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2003/05 | Seite 45-47
52. Jahrgang | Mai
Dossier:
Das Unterhaltende in der Musik
Einfache
Botschaften
Unterhaltende Musik über die Jahrhunderte Von Uli Führe
Der armen U-Musik haftet immer ein Hauch von Seichtheit an. Wenn
man an die Retortenmädels vom Schlage einer Britney Spears,
den No Angels oder an den überspannten Küblböck-Frosch
denkt, dann müsste man es eigentlich mit der Angst zu tun
bekommen. Bekommt man aber nicht. So etwas ist kein Kulturschaden.
Das sind zwangsläufige Erscheinungen einer unerschöpflichen
und vitalen Unterhaltungsindustrie. Diese Industrie verbraucht
und gebiert ständig Futter. In immer wiederkehrenden Varianten
verschlingen wir zeitgemäße Sensationen, die zwischen
Exhibitionismus, Begabung, Zeitgeist und Gier angesiedelt sind.
Solche Phänomene sind uralt. Kein Musiker würde behaupten,
dass zum Beispiel Paganini eine Herausforderung für den Verstand
wäre. Er beeindruckt mit aberwitzigen Dezimläufen und
denkbar weiten Sprüngen den Kulturzirkus. Applaus. Im nächsten
Jahr kommt einer, der es noch schneller kann. Ein anderer schafft
es mit Liszt und Tücke. Art Tatum vollbrachte wahre Wunder
mit seinen breiten Händen. Unnachahmlich ist seine Virtuosität,
mit der er schlichte Boogies und Bluesnummern aufgedonnert hat.
Aber auch hier wird die Geschwindigkeit oft zum Selbstläufer.
Und es macht Spaß so etwas zu hören, ähnlich begeistern
uns die Mitglieder vom chinesischen Staatszirkus. Ob rasante Chromatikläufe
oder Tellerakrobatik, ob schrilles Outfit unter dem dünnen
Stimmchen oder ein Affe, der schreiben kann, all diese Unterhaltung
nimmt uns ein Weilchen fort vom Alltagsort.
Diven der Gegenwart unter
sich: der Chansonnier Timm Fischer… (Abbildung aus
dem Cover seiner aktuellen CD „Walzerdelirium)
Es gibt ein offenes Geheimnis,
das leider immer noch nicht in
den Elfenbeinturm der hehren
Hochkunst eingedrungen ist. Das ist nämlich das Phänomen der Fassbarkeit.
Unser Hirn kann im Schnitt nur eine bestimmte Menge von Musikportionen aufnehmen.
Wohldosierte Rhythmushäppchen, ausgeklügelte Melodiebögen, an
die man sich auch noch nach fünf Sekunden erinnert, und Harmoniezusammenhänge,
die unser Hirn sinnvoll zusammensetzt. Wenn man zuviel davon bekommt, dann
ergibt sich schnell ein Völlegefühl. Und wenn die Informationen noch
dichter werden, dann folgt Übelkeit. Viele E-Musik-Komponisten sind so
einsam in ihren Stuben, dass sie längst vergessen haben, dass nicht jeder
Mensch, und sei er noch so willig, sich tagtäglich mit seiner komplexen
Partitur auseinandersetzen will. Angenommen, der Komponist bezieht sich vielsagend
auf, sagen wir mal, Wagners Götterdämmerung, II Szene, 1.Takt nach
Ziffer 43. Er setzt diesen Akkord aus geschichteten Terzen in Beziehung zum
Djingle der Tagesschau (auch Terzenschichtung!) von 1968 und findet diesen
Bezug höchst bedeutungsvoll. Daraus macht er ein Stück von zwölf
Minuten, witzig, wenn man noch an die Instrumentierung denkt: Kontrafagott,
13 Streicher und einen Vietnam-O-Ton. Da hat sich dieser Mensch darüber
ein ganzes Jahr Gedanken gemacht. Alles wurde verdichtet und dazu entstand
ein sechsseitiger Begleittext und trotzdem kann unser kleines dummes Hirn das
genauso wenig aufnehmen wie die ersten 100 Seiten aus dem Hamburger Telefonbuch.
Tüftler am Werk
Auf der anderen Seite gibt es solche Gemütsmenschen wie Bruce
Springsteen, der gesagt hat: In einem Dreiminutensong habe er mehr
gelernt als in drei Jahren auf dem College. So ist das nun mal.
