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nmz 2003/04 | Seite 25
52. Jahrgang | April
Forum Musikpädagogik
Stärke von Selbstdisziplin und Gewissenhaftigkeit
Zum Thema Musik und Persönlichkeit · Von Michael Dartsch
Nachdem der vorangegangene Text „Musik und Transfer“ den
Zusammenhängen zwischen Musik und kognitiver Leistungsfähigkeit
nachgegangen ist, soll es im vorliegenden Text um Einflüsse
von Musik auf die Persönlichkeit gehen. Wenn man von Musik
sagen kann, sie präge die Persönlichkeit des Menschen,
dann suggeriert das eine noch tiefer gehende Wirkung als das Übertragen
von Schemata, wie es der Transferbegriff beinhaltet.
Obwohl die Psychologie keine
verbindliche Definition von Persönlichkeit anbieten kann, trägt
doch ein etablierter Zweig der Disziplin den Namen „Persönlichkeitspsychologie“.
Gegenstand dieses Zweigs sind die Unterschiede zwischen Menschen – man
spricht auch von „Differentieller Psychologie“ –, die sich
in verschiedenen Eigenschaften manifestieren. Ist von der Persönlichkeit
eines Menschen die Rede, dann assoziiert man dabei eher stabile, also lang
andauernde und situationsübergreifende intellektuelle, emotionale oder
soziale Eigenschaften und denkt vielleicht an charakteristische Handlungsweisen
(vgl. Asendorpf, 1988, S. 25, S. 72f.; Rost, 1997). Nachdem die Intelligenz
bereits als möglicherweise von Musikerziehung profitierender Bereich diskutiert
worden ist und Aspekte des Sozialen nur in Form von Abneigung und Zuneigung
berücksichtigt
worden sind, soll hier noch einmal besonders nach sozialen und emotionalen
Eigenschaften im Zusammenhang mit Musik gefragt werden. Geht man davon aus,
dass Musik einen Beitrag zur Persönlichkeitsbildung leisten kann, so wäre
dies vielleicht anhand solcher Überlegungen genauer zu spezifizieren.
Introvertiert und extravertiert
Bekannt geworden sind die Persönlichkeitsdimensionen Hans
Eysencks, die vielfach auch von anderen Psychologen bestätigt
wurden (vgl. Eysenck, Eysenck, 1987, S. 164): Im Fadenkreuz der
Pole „introvertiert“ und „extravertiert“ (sozialer
Aspekt) sowie „stabil“ und „labil“ (emotionaler
Aspekt) ordnet Eysenck sowohl eine Vielzahl von Eigenschaften als
auch die klassischen Temperamente an. Als stabil betrachtet Eysenck
den introvertierten „Phlegmatiker“ und den extravertierten „Sanguiniker“.
Im Bereich der Labilität sind der introvertierte „Melancholiker“ und
der extravertierte „Choleriker“ angesiedelt (S. 54).
Später schied Eysenck aggressives und impulsives Verhalten
aus dem Bereich der extravertierten Labilität aus und ordnete
es einer dritten Dimension zu, auf der sich hohe oder niedrige „Impulskontrolle“ abbilden
lassen. Bemerkenswerter Weise hängen mit mangelnder Impulskontrolle
nach diesem Ansatz sowohl Hartherzigkeit als auch Kreativität
zusammen (vgl. S. 16). Wer sich zu stark nach anderen ausrichtet
oder zu schnell nachgibt, kommt vielleicht seltener zum Bruch mit
Konventionellem (vgl. auch Cattell, 1978, S. 87). Menschen, die
ihre eigenen Impulse dagegen zu zügeln verstehen, weisen Eigenschaften
wie Gewissenhaftigkeit und Selbstdisziplin auf (vgl. Eysenck, Eysenck,
1987, S. 130).
Bereits 1997 berichtet Bastian bezüglich seiner Berliner Studie
von Tendenzen beim Ankreuzen vorgegebener Antwortalternativen zu
den Eysenckschen Dimensionen, wonach er die Kinder der Musikklassen
als „extravertierter“ und „sensibler“ einschätzt
(S. 147; vgl. 2000, S. 468ff.). Dabei macht er die Extraversion
an Unbeschwertheit und der Neigung zu Streichen und wilden Spielen
fest; die emotionale Sensibilität zeigt sich für ihn
als „Verletzbarkeit“ an Test-Antworten, die vom Bedrücktsein,
von grundloser Abgespanntheit, von Gekränktsein und Schüchternheit
handeln. Hier neigten die Musikklassen jeweils ein wenig stärker
zur Zustimmung. Waren die Musikklassen schon zu Beginn der Untersuchung
und noch in den ersten zwei Jahren im Durchschnitt allgemein etwas ängstlicher
und labiler, so ist dieser Unterschied jedoch nach vier Jahren
verschwunden (2000, S. 362f.).
