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nmz-archiv
nmz 2003/05 | Seite 33-34
52. Jahrgang | Mai
Oper & Konzert
Musik mit
Basketball
Stuttgarts neues Theaterhaus
auf dem Pragsattel
In Stuttgart wurde jetzt nach vierjähriger Bauzeit das neue
Theaterhaus auf dem Pragsattel eröffnet. Anlass für viele
andere Gemeinden in unserem Land, neidvoll auf die schwäbische
Kunstmetropole zu blicken: Wie schaffen die das nur? Wahrscheinlich,
wie in diesem Landstrich nicht anders zu erwarten, mit Fleiß.
Und mit Energie, Phantasie und der Einsicht, dass eine lebendige
Stadt solche Stätten für Begegnungen mit den vielfältigsten
Formen der Kultur heute dringender denn je benötigt.
Schillers Götterfreund Ibykus,
sollte diesem denn eine Wiederauferstehung zuteil werden,
würde es jetzt unwiderstehlich nach Stuttgart ziehen: Wie damals auf Korinthus
Landesenge beim Kampf der Wagen und Gesänge lockt auch das neue Theaterhaus
auf dem Pragsattel die Menschen mit Kultur und Sport an. Die antike Einheit
von Geist und Körper, oft und immer wieder beschworen, selten erreicht,
hier könnte sie Ereignis werden: Eine Stunde Volleyball in der Sporthalle,
dann Wechsel ins Theater, zu Rock, Pop und Jazz, Tanz, Schauspiel und Kabarett
oder sogar zur Musik der Avantgarde, denn einer der Hauptnutznießer des
neuen Kulturzentrums dürfte die „Musik der Jahrhunderte“ sein,
eine Initiative, unter deren Dach sich die Neuen Vocalsolisten Stuttgart, das
Festival Neue Musik „Éclat“, Meisterkurse für Zuhörer
und viele weitere Aktivitäten versammeln.
Klang-Quelle: Das Suono-Mobile-Ensemble
bespielte Foyers, Flure und Treppenhäuser im ganzen
Theaterhaus. Foto: Charlotte Oswald
Bisher war das Stuttgarter Theaterhaus im Stadtteil Wangen in
kleinerem Rahmen untergebracht. Die enorme Ausstrahlung, die von
dort in Stadt und Region ausging,
dürfte sich nun potenzieren. In dem ehemaligen, in vier Jahren aufwendig
umgebauten Rheinstahlwerk (ein baugeschichtlich anspruchvoller Industriebau
des Architekten Emil Fahrenkamp, im Jahre 1923 aus heimischem Backstein errichtet)
findet sich ein bemerkenswert großes Platzangebot: Ein Theater- und
Konzertsaal mit rund tausend Sitzplätzen (unbestuhlt fast 1.900 Stehplätze),
in dem mittels mobilen Tribünen auch Raumveränderungen möglich
sind, wie sie gerade von heutigen Komponisten für ihre Werke oft gewünscht
werden. Drei Theatersäle fassen jeweils 450, 350 und 150 Besucher. Vier
Probenräume können teilweise ebenfalls für Projekte genutzt
werden, eine Multifunktionshalle von etwa siebenhundert Quadratmetern weckt
Phantasien an kühne Raum-Klang-Installationen. Insgesamt beträgt
die Nutzfläche des Geländes zirka 12.000 Quadratmeter. Der Kommunikation
zwischen den einzelnen Veranstaltungen dienen Restaurant, Bistro, eine Bar
sowie ein Biergarten. Die Baukosten für alles belaufen sich auf etwa
17 Millionen Euro – geschenkt könnte man sagen, wenn man die Summe
auf die Zukunftsperspektiven umrechnet. Die Stadt Stuttgart darf stolz auf
ihr Theaterhaus sein und sollte nun auch nicht bei den notwendigen Zuschüssen
für den laufenden Betrieb knausern, die dank zu erwartender hoher Eigeneinnahmen
(nach den Erfahrungen im alten Theaterhaus) ohnehin kaum astronomische Höhen
erreichen dürften. Eine lebendige Stadt braucht solche Versammlungsstätten
der Bürgerschaft, zu der schließlich auch die Jugend zählt.