Jetzt macht er Unterhaltung mit Dreiminutensongs. Auch diese sind
ausgetüftelt. Die Hooks sind griffig, die Akkorde schön
sparsam und bloß keine Taktwechsel, damit es niemanden raushaut,
wenn er mit dem Kopf dazu wackelt. Menschliches Sein benötigt,
zumindest für die Mehrheit von uns, einfache Botschaften.
Wenn Westernhagen am Brandenburger Tor „Freiheit“ singt
und Tausende ziehen ihre Feuerzeuge aus den Taschen, dann spürt
und versteht jeder, worum es geht.
Wenn Pur schön schwäbisch ungefährlich vom Abenteuerland
schwärmt, klinkt sich der Fan und die Fanin mit ein und verschwindet
mit dem CD-Glider in den Schluchten vom Europapark Rust. Wenn Nena
mit unerschütterlicher Teenigkeit immer wieder 99 Luftballons
hochgehen lässt, dann hängen sich alle dran und genießen
Höhenluft.
Riemann
„Unterhaltungsmusik, ein Phänomen, das sich seit dem
2. Drittel des 19. Jh. beobachten lässt. Als Terminus bezeichnet
U. jenen Bereich musikalischer Produktion, der sich seit jener
Zeit vor
dem Hintergrund der verwandelten sozialen und technischen Verhältnisse
als eine Subkultur von der offiziellen Musik sich abhebt, die zur
U. als Kontrapost. mit „Ernste Musik“ bezeichnet wird. – Unterhaltsame
Musik hat es zu allen Zeiten gegeben....“
Es gibt diese große Kluft zwischen dem Unterhaltsamen und
dem edlen Rest. U-Musik hat in bestimmten Kreisen einen üblen
Geruch. U-Musik fasst man nicht an. U-Musik ist minderwertig. Solche
Kümmernisse hatten unsere Vorfahren nicht. U-Musik war einfach
Musik. In der Kirche sang man fromm und draußen ging es mit
der Pavane weiter.
Die Anfänge
Nehmen wir die Zeit um 1400. Oswald von Wolkenstein hatte sich
zu diesem Zeitpunkt schon mächtig durch die europäischen
Landschaften geprügelt und geraubt. Gleichzeitig nahm er
an Musik mit, was er nur bekommen konnte. Er benutzte größtenteils
die bestehenden Kompositionen und textierte sie neu. Das diente
seinem Vergnügen, aber auch seine Zuhörer werden ihre
Freude gehabt haben, wenn er anhob:
„Frölich geschray so well
wir machen lachen
Swachen den zwar der
uns nicht gevellt
Junckfrow sind die ayr
noch gar gezellt...“
Der Text sprüht nur so vor erotischer Spannung. Alles bewegt
sich zwischen Saufen, Fressen und anderen menschlichen Genüssen.
Er fasste dies etwa in die damals modische Form eines Rondeau (a
b a’ a a’ b a b), und setzte den Diskant und eine Tenorstimme
dazu. Natürlich war Wolkenstein als adeliger Rabauke privilegiert.
Er hatte seine Burg verloren, schwupp eroberte er sich mit seinem
Brüderchen eine neue. Er hatte sein Geld verspielt, also presste
er die Bauern aus, wie das im Adel so üblich war. Er bereiste
die Welt und lernte sehr viel kennen. Und wenn es ihm diente, dann
kungelte er mit den Großen. Man sieht ihn im Dienste von
König Sigismund auf dem Konzil zu Konstanz um 1415.
Und genau in diesem Milieu, zwischen Hochadel und Volk, gediehen
seine Lieder. Genial in der Form, waren sie völlig neu in
der sprachspielerischen Textarbeit. Und alles dreht sich meistens
um die drei grundständigen Bedürfnissen: Fressen, Saufen,
V...! Nur als er älter wurde, mischtensich ein paar geistliche
Lieder darunter. Er wollte wohl vorbauen.
Bei dem Kanon „her wiert uns dürstet“ entwirft
Wolkenstein auf engstem Raum eine pralle Wirtshausszene. Die Stube
ist voll besetzt, es riecht nach Braten und Wein. Die Stimmung
ist erotisch aufgeladen. Die Männer pendeln zwischen Anmache
und Aggression.
Strophe 3: Dass wir wie die Böcke ranzen. (Muss nicht übersetzt
werden)
Strophe 6: Da Arschloch, schau nicht wie ein Blödel!
