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nmz-archiv
nmz 2003/02 | Seite 17
52. Jahrgang | Februar
Rezensionen
Musik der Gegenwart
Der Nachwuchs blüht unter Kleinlabels
Not macht erfinderisch – diese Volksmeinung verheißt
Patentlösungen. Aber für die Schallplattenindustrie existieren
sie schon lange nicht mehr. Die großen Firmen haben sich zugrun-
de rationalisiert und oft die Eigentümer gewechselt. Labels
wurden aufgegeben, Produktionen eingestellt, Vertragskünstler
entlassen. Die Kleinlabels hingegen blühen, waren schon vorausschauend
aktiv geworden. Nachwuchskünstler erhalten hier ihre Chance,
neue Namen prägen sich ein. Es ergeben sich interessante Repertoire-Erweiterungen
auf bis dato kaum ausgewerteten Programmfeldern. So kommen auch
viele unbekannte, allenfalls flüchtig erwähnte Komponistennamen
ins Gespräch. Einige seien hier benannt. Sie sind kaum als
repräsentativ zu bezeichnen, stehen nur beispielhaft für
andere, deren Zahl mittlerweile Legion ist.
Nehmen wir die Pianistin Alexandra Oehler, Jahrgang 1970, in Halle
und Leipzig ausgebildet und Mitte der 90er mit einem Meisterklassendiplom
in die künstlerische Freiheit entlassen. Sie hat bislang fünf
CDs für das Label Ars Musici aufgenommen. Nach dem Einstieg
mit Bachschen Partiten hießen ihre Komponisten Edward MacDowell,
Eugen d’Albert, Teresa Carreño und Joseph Martin Kraus.
Die Palette wirkt so überraschend wie uneinheitlich. Dass der
Ausnahmepianist d’Albert ein vielfältiges kompositorisches
Schaffen hinterlassen hat, war bekannt; dass seine zeitweilige Ehefrau
Teresa Carreño komponierte, wusste man weniger. Alexandra
Oehlers Einsatz für sie bei zwölf einzelnen Klavierstücken
in der Chopin-Liszt-Tradition hat zum ersten Eintrag für die
Komponistin im Bielefelder Katalog geführt. Die Probe ergibt:
Man muss diese Musik nicht unbedingt kennen. Die von Joseph Martin
Kraus hingegen um so dringlicher. Der wie Mozart 1756 geborene Miltenberger,
der nur ein Jahr länger lebte als der Salzburger, erlebte seine
fruchtbaren Jahre als Komponist am schwedischen Hof. Zwei je dreisätzige
Sonaten, von Alexandra Oehler sehr energisch angegangen, belegen
Kraus’ außerordentlichen Rang zwischen Scarlatti und
Haydn.
Ins 18. Jahrhundert gehören auch Ivan Pratsch, Zeitgenosse
Mozarts und Kraus’, und Johann Gottfried Müthel, der
zur Generation des Mozart-Vaters Leopold gehört. Christophorus
bringt beide Komponisten mit Einzel-CDs neu in den Katalog. Der
Russe Pratsch, Petersburger Hofcompositeur, kannte offensichtlich
Musik seiner Zeit. So übertrug er Mozarts Es-Dur-Klavierquartett
mit ingeniösen Zutaten spielerischer Art in eine Fassung für
zwei Klaviere. Hinzu kommen eine Klaviersonate und eine zu jener
Zeit noch wenig übliche Cellosonate, von Mitgliedern des Petersburger
Playel-Trios so energisch wie musikalisch-flexibel vorgetragen.
Sie verdeutlichen Pratschs Niveau, das bruchlos zur Klassikszene
Mitteleuropas aufschließt. Müthel, 1728 im holsteinischen
Mölln geboren, war ein Kind des Sturm und Drang und mit dem
Status des freien Komponisten als Lebensziel ein echter Zeitzeuge
der Aufklärung. Die auf der CD von Zane Stradyna mit höchster
künstlerischer Kompetenz dargebotenen Sonaten und Variationenzyklen
wirken in der Art der subjektiven Ausdruckstechnik noch über
den Bachsohn Philipp Emanuel hinaus bis in die Frühklassik.