Stuttgarts Theaterhaus, von brodelndem Verkehr umtost und mit dem imposanten „Macht“-Bau
der Daimler-Chrysler-Bank in unmittelbarer Nachbarschaft, könnte inmitten
großstädtischer Unruhe zu einem Konzentrationspunkt für städtisches
Gemeinschaftsleben werden, das heute dringender denn je zugleich für
die Zukunft unserer Städte, für das, was man unter einer „Civitas“ versteht,
zu fordern ist. Wie stark das Bedürfnis nach so gestalteten Versammlungsorten
bei den Menschen, bei den Bürgern einer Stadt ist, das war an den ersten
Veranstaltungen im neuen Theaterhaus schon deutlich zu erfahren. Nach einem „CrossOver“-Projekt
von Riccardo Nova, der zeitgenössische Musik, Techno-Sounds und indische
Perkussion verbindet, rief die „Musik der Jahrhunderte“ zu einem
ersten „Performance Day“ auf dem Pragsattel: Musik in allen Räumen
und Fluren, Konzerte, Klanginstallationen, Sprech-Theatralisches von Hans
Arp und dessen Freunden Walter Serner und Tristan Tzara (immer wieder erfrischend:
die Sprach-Kunst-Werke von einst, besonders wenn sie so virtuos dargeboten
werden wie vom ExVoco-Ensemble Stuttgart.
Grundiert wurden die Klangereignisse in den Sälen vom Ensemble
Suono Mobile, das mit Musik von einem Dutzend zeitgenössischer
Komponisten die Foyers, Treppenhäuser und Flure „beschallte“ – wer
sich die Ruhe nahm, den Musikern genauer zuzuhören und nicht
nur vorbei zu schlendern, konnte ausgezeichnete Interpretationen
hören. Wer nennt die Komponisten, wer die Stücke, die
alle in diesem sechsstündigen Musik-Marathon erklangen: Teodoro
Anzellotti bearbeitete Kurtágs „Jaketok“-Klavierspiele
für Akkordeon – brillant. Bernd Thewes schrieb „Paraphrasen
zu den 7 Sieben des Salzhändlers“, Musik zu einem Detail
aus Marcel Duchamps „Großem Glas“ – was
sich äußerst phantasievoll und intelligent anhörte.
Gern begegnete man auch wieder Nicolas A. Hubers „Ohne Hölderlin“,
wo sich ein Kontrabass und ein Klavier (mit ironischem Seitenhieb)
nicht um die Hölderin-Mode bemühen, sondern darum, für
ihre enorme instrumental-technische Unterschiedlichkeit eine gemeinsame
Klang-Basis zu finden.
Neben dem Akkordeon-Kurtág gab es noch zwei Uraufführungen
an diesem Abend: Hans-Peter Jahn, als Musikredakteur des Südwestrundfunks
Spiritus rector der „Musik der Jahrhunderte“, des „Éclat“-Festivals
und auch dieser Performance, stellte aus 42 Kompositionen, die
zwischen 1952 und 2002 von zwei, drei Dutzend Komponisten geschrieben
wurden, eine Vierzehn-Minuten-Tonband-Collage her, die er, nicht
ohne Witz, als Ratespiel, Klangübung oder Demontage anbietet.
Der 1974 geborene Martin Schüttler erfindet in „taped & low-bit“ für
Countertenor und Synthesizer ein artifizielles „Puzzle“-Spiel
aus den unterschiedlichsten Ausdrucksmitteln und Klangerzeugungen,
verfremdet, unverfremdet, künstlich, scheinbar unvereinbar,
unaufgelöst, zersplittert, das dem Zuhörer nichts weiter übrigbleibt,
als erst einmal einfach zuzuhören, was auch spannend sein
kann, zumal Daniel Gloger ein hervorragender Countertenor ist.
Man könnte noch lange fortfahren, einzelne Ereignisse zu beschreiben.
Doch zunächst einmal Schluss jetzt: Das neue Theaterhaus wird
in Zukunft noch oft Anlass bieten, nach Stuttgart zu fahren.