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nmz-archiv
nmz 2003/05 | Seite 4
52. Jahrgang | Mai
Cluster
Üben, üben, üben…
Einer Meldung in der englischen Zeitung „Daily Telegraph“ ließ sich
entnehmen, dass die Musikband „Creed“ von ihrem Publikum
in Chicago verklagt wurde, weil ihr Sänger nicht in der Lage
gewesen sei, auch nur ein einziges Stück einigermaßen über
die Bühne zu bringen. Dabei geht es insgesamt um immerhin
1,3 Millionen englische Pfund, welche die 18.500 Zuhörer dieses
Konzertes nun zurückerstattet haben wollen. Angeblich war
der Sänger betrunken oder anderweitig „medizinisch vergiftet“.
Die Folgen, die aus einer eventuell erfolgreichen Klage resultieren
könnten, würden dramatisch zur Reinigung der gesamten
Musikbranche führen. Häufig muss man schließlich
nicht einmal betrunken sein, sondern einfach nur gar nicht singen
können – was ohnehin fast niemand mehr tut: Heute tut
man bekanntlich auch in Deutschland „performen“. Die
durch das Milli-Vanilli-Syndrom zur Sicherheit in allen Fernsehshows
(von Viva bis „Wetten dass“) eingeführte Prozedur,
vermittels A-cappella-Einlagen die gegenwärtig gepuschten
Live-Style-Sänger zur musikalischen Kasse zu bitten, trägt
leider nur zur weiteren Verunsicherung bei, weil viele Sänger
nicht einmal einen einstimmigen Gesang beherrschen. Das hätte
mal den Beatles oder Simon Rattle passieren sollen: „Hey
John, hey Paul und George, könnt ihr mal auch ohne Instrumente
singen?“ – „Hey Sir Simon, kannste auch ohne
Orchester dirigieren, würden wir gerne mal sehen! – Ist
ja toll, Wahnsinn (klatsch, klatsch, klatsch).“
Doch das
eigentlich Interessante des Vorfalls aus Chicago ist vielmehr,
dass dem Publikum überhaupt aufgefallen ist, was für
ein Murks da stattgefunden hat und sich dagegen, wer hätte
das gedacht, zur Wehr setzt. Das lässt hoffen, dass das momentane
Künstlerdesign der Musikwerbeagenturen doch nicht so platt
hingenommen wird. Also mehr üben, weniger saufen, sonst kann
es teuer werden. Auch Tätowierungen und diverse andere chirurgische
Körperveränderungen überdecken längst nicht
musikalische Nullen.