Von Edouard Lalo, den Debussy hochschätzte, kennt man die
Symphonie espagnol. Sony startet (mit Aufnahmen des Kölner
WDR) eine Serie aller Violin-Orchesterwerke. Die vorliegende CD
offeriert das erste Violinkonzert und kürzere fantasieartige
Werke. Drei von ihnen erscheinen in ihrer Originalgestalt neu im
Katalog. Man ermüdet beim Hören dieser Musik, denn der
Stil wirkt gleichförmig, so dass man von einem Werk auf alle
übrigen glaubt schließen zu können. Nicht anders
ergeht es einem bei Ferde Grofé. Er machte sich einen Namen
als Instrumentator von Gershwins Rhapsody in Blue. Selbst komponiert
hat er, im Stil pompöser Filmmusiken, diverse Orchestersuiten,
benannt nach Flüssen oder Landschaften Amerikas. Hollywood
Suite und Hudson River Suite auf einer Naxos-CD sind Katalog-Novitäten.
Sie wirken in Stil und Ausdruck auswechselbar.
Dieser Eindruck wiederholt sich bei einem Beispiel mit Musik unserer
Gegenwart. Die schottische Komponistin Cecilia McDowall veröffentlicht
auf einer CD des Labels Deux-Elles Kammermusik, überwiegend
kurze Werke aus der Zeit zwischen 1985 und 2001. Alle orientieren
sich ekletizistisch an Vorbildern von klassizistischer Spielmusik
und klanglich bis zurück ins 19. Jahrhundert. Galway hat Stücke
der Komponistin in sein gemischtes Flötenrepertoire aufgenommen.
Die Aufmerksamkeit für den Portugiesen Joly Braga Santos,
der 1988 64-jährig starb, und seine vierte Sinfonie auf einer
Marco Polo-CD lohnt sich mehr. Denn trotz unüberhörbarer
Anlehnung an spätromantische Klangmuster – stellenweise
scheint Respighi durchzuklingen – entwickelt Santos auf strikte
Art persönliche Vorstellungen von der sinfonischen Form und
ihrem Ausdruck, so dass ihm ein autonomer Stil zuzugestehen ist.
Eine Bereicherung für Katalog und interessierte Hörer!
Noch interessanter ist der Fall des Russen Miaskovsky (1881-1950),
eines geistigen Vorgängers der jüngeren Prokofiew, Schostakowitsch
und Khatschaturian. 1917 zum Umbau des sowjetischen Musiklebens
mitherangezogen, fiel er mit Beginn der Stalinära ab 1928 in
Ungnade und pflegte fortan einen gemäßigteren, dem sozialistischen
Realismus verpflichteten Stil. Von seinen 27 Sinfonien ist wenig
zu uns gedrungen. Seine Sechste (1921/23) mit über einer Stunde
Spieldauer ist der legitime und gelungene Versuch auf den Fundamenten
der russischen Musiktradition – auch Mahler dürfte ihm
nicht unbekannt gewesen sein – eine Musik für das ernsthaft
interessierte, nicht unbedingt vorgebildete Publikum zu komponieren.
Der Pomp dieser Sinfonie beansprucht einen zu respektierenden Stellenwert
und Neeme Järvi setzt sich mit einer ebenso impulsiven wie
klanglich durchkalkulierten Darstellung für Autor und Werk
ein.
Hanspeter Krellmann
Diskografie
Teresa Carreño: Klavierwerke; Alexandra Oehler (Klavier)
Ars Musici/Freiburger Musik Forum Freiburg AM 1258-2
Ferde Grofé: Hollywood Suite, Hudson River Suite, Death
Valley Suite; Bournemouth Symphony Orchestra, William Stromberg
Naxos 8.559017
Joseph Martin Kraus: Klavierwerke; Alexandra Oehler (Klavier)
Ars Musici/Freiburger Musik Forum Freiburg AM 1326-2
Edouard Lalo: Werke für Violine und Orchester, Vol.1; Thomas
Christian (Violine), WDR Rundfunkorchester, Stefan Blunier
Sony Classical SMK 89942
Cecilia McDowall: Piper’s Dream (Kammermusik für Flöte,
Bläserensemble und Klavier); Emma Williams (Flöte),
Richard Shaw (Klavier), Ensemble Lumière
Deux-Elles DXL 1033
Nikolai Miaskovsky: Symphonie Nr.5; Gothenburg Symphony Orchestra;
Neeme Järvi
Deutsche Grammophon/Universal 471 655-2
Johann Gottfried Müthel: Klavierwerke; Zane Stradyna (Klavier).
Christophorus/Note 1 Heidelberg CHR 77247