Emotion und Extraversion
Zu diesen Ergebnissen ist nun erstens zu bemerken, dass Bastian
bei den Werten zur Extravertiertheit eine recht starke Streuung
verzeichnete (S. 476). Ein Blick in Bastians ältere Studie
mit Preisträgern des Wettbewerbes „Jugend musiziert“ zeigt,
dass sich unter diesen die ganze Bandbreite menschlicher Persönlichkeiten
finden lässt. Gerade auch Eigenschaften der Dimensionen „Emotion“ und „Extraversion“ – etwa
Sicherheit, Empfindsamkeit, Ängstlichkeit, Egoismus und
Vertrauen – weisen eine starke Streuung auf (1991, S. 228).
Zu bedenken ist, dass Mittelwerte und berechnete Tendenzen damit
an Bedeutung, Vorhersagekraft und Erklärungswert verlieren.
Sollten die von Bastian erhobenen Tendenzen verallgemeinerbar
sein, so scheinen sie sich zweitens wieder umzukehren, wenn sich
Menschen
besonders intensiv der Musik widmen. Schon die Wettbewerbsteilnehmer
weisen keine Neigung zur Extravertiertheit mehr auf. Könnte
das intensive Üben bei einigen eine Gegentendenz zur zunächst
vielleicht befreienden und enthemmenden Wirkung des Musizierens
nach sich ziehen, so dass die Jugendlichen ihre Unbeschwertheit
und Expansivität wieder eher einbüßen? Könnte
der Berufsalltag von Musikern schließlich zu vermehrter Angst
und Labilität führen? Eine Untersuchung von Kemp (1981a;
vgl. Behne, Kötter, Meißner, 1982, S. 282-284) mit etwa
500 Schülern aus Konservatorien, Jugendorchestern und Spezialschulen
sowie 700 Musikstudierenden und 200 Berufsmusikerinnen und -musikern
legt tatsächlich nahe, charakteristische
Eigenschaften und Verläufe eher für die Gruppe musikalisch
besonders aktiver und herausragender Personen als für durchschnittlich
musikinteressierte Menschen anzunehmen. Durchgängig zeigten
sich bei den Testpersonen Introvertiertheit, Intelligenz und gefühlsbetontes
Verhalten vergleichsweise stark ausgeprägt. Hierin müssen
jedoch keine Folgen des Musizierens erblickt werden; vielmehr könnte
es sich umgekehrt um Faktoren handeln, die musikalische Erfolge
begünstigen
oder die Hinwendung zur Musik mitbedingen. Kemp zeigt darüber
hinaus, dass Selbstdisziplin und Gewissenhaftigkeit bei den Schülern
am stärksten, bei den Berufsmusikern hingegen am schwächsten
ausgeprägt waren. Von allen drei Gruppen wiesen die Professionellen
dagegen die stärkste Neigung zu Angstgefühlen auf. Diese
Ergebnisse stehen im Einklang mit der Annahme, dass hier der Berufsalltag
seinen Tribut fordert. Möglicherweise unterliegen solche Zusammenhänge
allerdings kulturspezifischen Variationen. Im Gegensatz zu Kemps
britischen Probanden erwiesen sich nämlich fortgeschrittene
Musikstudierende in den USA in einer Studie von Wubbenhorst (1994)
zu über 50 Prozent als eher extravertiert (vgl. auch Gembris,
1998, S. 133f.). Dass in der Diskussion sehr genau zwischen verschiedenen
Arten der Beschäftigung mit Musik unterschieden werden sollte,
unterstreichen noch einmal die Ergebnisse, die Kemp für Kompositionsstudenten,
Komponisten und Komponistinnen verzeichnet (1981b): Für diese
ergibt sich ein ganz spezifisches Bild, wobei besonders eine vergleichsweise
hohe Dominanz und Unabhängigkeit auffallen.