Und weil es in den Wirtshäusern nicht so ordentlich zuging
wie in den Klöstern, schrieen die Leute wild durcheinander: „Bring
her den Wein! Trag auf den Wein! Nun, schenk ein!“ Satztechnisch
ist das so ausgetüftelt, dass jeder Ruf seinen eigenen Impuls
hat, und aus dem Gewebe der Impulse entsteht die Wirtshausmechanik.
Bleiben wir in dieser Zeit und werfen einen Blick nach Spanien.
Um 1400 wurde dort das „Libre Vermell“ im Kloster Montserrat
verfasst. Überliefert sind 137 Seiten mit geistlichen Liedern.
Aber so geistlich waren die in der musikalischen Substanz gar nicht.
Natürlich waren die Texte fromm. Doch die Musik war den Pilgern
abgelauscht, die am Abend vor den Kirchen die Tänze und Gesänge
ihrer jeweiligen Region feierten. Tanzmusik war also die Grundlage
dieser kraftvollen Gesänge. Ermahnend schrieben die Mönche,
dass die Lieder in „anständiger Weise und maßvoll
verwendet werden sollen, damit diejenigen nicht gestört werden,
die ihre Gebete und frommen Betrachtungen fortsetzen wollen.“
Er ist hübsch, der Trottel!
Um 1550 schrieb in Frankreich Pierre Certon sein „Je ne l’ose
dire“. Auf engstem Raum inszenierte er eine Mischung aus
Spott und Story. Zuerst zaudert der Chor vor sich hin „Ja,
wir würden es ja gerne sagen, aber wir trauen uns nicht, aber,
ja, es wird doch mal rauskommen,...“ Was denn? „Also
gut: Bei uns in der Stadt lebt ein Mann. Voller Eifersucht, weil
ihm seine Frau dauernd die Hörner aufsetzt. Und voller Argwohn
tut er ihr alles zu Willen. Er ist hin- und hergerissen, dieser
arme Kerl.“ Und schon geht es weiter mit dem Getuschel. Reine
Unterhaltungsmusik für eine neue Schicht von gut situierten
Bürgern. Das Geld war da, man konnte sich Musik leisten. Lustig
auf andere Weise wirken diese Sätze heute, wenn sie im üblichen
unten-schwarz-oben-weiß von den Chören dargeboten werden.
Parallel dazu spielte Orlando di Lasso mit den edlen Formen der
Satzkunst. Audite nova! Hört das Neueste! Ein Bauer hat eine
fette Gans, die muss man rupfen, braten und essen, und dann kommt
der Wein. Nach dem gelehrten imitatorischen Anfang, bei dem man
denkt, aha, es kommt etwas Gebildetes, geht’s Ruck Zuck über
in ein Sprach- und damit Klangspiel, und am Ende mündet alles
im homophonen Packen, der die Leute mit den Gläsern in der
Hand um die Tische bündelt.
Il est bel et bon
Und noch mal ein Hit, gleiche Zeit, gleiche Technik: „Il
est bel et bon! Der gute Mann macht alles was ich will, “ freut
sich die Frau. Irgendeine Urahnin von Alice Schwarzer hatte sich
ihren Traum vom braven Mann schon längst verwirklicht. Eine
Frau nahm sich ein Schaf von Mann, der brav die Hühner füttert.
Dann ist er aus dem Haus, und die Dame vergnügt sich auf andere
Weise. Imitation, Rezitationsrhythmik mit anschließendem
Hühnerhaus „co co co co co co da! Petite coquette!“ So
saßen damals die notenkundigen Bürger zusammen und inszenierten
im Madrigale einen Hühnerstall. Dabei wechselten sie ihre
Blicke: „He, guck mal, der Bass, der merkt es nicht. Seine
Frau und Jean-Luc! Dummer Kerl – coco di, coco da!“ Das
hat sicher Spaß gemacht.
Zu Telemanns Zeiten vergnügte man sich im Kantatenstil. Er
verfasste eine Trauermusik eines kunsterfahrenen Kanarienvogels,
der mit basso continuo und drei Streichern zu Grabe getragen wird.
Wenn man nicht genau zuhört, dann denkt man, ein Fürst
hätte das Zeitliche gesegnet. In einem anderen Falle inszeniert
er eine Schulsituation, bei der die Schüler ihre hochgebildeten
Lehrer mit einem „Ceciderunt in profundum“ verspotten.
Die ganze Büffelei nutzt doch nichts, wenn selbst die schlauen
Herren wie Aristoteles, Plato und Euripides zur Hölle fahren
müssen.
