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nmz-archiv
nmz 2003/05 | Seite 35
52. Jahrgang | Mai
Oper & Konzert
Milder Lebensweg nach der Katastrophe
Pierre Bartholomées „Oedipe sur la Route“ in
Brüssel uraufgeführt
Pierre Boulez ist gerade achtundsiebzig Jahre alt geworden und
schuldet der Musikwelt immer noch seine erste Oper. So lange wollte
der namhafteste belgische Komponist Piere Bartholomée (Jahrgang
1937) nicht warten: Im auch schon reifen Alter von 66 Jahren schrieb
er sein erstes Werk für die Opernbühne: „Oedipe
sur la Route“ – nach einem Roman des Psychoanalytikers
und Schriftstellers Henry Bauchau.
Die Situation: Oedipus, der sich
die Augen ausstach, nachdem
er selbst die schicksalhafte Verstrickung aufgedeckt hatte, die ihn zu Mord
und Inzest trieb, begibt sich auf die Sinnsuche ins Innere der eigenen Seele.
Eine weite Wanderschaft, auf der
ihn seine treue und liebende Tochter Antigone begleitet, steht als äußeres,
sichtbares Zeichen für die tiefenpsychologische „Auto-Reise“.
Bartholomée und Bauchau erliegen nicht der Versuchung, eine plane Reisegeschichte
zu erzählen. Nicht ohne fein-ironische Raffinesse begegnen sie denkbaren
Vorwürfen, noch eine weitere Literaturoper fabriziert zu haben. Oedipus
und Begleitung kennen hier auch schon den Namen des dichtenden Chronisten Sophokles:
Oedipus, der tragische „Held“, mutiert also bereits zu Lebzeiten
zum Kunststifter, indem er die eigene Person zum Kunstwerk erhebt – ein
Vorgang, der alle Merkmale einer speziellen Ausprägung von Concept-Art
trägt: Der Herrscher erklärt die eigene Person zum Kunstwerk – Kaiser
Nero wäre ein vergleichbares Konkurrenzmodell, modernen Diktatoren fehlt
es für derartige Stilisierungen meist an der nötigen kreativen Phantasie.
Diese die Chronologie aufspaltende Dramaturgie gewinnt in Bartholomées „Oedipe“ allerdings
eine zu geringe Griffigkeit. Mit milder Anteilnahme und Ergriffenheit scheinen
Komponist und Textdichter auf ihre Titelfigur zu schauen. Dabei treten wie
in einem imaginären Welttheater andere zum Mythos gewordene Figuren vor
das betrachtende Auge: Oedipus – ist das nicht der Ur-Vater der anderen
großen Gestalten in der Literatur: Odysseus, Faust, auch Don Quichotte,
Shakespeares Lear oder Don Juan, Figuren, deren Schicksale in vielfachen Brechungen
Modellcharakter für die Existenz des Menschen besitzen? Bartholomées „Oedipe“ aber
will nicht solche existenzielle Dringlichkeit im eigenen Kunstwerk aufzeigen.
So entstand auf hohem Niveau und mit durchaus persönlicher Färbung
ein sympathisches Bildungstheater. In jedem Augenblick spürt man die innere
Anteilnahme, die jedoch in keiner Szene zu einer wie auch immer gearteten persönlichen
Verstörung des betrachtenden Theaterbesuchers führt.
Das korrespondiert zugleich mit
der Musik. Bartholomées Personalstil zeichnet eine behutsame klangliche
Modernität aus, mit einer leichten Neigung zum Retrospektiven. Einflüsse
von Debussy, Messiaen, auch Berg scheinen im Klangbild auf, das nur selten
einmal von emotionalen Aufwallungen gleichsam aufschäumt, durch obsessive
Repetitionsfiguren Erregungsqualitäten gewinnt. Alles strömt wohltönend
dahin, selbst Dissonantes fügt sich ohne Widerstände harmonisch ein.
Bartholomées „Oedipe“-Musik trägt alle Züge eines
sublimierten Altersstils, fein aus-und durchgehört, instrumental mit großem
Klangsinn kombiniert und auch im Vokalen mit einer gepflegten Kantabilität
ausgestattet. Diese Kantabilität kostet speziell José Van Dam als
Oedipus wunderbar aus. Er besitzt die unnachahmliche Fähigkeit, alles,
was er singt, mit Spiritualität, feinem Expressivo und belcantistischem
Wohlklang zu überziehen. Für den Oedipus bringt er aber auch noch
ein individuelles inneres Engagement ein, durch das der Figur über die
vorgezeichnete Musik eine persönliche Identifizierungsqualität zuwächst.
Valentina Valente gestaltet neben ihm eine sensibel erfühlte Antigone.
Bei Daniele Callegari lag die Partitur in liebevollen Händen, das Brüsseler
Opernorchester agierte aufmerksam, geschmeidig, mit schönen klangfarblichen
Wirkungen. Ließe sich das alles womöglich auch eine Spur energischer
spielen, stringenter im inneren Duktus? Das müssten wünschenswerte
Nachfolge-Inszenierungen zeigen.
Das Regieteam mit Philippe Sireul und dem Bühnenbildner Vincent Lemaire
stammt ebenso wie Komponist, Librettist und Hauptsänger aus Belgien – solche
personalen Konstellationen besitzen im Mehrsprachenland Belgien eine besondere
Wertigkeit, als eine Art Identitätsfindung. Auf der weiten, requisitenarmen
Spielfläche mit hohem Schrägfelsen als optischem Symbol für
den schwierigen Weg, den Oedipus zu gehen hat, ordnet Sireul das Spiel in ruhiger,
zeichenhafter Übersichtlichkeit. Mit Van Dam gewinnen die knappen Aktionen
an dramatischer Plastizität. Der Erhebung des „Künstlers“ Oedipus
in quasi göttliche Gefilde wird durch szenische Dezenz jede Larmoyanz
genommen. Nach Francesconis ebenfalls in Brüssel in dieser Spielzeit uraufgeführtem
hochdramatischem Opern-Oratorium „Ballata“ bot Bartholoimées „Oedipe“ gleichsam
das emotionale Gegenbild: die aktuelle Opernszene bietet ein facettenreiches
Spektrum.