Gehemmt versus spontan
Temperamente – und damit auch ein entsprechender Satz von
Eigenschaften – sind in abgewandelter Form auch heute noch
in der Psychologie relevant und vermutlich von beträchtlicher
lebensgeschichtlicher Konstanz. Dies konnte Kagan mit seinen Mitarbeitern
für die Dimension „gehemmt versus spontan“ zeigen:
Erhoben an zunächst zweijährigen Kindern ließ sich
deren „Schüchternheit“ oder „Spontaneität“ noch
im Alter von acht Jahren nachweisen (vgl. Wendt, 1997, S. 318;
Kagan unter Mitarbeit von Snidman, Arcus, Reznick, 1996). Snidman
ersetzte das Messen der sozialen Dimension „Extravertiertheit
versus Introvertiertheit“ bei Säuglingen durch das Erfassen
motorischer Aktivitäten („hoch“ versus „niedrig“)
und kreuzte diese Dimension mit dem Auftreten von Furchtreaktionen
(„hoch“ versus „niedrig“) als Indikator
für emotionale Stabilität, um so wiederum vier Typen
zu erhalten (S. 176). Gleichwohl betont Kagan mit Nachdruck, das
so genannte Temperament stünde keineswegs von Geburt an für
das ganze Leben unveränderbar fest (2000). Langfristige Konstanz
mag auch von einem gleich bleibenden sozialen Umfeld, beispielsweise
der Familie, der Schule oder einer Partnerschaft mitbedingt sein.
Die von Kemp untersuchten „Musikprofis“ sind ein Beispiel
für die Bedeutung der beruflichen Sphäre. Asendorpf veranschlagt
für westliche Industrienationen den Anteil genetischer Einflüsse
auf soziale und emotionale Persönlichkeitsunterschiede nach
der Pubertät mit knapp 50 Prozent etwa genauso hoch wie den
Einfluss persönlicher Erfahrungen (1988, S. 30, S. 267ff.).
Dass die Herausbildung von Persönlichkeitsmerkmalen eine höchst
differenzierte Betrachtung verlangt, soll durch einige Überlegungen
zum Sozialverhalten (a), zum Feingefühl (b) und zur emotionalen
Befindlichkeit (c) noch verdeutlicht werden:
a) Im sozialen Umfeld etwa eines „Landesjugendorchesters“,
aber sicher auch nicht nur dort, mag häufig ein besonderes
Gemeinschaftsgefühl anzutreffen sein. Dieses mag eine wichtige „Vermittlungsgröße“ für
ein herzliches, offenes, tolerantes und einfühlsames Sozialverhalten
in dieser Gruppe sein. Ob die jungen Musiker diese Verhaltenstendenzen
nun auch in anderen Gruppen zeigen, in die sie involviert sind,
hängt wohl davon ab, wie sie diese Gruppen erleben, ob dort
etwa eine Atmosphäre des Vertrauens herrscht, die derjenigen
im Orchester ähnlich ist. Menschen zeigen ein gemeinschaftsorientiertes
Empfinden und Verhalten – ihren Rollen und Sympathien gemäß – nicht
in allen sozialen Zusammenhängen in gleichem Maße. In
Frage steht hier also die „situative Stabilität“,
die auch in Untersuchungen wie der von Bastian und seinen Mitarbeitern
häufig ungeklärt bleibt, die aber für ein Persönlichkeitsmerkmal
entscheidend ist.
b) In der oben erwähnten Untersuchung Kemps wurde von „gefühlsbetontem
Verhalten“ bei Musikerinnen und Musikern berichtet. Es handelt
sich dabei um die hier vorgenommene Umschreibung eines Faktors
aus dem Persönlichkeitsmodell von Raymond Cattell, der im
Deutschen als „Feinfühligkeit“ bezeichnet wurde.
Da Cattell seine Faktoren als Bündel statistisch zusammenhängender
Merkmale konzipiert, sind deren Benennungen nur mehr oder weniger
deutliche Oberbegriffe. Für den Feinfühligkeits-Faktor
erfand Cattell im Englischen das Wort „premsia“, das
er von „protected emotional sensitivity“ ableitete.
Tatsächlich verbergen sich hinter dem entsprechenden Faktor
Merkmale wie Weichherzigkeit, Ängstlichkeit, Intuitivität,
Ungeduld, Abhängigkeit, Anlehnungsbedürfnisse, Empfindsamkeit,
Nachsichtigkeit und die Neigung zum Ausdruck eigener Gefühle
(Cattell, 1973, S. 168f., 258f.; 1978, S. 92). Cattell glaubt,
die entsprechende Disposition hänge auch mit einem überbehütenden
Elternhaus zusammen (daher „protected“). Hinter diesen
Merkmalen sieht Cattell schließlich einen übergreifenden
Faktor namens „pathemia“, der bei den von Kemp (1981a)
untersuchten Musikergruppen ebenfalls stärker ausgeprägt
war. Danach wären Musikerinnen und Musiker gefühlsbetonte,
nachgiebige und phantasierende Menschen mit Tendenzen zu Tagträumen,
zur Melancholie und zur Kunstliebe (Cattell, 1973, S. 185f.).