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2003/05 | Seite 48
52. Jahrgang | Mai
Dossier:
Das Unterhaltende in der Musik
Zu Tode vergnügt – der Kunst entfremdet
Musikalische Unterhaltung als variabler Begriff · Von
Reinhard Schulz
Musikalische Unterhaltung ist ein ambivalenter Begriff. Musik,
die nicht unterhält (im weitesten Sinne), hat keine Existenzberechtigung.
Kunst darf alles, nur nicht langweilen, hat Arnold Schönberg
einmal gesagt – ein Komponist, der des Genres der sogenannten
Unterhaltungsmusik weitgehend unverdächtig ist. Das Vermeiden
von Langeweile ist aber Indiz des Unterhaltenden. So ist es, dies
vorab, ohne Vorbehalte zu begrüßen, wenn sich der VdM
bei seinem Musikschulkongress 2003 dem Begriff des Unterhaltenden
in der Musik in einem großen thematischen Aufriss stellt.
Schönheitsideal stramme
Beine: die Tiller Girls versetzten in den Roaring Twenties
die Männerwelt in Aufregung. Foto: nmz
Nun ist freilich der Begriff Unterhaltung, der übrigens
nicht ganz leicht und nur mit begrifflichen
Verschiebungen in andere Sprachen zu übersetzen ist, mehrfach korrumpiert.
Unterhaltung meint zunächst das eher zwanglose Gespräch: ein Gespräch
von vielleicht untergeordneter Haltung, was sowohl die gegenseitige Positionierung
der Sprechenden meinen kann als auch die Bedeutung des Gesprochenen. Unterhalten
heißt aber auch, die Basisbedingungen menschlicher Existenz zu sichern,
was in Begriffen wie „Unterhalt zahlen“ anklingen mag. Eine gewisse
Leichtigkeit des Seins resultiert aus beiden Begriffspolen. Wer unterhält
(von unten hält?), beschwert nicht – selbst wenn er sich in einer
Unterhaltung über so manches beschweren mag. Diese Zwanglosigkeit äußert
sich auch in der unveränderten aktiven wie passiven Form des Verbs: Man
kann unterhalten, man wird unterhalten. Nicht selten geht beides in eines.
Die Zeit indes, die lastende, bedrückende, quälende oder leere Zeit,
wird vertrieben. Diese Erleichterung schafft Wohlbefinden.
Unterhaltung als Negativum
Nun kennen wir aber auch den Begriff der Unterhaltung in abwertendem,
in relativierendem Sinne. Selbst gute Unterhaltung ist nicht
alles. Man stelle sich vor, jemand ginge in ein hochgelobtes
Lokal und er würde, nach der Qualität des Essens befragt,
antworten, er habe sich im Restaurant gut unterhalten. Ein anderer
besucht ein Konzert mit, sagen wir, Beethovens Neunter oder Bachs
Matthäuspassion, ein dritter geht in eine Gemäldeausstellung
oder in eine Schauspielaufführung. Ihr Urteil, sie hätten
sich trefflich unterhalten, müsste als abschätziges,
zumindest als einschränkendes gewertet werden. Ein wenig
anders ist das beim Film (insbesondere Marke Hollywood) oder
beim Kabarett. Hier wirkt der Begriff der Unterhaltung deckungsgleicher
mit dem Ansinnen dieser Kunstformen. Noch entschiedener ist dies
der Fall im heutigen Massenmedium Nummer eins (noch), dem Fernsehen,
vor allem in den diversen Talkshows, den Soap-Operas und anderen
Entertainment-Aktionen, zu denen auch die diversen musikalischen
Events zwischen Volksmusik und Pop zählen. Bei den meisten
Computerspielen hat der Begriff Unterhaltung mittlerweile schon
seine Basis verloren. Hier trifft der Aspekt des Totschlagens
der Zeit schon mehr das Wesen. Bezeichnend immerhin ist, dies
mag Indiz für heutige Befindlichkeit sein, dass sie dennoch
breite Faszination ausüben.
Subjekt-Objekt
Es ist eine schwerwiegende Verlagerung der Gewichte (auch die
hiesige GEMA-Trennung in Unterhaltungsmusik und Ernste Musik hat
hieran
Anteil), dass der Begriff Unterhaltung maßgeblich auf der
Objekt-Seite angewandt wird. Ein kulturelles Produkt wird dem
Unterhaltungssektor zugerechnet, einem anderen wird via Dekret
das Unterhaltende verweigert – es wird zur ernsten, ernsthaften,
mit Sinn erfüllten Kunst geadelt und weggelobt. Statistische
Aspekte spielen hierbei eine nicht zu unterschätzende Rolle:
Die Masse darf sich unterhalten, die Elite, was immer dies auch
ist, tummelt sich in den höheren Sphären, wo via Kunst
Weltanschauung, Einsichten ins „Tiefere“, schlimmstenfalls
Erbauung vermittelt wird. Die als schnöde apostrophierte
Unterhaltung hat hier keinen Platz.
Aber ist das wirklich so? Wohl kaum. Unterhaltung wäre auch
von der Subjekt-Seite, sei es vom schöpferischen oder nachschöpferischen
Künstler, sei es vom Rezipienten her, zu betrachten. Hier
stellt sich der Begriff Unterhaltung weit differenzierter dar.
