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nmz-archiv
nmz 2003/05 | Seite 25
52. Jahrgang | Mai
Forum Musikpädagogik
Komplexes Netzwerk von Einflüssen
Thema Musik und Persönlichkeit (Teil II)
In der letzten
Ausgabe der nmz behandelte Autor Michael Dartsch
an dieser Stelle bereits Facetten wie „Introvertiert und
extravertiert“, „Emotion und Extraversion“ und „Gehemmt
versus spontan“. Teil I des Textes endete mit einem Verweis
auf Cattell, der Musiker als gefühlsbetonte, nachgiebige und
fantasierende Menschen mit Tendenz zu Tagträumen, zur Melancholie
und zur Kunstliebe beschreibt.
Hier zeigt sich deutlich die häufige Diskrepanz zwischen
dem Alltagsverständnis eines Begriffes und seiner psychologischen
Fassung. Wenn unter Bezug auf Kemps Studie vom „Feingefühl“ der
Musiker zu lesen ist (Behne, Kötter, Meißner, 1982,
S. 283f.), könnte man an Stelle der oben genannten Merkmale
wohl auch an das beim Musizieren so wichtige Wahrnehmen und Beachten
von Nuancen, das wache und genaue Hinhören, das Erspüren
von Zusammenhängen und Gefühlsqualitäten denken
und entsprechende Transfereffekte vermuten.
Diese Art von „Feingefühl“ kann die Persönlichkeitspsychologie
jedoch kaum erhellen. Zwar ist die bloße Reizempfindlichkeit
wohl genetisch prädisponiert und nach Eysenck und Eysenck
bei Introvertierten generell höher (1987, S. 254ff.; vgl.
dazu auch Wendt, 1997, S. 155). Geht man nach den Ergebnissen Kemps
davon aus, dass sich eher Introvertierte für das Musizieren
entscheiden, so wären diese damit jedoch „von Anfang
an“ – und nicht als Folge des Musizierens – besonders
sensibel und ansprechbar für Sinnesreize. Weiterhin kann man
das „musikalische Feingefühl“ wohl nicht vorschnell
mit Empathie gleichsetzen. Diese geht nach Eysenck und Eysenck
mit eher starker Emotionalität und Impulskontrolle einher
(vgl. S. 16, S. 77) und wäre damit ebenfalls – gewissermaßen
als Begleiterscheinung des Temperaments – ein auch genetisch
beeinflusstes und relativ stabiles Persönlichkeitsmerkmal.
Für das „musikalische Feingefühl“ wäre
hingegen die Annahme, es handele sich allgemein um eine situationsübergreifende
Persönlichkeitseigenschaft, eine gewagte Spekulation. Zwar
mag das Wahrnehmen „mit feinen Antennen“ bei entsprechendem
(!) Musizieren für einige wirklich zu einem gewohnten Verhaltensmuster
werden. Ob das Etablieren und das Transferieren dieses Musters
auf andere Situationen gelingt, in denen Zuhören und Erspüren
von Zusammenhängen und Qualitäten relevant sind – also
zum Beispiel auf Gespräche und soziale Interaktionen – hängt
aber wieder von der Einzelbiographie ab, von der Gesprächs-
und Interaktionsgeschichte, auf die das Muster trifft, wenn es
sich gewissermaßen anbieten möchte. Wenn Bastian vom
besseren Abschneiden der Berliner Musikklassen bei Aufgaben zum
Reflektieren sozialer Fragestellungen berichtet (2001, S. 56f.),
so werden vielleicht Anhaltspunkte für einen solchen Transfer
sichtbar, der sich allerdings im realen Leben erst zu bewähren
hätte.
c) Die emotionale Befindlichkeit schließlich kann von Faktoren
jeglicher Dauer beeinflusst und bestimmt sein. Sehr kurzfristige
Erlebnisse – etwa die zufällige Berührung einer
Brennnessel oder die Wahrnehmung eines als unangenehm empfundenen
Klanges – stehen am einen Ende, eine von frühster Kindheit
an gezeigte Gehemmtheit am anderen Ende. Dazwischen können
ein mehr oder weniger langer Streit mit Freunden, eine Phase gehäuft
zu absolvierender Klassenarbeiten, die Eingewöhnung in ein
neues Umfeld, Irritationen der beginnenden Pubertät, die wachsende
Begeisterung für bestimmte Musik, der man sich nun häufig
aussetzt, oder auch Erfolge auf einem Musikinstrument angesiedelt
sein.
Vielerlei solcher kürzer oder länger anhaltenden Erfahrungen
gehen – sich überlappend und wechselweise ins Bewusstsein
tretend – in die emotionale Befindlichkeit und die zeitweilige „Grundstimmung“ ein.
Stimmungseintrübungen können „locker weggesteckt“ werden
oder sich zum Problem auswachsen, so wie andererseits positive
Emotionen schnell verfliegen oder aber zu einem tragenden Fundament – etwa
einer bestimmten Einstellung, einer Partnerwahl oder einer Berufsentscheidung – werden
können.
Verdichten sich nun Einflüsse auf Grund ihrer Häufigkeit
oder Intensität zu stabileren sozialen oder emotionalen Tendenzen
in der persönlichen Entwicklung, so mag man sie als „prägend“ ansehen.
Ein Kontinuum von mehr oder weniger, kürzer oder länger
prägenden Einflüssen tut sich auf, auf dem auch Musik
und Musikunterricht von Fall zu Fall zu verorten wären.
Dabei ist immer im Auge zu behalten, dass auch die Entwicklung
der Persönlichkeit zu einem entscheidenden Teil ein Werk des
Individuums ist, das seine Umwelt selbst mit auswählt und
gestaltet, das das Erlebte auf ganz eigene Weise wahrnimmt und
verarbeitet und in diesem Sinne ebenso seine Erfahrungen prägt,
wie die Erfahrungen es selber prägen (vgl. Asendorpf, 1988,
S. 203 ff., S. 233 ff.). Was von einer Person als angenehm erlebt
wird, kann eine andere als langweilig, bedrohlich oder lästig
empfinden. Dies gilt sicher auch für Musik. Während sie
ein Mensch für sich so auswertet und einsetzt, dass er das
Gefühl hat, daran zu wachsen, kann ein anderer so damit umgehen,
dass er sich auf Dauer belastet fühlt oder voll unerfüllter
Sehnsucht resigniert. Man denke hier zum Beispiel an Alkoholismus
unter Musikern.
Das hochkomplexe Bündel wechselseitiger Einflüsse zu
entwirren und einzelne Einflussfaktoren wie Musik empirisch dingfest
machen zu wollen, „mutet utopisch an“ (Asendorpf, 1988,
S. 118).
Hat etwa ein bestimmter Musiker Lampenfieber, weil er weiß,
dass er nicht sicher spielt – oder spielt er unsicher, weil
er Lampenfieber hat? Gerade im Hinblick auf die Ergebnisse, die
Bastian und Kemp bei musikalisch besonders aktiven Menschen zu
Tage förderten, scheint es nahe liegend, von Wechselwirkungen
auszugehen, die sich zwischen dem Musizieren und etwa dem Selbstbewusstsein,
dem Umgang mit Emotionen, dem Maß innerer Sammlung, der Selbstdisziplin
oder der Selbstkritik entfalten und gegenseitig aufschaukeln oder überlagern
können.
Im Rahmen der von Asendorpf mit knapp 50 Prozent veranschlagten
Einflusssphäre können sicher auch musikbezogene Erfahrungen
die Herausbildung von Persönlichkeitsunterschieden unterstützen
oder bremsen, im besonderen Fall wohl auch auslösen.