Überhaupt waren die Barockleute quickmuntere Kerlchen. Couperin
verspottete mit seinem Cembalo die Musikerkollegen. Es gab damals
eine Zunft, die sich unter dem Namen „ménestriers“ zusammengeschlossen
hatte. Übrigens schon 1321!
Diese würdige Zunft versuchte ähnlich wie eine Gewerkschaft,
Einfluss auf alle Organisten, Komponisten und Clavecinisten zu
nehmen, und dazu hatten sie auch den Segen des Königs. Couperin
widmete ihnen ein Cembalostück, bei dem er die ehrenwerten
Herren durch den Kakao zieht. Schließlich im letzten Stück
lässt er die Knüppel auf die Pfründebewahrer nieder
fahren.
Oder der Gambenvirtuose Marin Marais: Ganz aufgeklärt schrieb
er eine Suite über eine Gallensteinoperation. Auf solche Ideen
muss man erst mal kommen. Und der Adel lauschte, wie der Patient
sich hinlegt, wie er wimmert, wie das Blut sickert und wie dann
schließlich der Stein in die Schale fällt. Die Genesung
bildet den glorreichen Abschluss.
Klassik mit Beyfall
Mozart ist Unterhaltung pur, zumin-dest sehr oft. Sein Vater
Leopold Mozart ermahnte ihn: „Vergiss das so genannte populare
nicht...“. Am 28. Dezember 1782 schrieb er an seinen Vater: „ – um
beyfall zu erhalten muß man sachen schreiben, die so verständlich
sind, dass es ein fiacre nachsingen könnte,...“ (Dieter
Bohlen wird sich bei seiner Arbeit kaum anderes denken.) Für
einen Figaro brauchte man keine sechsseitige Gebrauchsanweisung.
Der benötigte vielmehr eine Genehmigung der Geheimpolizei,
beziehungsweise der Zensur. Nur zu gut verstand man, dass die
letzten Stündchen des blutsaugenden Adels geschlagen hatten.
Der aufgeklärte Kaiser Joseph sah es mit vergnüglicher
Duldung. Die Musik war damals noch nicht im weihevollen Stillhalte-
und Applauskorsett eingeschürt. Wenn etwas gefiel, dann musste
eine Arie halt fünfmal gesungen werden. Wenn nicht, dann zischte
man, bis die Geigen einpackten. Neben den Konzerträumen befanden
sich Spieltische und Erfrischungsstände, wo man nach dem Kopf
und Herz den Magen vergnügen konnte.
Mozart und Clementi
Wenn heute eine Julliette gegen einen Alexander antritt, dann
steht das in einer alten Tradition. Ich meine nicht einen Sängerwettstreit
mit Hans Sachs und Konsorten in Wagner’scher Manier. 1781
arrangierte Kaiser Joseph II., dass der uneingeweihte Mozart
auf einen Herrn Clementi traf. Dieser beschrieb anschließend
die Begegnungder „Superstars des Rokoko“:
„Kaum einige Tage in Wien anwesend, erhielt ich von Seiten des Kaisers
eine Einladung, mich vor ihm auf dem Fortepiano hören zu lassen.
In dessen Musiksaal eintretend, fand ich daselbst jemand, den ich
seines eleganten Äußeren wegen für einen kaiserliche
Kammerherrn hielt; allein kaum hatten wir die Unterhaltung angeknüpft,
als diese sofort auf musikalische Gegenstände überging
und wir uns bald als Kunstgenossen – als Mozart und Clementi – erkannten
und freundlichst begrüßten.“
Kaiser Joseph ließ die beiden über ein von ihm gestelltes
Thema improvisieren. Ein erlesener Kulturkitzel für die höhere
Gesellschaft. Lohn für Mozart 50 Gulden, gleich 225 Dukaten.
Eine Dukate macht ungefähr umgerechnet einen Wert von heutigen
20 Euro, macht rückblickend 9.000 Euro. Geht doch.
Ein besonderes Beispiel für unterhaltsame Musik ist Mozarts
parodistische Sinfonie: Ein musikalischer Spaß (KV 522). „Freilich
ist dies ein bitterer Spaß, der unmusikalischen Dilettantismus
recht unbarmherzig verspottet.“ (Braunbehrens)
Mozart macht sich lustig über die kompositionstechnischen
Unzulänglichkeiten seiner Zeitgenossen. Schmerzhafte Parallelen
und formale Ruppigkeiten stören genauso wie architektonisch
verunglückte Melodien. Dem heutigen Normalhörer erschließt
sich hier nicht unbedingt der Humor. Aber jeder Klassikfreak kann
sich auch heute noch an diesem Späßchen ergötzen.