Denn Unterhaltung schwindet nicht, wenn der Kunstanspruch wächst,
sie verändert sich freilich. Es wäre ein fataler Irrtum,
wenn man den Schubert der Ländler der Unterhaltungsschublade,
den des G-Dur-Quartetts aber im Fach des Nicht-Unterhaltenden,
des Ernsten ablegen würde (aber was heißt hier: wäre;
es geschieht ja - und mit der personalen Trennung zu Ländlern
von Lanner oder Strauß/Vater wird sogar ein klarer Grenzstrich
gezogen). Um den Schubert des Lindenbaums oder der Forelle mögen
sich dann beide Lager streiten.
Es ist zu behaupten: Bruckners oder Mahlers Sinfonien, der „Wozzeck“ von
Berg oder Schönbergs „Pierrot lunaire“ suchten
keineswegs das Moment der Unterhaltung auszugrenzen („Schwelgt
in den Tönen“, riet Webern den Dirigenten, die mit seinen
feinhörig ausgeklügelten musikalischen Drahtgeflechten
nichts anzufangen wussten). Was aber ausgegrenzt werden sollte,
war das Moment der künstlerischen oder ästhetischen Dummheit,
das mit Formen der Unterhaltung immer wieder liebäugelt. Berg
soll erschrocken reagiert haben, weil sein uraufgeführter „Wozzeck“ beim
Berliner Publikum so gut ankam. Es war eine Reaktion auf einen
Zustand, wo breite Akzeptanz, ob zu Recht oder auch nicht, als
Indiz für Abflachung des ästhetischen Anspruchs angesehen
werden konnte (und die Wiener Schule kehrte diesen Widerspruch
explizit, geradezu in einer Flucht nach vorne, hervor). Nicht Unterhaltung
gehört von den Frontkämpfern einer wahren und reinen
Kunst an den Pranger. („Nicht schön, sondern wahr“,
proklamierte Schönberg für das künstlerische Werk, änderte
seinen Namen aber keineswegs in Wahrberg). Hierher gehört,
und der Schönberg-Schüler Eisler tat dies, die Dummheit
in der Musik – und der Dummheit sind bekanntlich nach unten
keine Grenzen gesetzt. Und die Exegeten des Unterhaltenden hätten
nicht die Unterhaltung zu verteidigen, sie sollten statt dessen
deutlich machen, wie sie Dummheit vermeiden (oder wenigstens zugeben
müssen, dass sie Mechanismen der Dummheit im quotenbestimmten
Geschäftssinne einsetzen).
Musikalische Unterhaltung ist also ein variabler Begriff. Es
nützt
nichts, wenn die Musikgeschichte mit ihren großen Namen nach
Stücken durchforstet wird, die einer festgeschriebenen Unterhaltungsschiene
genügen (oder zu genügen scheinen: Mozarts „Musikalischer
Spaß“ etwa ist eigentlich ein tiefernstes oder zumindest
dialektisch gebrochenes Stück, das im Zusammenhang mit der
Nachricht vom Tode des Vaters entstand). Es geht um den Vernehmenden,
um den Menschen. Abgestumpfte, geistig festgefahrene oder depravierte
Individuen haben einen anderen Unterhaltungsbegriff als wache und
offene. Die Frage ist: Was wollen wir? Die Antwort scheint auf
der Hand zu liegen, tut es aber nicht so ohne weiteres. Denn in
ihrer Individualität beschnittene Wesen sind leichter und
kostengünstiger mit kulturellen Derivaten zu versorgen, sie
sind leichter zu kanalisieren, ihr Widerstand ist berechenbarer,
leichter abzulenken. Es gibt maßgebliche Kräfte im Land
(in jedem), die diese Bequemlichkeit, die für Ruhe und Ordnung
mitverantwortlich ist, weit lieber sehen.
Niveau auf Umwegen?
Es gibt eine These: Die jungen Menschen seien der Kunst entfremdet.
Das Interieur, in dem sie aufwachsen, schaffe keinen Raum dafür.
Deshalb sei ihnen „Classic light“ fast wie ein Placebo
zu verordnen, um sie Schritt für Schritt wieder der „großen
Kunst“ zuzuführen. Unterhaltung als Lockmittel. Justus
Frantz zum Beispiel ist ein Leimrutenleger dieser Art: Klassik
tut nicht weh, sie macht Spaß, sie unterhält. Wir
bewegen uns auf einer schiefen Wellness-Ebene: über Unterhaltung
zum Wesen. Geht sie wirklich hinan, öffnet sie? Zweifel
sind wohl mehr als angebracht.
Kunst oder Musik lassen sich nicht als solches Aphrodisiakum
benutzen. Die Gefahr ist, und sie scheint weit größer als der
in Aussicht gestellte Erfolg, dass das auf Weitung gerichtete Wollen
künstlerischen Tuns heruntergefahren und weggeblendet wird.
Die Wucht der Unterhaltungsmaschinerie, der Event-Euphorie und
des Entertainments fährt wie ein Bügeleisen darüber
und glättet es ein. Ein Bewusstsein entsteht, das keine Öffnung
zum Neuen, zum Andersartigen mehr sucht, sondern stets nur weitere
Bestätigung. Das Fatale am postmodernistischen „Anything
goes“, zumindest in der plump-postmodernen Verkürzung
der These, ist, dass alles gleichwertig wird. Jeder Event in diesem
Sinne ist Wasserträger eines Bedürfnisses, das immer
nur und immer wieder das Gleiche will: verschieden kostümierte
Zeittotschläger. Wir vergnügen und zu Tode. Das ist Unterhaltung
in einem erniedrigten Sinn. Es ist aber der Begriff von Unterhaltung,
der heute mehr und mehr Raum greift. Wenn man über musikalische
Unterhaltung spricht, sollte man diese Tendenzen immer im Auge
behalten.