, so geht dies zur Zeit nur, wenn man ins Konzert geht,
denn eine CD-Produktion haben sie noch nicht vorzuweisen. Dies soll
sich aber noch dieses Jahr ändern. Auf diese Produktion darf
man sich gespannt freuen.
Das Iturriaga Quartett läutet möglicherweise tatsächlich
eine neue Generation von Streichquartetten ein: im Verständnis,
wie sie sich selbst positionieren; in der Weise, wie sich ihr musikalisches
Selbstbewusstsein und -verständnis bilden; in der Art, wie
sie sich ein Leben als Quartett erfinden. Dabei haben sie indirekt
auch von Vorreitern wie beispielsweise dem Vogler-Quartett profitiert,
einem Quartett, das gleichermaßen in der aktuellen Musikszene
ebenso beheimatet ist wie in der traditionellen Quartettwelt. Aber
man muss auch diese Chance, als Quartett in dieser Zeit zu bestehen,
wittern können. Das Iturriaga Quartett wird sicher bald noch
deutlicher zu vernehmen sein und man darf schon jetzt dankbar sein
für alle Schätze, die dieses Quartett noch heben wird.