UF-da-da
Schubert sagte zwar, er kenne keine lustige Musik, dafür gab
es aber immer lustbringende Musik.
Im 19. Jahrhundert kam das Wort Unterhaltungsmusik auf die Welt.
Schon viele hundert Jahre kroch sie durch die Gehörgänge,
aber erst jetzt klebte man ein Etikett auf eine bestimmte Art von
Musik. Musik, zu der man sich bestens unterhält. Musik, schön
verpackt, die nicht wehtut, die niemanden bilden will und auch
sonst keine größeren Ansprüche stellt. Und oft
war die Musik motorisch so anregend, dass man sich von seinem Sitz
erhob und losstürmte.
Wenn man heute im Fernsehen das Neujahrskonzert mit Walzermusik
hört, dann hat das mit den Ursprüngen nichts mehr zu
tun. Die artigen höheren Töchter und Pelzmantelträgerinnen
mit den dicken Klunkern unterm Doppelkinn würden staunen,
welche Kraft der Walzer, beziehungsweise Dreher früher hatte.
Der Walzer war eine subversive Erotikmusik. Neben ihm erscheint
der heutige Tango als keusche Bewegungsübung. Beim Tanz gehörte
der Griff zwischen die Schenkel zum Bewegungsrepertoire, der allerdings
polizeilich verfolgt wurde. So heißt es bei Ernst Moritz
Arndt (1804): „...und so ging das Gedrehe in den unanständigsten
Stellungen fort; die haltende Hand lag hart auf den Brüsten
und machte mit jeder Bewegung kleine lüsterne Eindrücke.
Bey den Umwälzungen auf der abgewandten Lichtseite gab es
dabei keckere Eingriffe und Küsse. .. ich begreife nun sehr
wohl, warum man hie und da im Schwaben- und Schweizerland den Walzer
verboten hat.“ Preußen wurde in diesem Punkte wieder
einmal seinem Ruf gerecht. Dort war es eindeutig verboten, den
Walzer linksherum auszuführen. Man belegte diese Tanzrichtung
mit einem Polizeiverbot. Das alles hat natürlich nichts mehr
mit den telegenen Aufführungen eines André Rieux zu
tun, der mit seinem Karnevalsorchester durch die Kanäle walzt.
Aber eines muss man ihm lassen. Die große Mehrheit sieht
endlich einmal wieder eine Geige in Großaufnahme.
Sach-Lexikon Popularmusik
„
Unterhaltungsmusik: kaum eindeutig festlegbare Form von Hintergrundmusik,
die sich ausschließlich funktional, als Hintergrund für
Unterhaltung, definiert. Was da jeweils ist oder sein kann, hängt
sehr von den konkreten Bedingungen ab und entsprechend unscharf
ist der Begriffsgebrauch. ...Unterhaltungsmusik wurde (so) bis
in die 50er-Jahre zu einem Oberbegriff für alle im Rundfunk
gesendeten oder produzierten Formen populärer Musik.“
„
Und der Haifisch, der hat Zähne...“, das entdeckte 1928
der menschliche Naturforscher Brecht und Weill gab den Zeilen Klangfleisch.
Wer kennt sie nicht, die Moritat? Dieser Song wurde einer der wenigen
Exportschlager deutscher Popularmusik. Tausendfach vereinnahmt,
umgestaltet und weitergeführt. Jedes Lied, das zum wahren
Volkslied wird, ereilt das gleiche Schicksal: Es wird einfach benutzt,
bis zur Unkenntlichkeit. Im Original von 1930 meckert Kurt Gerron
die Moritat in das Mikrofon. Die knarzige Stimme mit dem Berliner
Unterton klingt wie ein akustisches Otto-Dix-Bild.
Vor kurzem erschien von Robbie Williams auf „Swing when you’re
winning“ seine Version. Der Haifisch ist nun hochglanzverpackt,
alles Eckige ist flachpoliert, die besungenen Morde verschwinden
in einer aalglatten Werbeästhetik. Elegant wie ein zahnloser
Tiger einer Disney-Produktion, gepaart mit der ganzen Routine ausgebuffter
Rückungsharmonik tänzelt nun Mackie Messer leichtfüßig übers
Parkett. Immerhin lernt so die Zahnspangengeneration Nummer 15
alte Musik kennen.
Die ganze Schamlosigkeit der U-Musik wird hörbar in der Aufnahme
eines Konzertmittschnitts von Frank Sinatra mit einer Big Band
in Japan. Dieser Prostitutionspatriot ist völlig hemmungslos:
Bekannt ist er für sein New York, New York! Doch genauso stadtwappenträchtig
schmalzt er für Chicago und L.A. Hauptsache, es wohnen dort
Käufer. Und zwischendurch klemmt er sich eine Zigarette zwischen
die Lippen, nippt am Glas und macht einen auf verrucht. Mackie
Messer nimmt Gestalt an in dem Entertainer mit mafiösem Dunst,
und er entfaltet einen neuen Zauber. Dieser Sinatra besetzt jeden
Raum mit seinem Ego und überzeugt. Seine leicht überreizte
Stimme von viel zu langen Nächten und Alkohol dirigiert eine
ganze Horde von Haifischen, und das Volk applaudiert wie ein Heringschwarm – mit
Recht. In dieser Schamlosigkeit der Anbiederung liegt genauso viel
Wahrheit, wie zum Beispiel in einem Gutmenschenlied im Stile von „Universal
soldier“.
„
Und der Haifisch“ war nur einer von vielen Schlagern, die
in der Blüte der 20er- und 30er-Jahren in Deutschland entstanden.
Leider wurden diese Höhen so nicht wieder erreicht.
Boulez und Enterprise
Kleiner Seitenblick, 50er-Jahre. Nehmen wir etwa Pierre Boulez’ „Poésie
pour pouvoir“ (1958). Dem geübten Kinogänger und
TV-Konsumenten kommt an dieser Komposition überhaupt nichts
ungewöhnlich vor. Alles klingt nach Raumschiff Enterprise
oder wie eine Suche nach den letzten Sauriern im Dschungel von
Borneo. Einen wichtigen Unterschied gibt es. Boulez benötigte
einen hochsubventionierten Orchesterapparat und heute macht das
alles ein einziger Filmmusiker mit seinem Keyboard, Sequenzerprogramm
und einer Unmenge von Samples. Ja, oftmals findet man in den trivialsten
Streifen wunderbare Musik, Klangkollagen und keiner hört es.
Würde man Auszüge davon in Donaueschingen aufführen,
bekäme man erlauchten Applaus.
Rock dich reif
…und die portugiesische
Jazzsängerin Maria João. Foto: Martin Hufner
Wie eine Explosion wirkte der Rock’ n’ Roll, der seit
den 50er-Jahren die jungen Leute mitriss. Endlich hatte eine neue
Generation, die nicht mehr in die vorfertigten Lebensentwürfe
der Eltern hineinschlüpfen wollte, ihre ureigene Musik. Zwischen
James Dean und Bill Haley konnte man seine pubertären Seile
aufspannen, und in einer Versichertengesellschaft über Abgründe
balancieren. Und laut musste es ein, damit man auch wirklich merkte,
dass man lebte. Das hat sich bis heute nicht mehr verändert.
Die ganze Rotzlöffeligkeit einer menschlichen Entwicklungsphase
bekam ihren entsprechenden Ausdruck, und die Kassen klingelten
(und klingeln) in Profit-Dur. Innerhalb dieser Tonart tummelten
sich ganz neue Kreativprozessoren, wie man sie bis dahin nicht
kannte. Nehmen wir die Beatles. George Martin über die Arbeitsweise
der Newcomer: „Selbst ich habe das anfangs nicht verstanden.
Schon als ich sie zum ersten Mal traf, fiel mir auf, dass bei ihnen
keiner das Sagen hatte. Es redeten immer alle, einer nach dem andern.
Ich ging nach Hause und wunderte mich, wer von ihnen sich wohl
als Star entpuppen würde. Mein Denken war so geprägt
durch Leute wie Cliff Richard und Tommy Steel, dass ich mir einfach
nicht vorstellen konnte, wie eine Gruppe als Gruppe hätte
erfolgreich sein können. Ich dachte, am Ende wird einer im
Vordergrund stehen... Ich hatte unrecht.“ Nicht nur er. Die
vier sprühten nur so vor Schöpferkraft. Und das alles
ohne ein sprödes Notenkorsett. McCartney konnte sie nicht
lesen und er will es auch nicht. Auch eine Art, Musikgeschichte
zu schreiben.
Umgekehrte Suppenteller
Seit 30 Jahren blüht auf der Musikwiese die lodengrüne
volkstümliche Musik. Die Menschen hocken in ihren Betonhäusern
im siebten Stock, an der Wand die selbst gestickte Carmen, auf
dem Tisch das Erdinger Weißbier und im Herzen die Sehnsucht,
irgendwo dazuzugehören. Statt im eigenen Vorgarten zu sitzen,
halten sie sich von Sende- zu Sendezeit an die zwei Wildecker Herzbuben,
jene „ lustigen, prall aufgepumpte Gartenzwerge... in bunten
Westchen mit umgekehrten Suppentellern auf dem Kopf...“ Das
ist Gestalt gewordene Hemmungslosigkeit, für die es das immerwährende,
uralte Menschengesetz gibt – und das heißt Gier. Oder
wenn der gelernte Bäcker Heinz Georg Kramm alias Heino „Blau,
blau, blau blüht der Enzian“ dröhnt, dann muss
man sich der erbarmungslosen Gemütlichkeit ergeben. Übrigens
hat der Herr 35 Millionen Schallplatten verkauft. Wolfgang Rihm
weiß vermutlich gar nicht, wie viele Nullen so etwas hat.
Er ist ja auch keine. Trotzt allem: Volkstümlichkeit hilft.
Diese Großverdiener bedienen mit ihren durchsichtigen Schablonen
die emotionalen Grundbedürfnisse der Menschen. Wie heilsam
sind doch die Botschaften vom Enzian und Herzilein, wenn man kaum
den Fahrkartenschalter an der S-Bahn bedienen kann. Wer darüber
spottet, sollte zuerst einmal die Fahrkartenschalter ändern.
Höhepunkt der Unterhaltung ist aber, wenn sie sich selbst
bestens unterhält. Elvis Presley sang Ende der 60er-Jahre
wieder einmal „Are you lonesome tonight“, vermutlich
kam er zu spät oder gar nicht zur Probe. Seine Manager hatten
ihm eine Band hingestellt mit den üblichen background vocals.
Offensichtlich waren ihm nicht alle vertraut. Denn diesmal sang
eine neue Sängerin ihr „uuh“ und Elvis konnte
ihr nicht standhalten. Das Lächerliche dieser perfekt geführten
Stimme (man hört leider die Ausbildung) nahm ihn in die Zange
und er musste zuerst kichern. Ganz Profi fiel er immer wieder in
die ausgeleierten Bahnen des Songs zurück, die „Uh-
und Ah“-Dame warf ihn aber immer mehr aus der Bahn. Presley
bemühte zwischenzeitlich den lieben Gott, „oh Lord“!
Der half aber auch nicht weiter und die Lachnummer bekam ihr Crescendo.
Selbst ein Korrekturschlag des Schlagzeugers – he Bursche,
jetzt reiß dich zusammen – fruchtete nichts mehr. Presley
lachte ein Lachen über den eigenen Kult. Für diesen Augenblick
wird er greifbarer Mensch und die Aufnahme gelang zu einem Dokument
der Unmittelbarkeit. Die Glitzerwelt und die schnellen Gefühle
fielen herunter wie ein überdimensionierter Mantel und es
erschien das große Spiel der Wahrheiten und Hilfslügen,
die das Leben erst erträglich machen. Übrig blieb eine
musikalische Situationskomik, wie es sich kein Regisseur hätte
besser ausdenken können. Unterhaltung in Höchstform.
U-Musik und Musikpädagogik
Jahrelang galt Debussys Cakewalk als großzügige Geste
des Lehrers gegenüber seinem Schüler: „So, jetzt
spielen wir mal etwas Unterhaltsames. Das macht doch Spaß,
nicht?“ Mittlerweile sind die Pianisten gut bedient, wenn
es um Boogies und jazzige Sätze geht. Da ist ein neuer Mikrokosmos
entstanden. Ähnlich geht es den Gitarristen.
Sie können sich aus dem Fundus des letzten Jahrhunderts prächtig
bedienen. Leider lernen die Gitarristen an den Hochschulen in dieser
Hinsicht fast gar nichts. Liedbegleitung, Schlagtechnik, Stilarten
und Improvisation bleibt immer Eigenbau. Zum Glück sind Gitarristen
mit ihren Bands vielseitige Heimwerker. Die Orgel ist ein relativ
U-musikfreies Gebiet genauso wie die Geige. Was wäre man ohne
Piazzolla? Die Blechbläser haben historisch bedingt eine reichere
Auswahl als die Holzbläser. Ein „John Browns Body...“ klingt
naturgemäß auf dem Saxophon modriger als auf der Sopranflöte.
Das ist aber nicht das Problem.
Es sind die Hochschulen, die mit beiden Beinen fest im 19.Jahrhundert
stehen. Dort sind Menschen, Lehrer und Studenten, die seit ihrer
Kindheit hauptsächlich mit E-Musik aufgewachsen sind. Sie
haben Tausende von Stunden einer musikalischen Prägung hinter
sich, für Raab und Rap blieb kaum noch Zeit. Und diese hochgeschulten
Hochschullehrer vollbringen Höchstleistungen einer Reproduktivkunst,
bei der Einseitigkeit der Preis dafür ist.
Man kann nicht auf allen Hochzeiten spielen. Problem ist nur, dass
die dummen Schüler aus einer anderen Musikwelt kommen. Sie
merken ziemlich schnell, dass der Oboenlehrer nicht weiß,
wer Celine Dion ist. Und übrig bleibt der Kampf der Welten,
beziehungsweise die Kenntnislosigkeit verschiedener Musikstile.
Das muss man sich mal vorstellen. Es gibt eine Musikerelite, die
90 Prozent der gegenwärtigen Musik nicht zur Kenntnis nimmt!
Und wenn, dann nur mit einem müden Lächeln. Gut, von
den 90 Prozent kann man getrost einen Großteil der Gnade
des schnellen Vergessens anvertrauen. Aber es gibt immer noch so
viel Innovatives, was unser aller Leben eigentlich bereichern könnte.
Hier ein paar Richtungsschilder: Björk, Abba (die Unterschätzten),
Abou Khalil, Joao Bosco, Nora Jones und die Dixie Chicks. Alles
Hochkaräter! Alles erstklassige Musiker und Musik!
Doch so schnell wird sich an dieser Weltenteilung nichts ändern.
Auf der einen Seite bleibt der riesige Pool der U-Musiker, und
auf der anderen Seite steht die edle Kaste der Rekreationskünstler
wie etwa der Lautenist, der nur Barocklaute spielt. Und dort am
liebsten Leopold Weiß. Aber so etwas regelt sich durch das
tägliche Brot.
Bofinger: „…, dass der Gehalt eines Kunstwerks menschlich
bedeutungsvoll sein und der Ausweitung des fühlenden Vorstellens
und überhaupt des geistigen Lebens dienen müsse” und „dass
eine künstlerische Form nur dann eine Daseinsberechtigung
hat, wenn sie von einem entsprechenden Gehalte erfüllt ist.”
Das waren noch Ideale. Musik als Bildungszuchtmeister. Das kann
zum Glück niemand mehr wollen. Man täte dem Menschen
unrecht, wenn man ihn auf einen ewig Strebenden reduzieren wollte.
Die U-Musik gehört zum Leben einer Medienzeit, bei der Gefühle
tatsächlich über Kanäle gesteuert werden. Wehe
wenn MTV ausfällt und der 15-Jährige will gerade das
gucken.
Unterhaltungsmusik hat etwas mit einem gemachten Bett zu tun, in
das man sich zu jeder Zeit hineinlegen kann. Sie hat etwas zu tun
mit Ketchup. Passt zu allem, ist süß und salzig, aber
beides moderato, und die Farbe erst! Dieses Rot! Unterhaltungsmusik
tut einfach gut. Wer will immer auf den harten Stühlen der
E-Musik sitzen, da lob ich mir doch die Hängematte. U-Musik,
die Unkomplizierte und die Unmittelbare, ist ein wunderbares Gleitmittel,
um durch den Alltag einer komplexen Welt zu kommen. Selbst für
diejenigen, denen das alles nicht gefällt, hat sie die perfekte
Lösung: Let it be!
Uli Führe
Uli Führe, 1957 in Lörrach geboren, Kursleiter in den
Bereichen Stimmbildung für Musikerzieher, Lehrkräfte
und Chorsänger, Chorleitung und Popularmusik, Liedpädagogik;
Lehrauftrag an der Musikhochschule in Freiburg für Improvisation
und Stimmbildung. Vielseitige Veröffentlichungen, bekannt
ist Führe im süddeutschen Raum für sein Kleinkunstprogramm,
unter anderem Kleinkunstpreis des Landes Baden-Württemberg,
diverse Cds.