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nmz-archiv
nmz 2003/05 | Seite 24
52. Jahrgang | Mai
Hochschule
Prävention beim Erstunterricht steht im Vordergrund
Eindeutige Aussagen auf dem 9. Europäischer Kongress für
Musikphysiologie und Musikermedizin
Unter der Schirmherrschaft des Ministers für Wissenschaft,
Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg, P. Frankenberg,
und gefördert durch die DFG gelang es dem Veranstalter, der
deutschen Gesellschaft für Musikphysiologie und Musikermedizin
unter der wissenschaftlichen Leitung von C. Spahn und B. Richter
als Mitveranstalter, nicht nur die Hochschule für Musik Freiburg
und das Universitätsklinikum Freiburg mit den Abteilungen
Psychosomatik und psychotherapeutische Medizin und der Sektion
Phoniatrie und Pädaudiologie der HNO-Klinik zu gewinnen, sondern
auch eine inhaltliche Vernetzung, den Austausch verschiedener Fachdisziplinen
und den zwischen Wissenschaftlern und Praktikern durch eine Vielfalt
von Beiträgen im Programm zu initiieren. Wissenschaftliche
Vorträge, Podiumsdiskussionen, konzertante Beiträge,
Workshops und Raum für Gespräche fanden ihren Platz und
formten ein anspruchsvolles Programm auf durchgehend sehr hohem
Niveau mit einer Fülle von Themen sowohl für den medizinischen
Spezialisten als auch für den Nichtmediziner – verständlich
(deutsch und englisch) dargeboten, professionell geplant und durchgeführt.
So fand sich dann auch ein hoch interessiertes medizinisches und
musikpädagogisches Publikum ein.
Einführung in die Prävention
Kleinste Instrumentalisten
an zu großem Instrument: Überlastung
Schon eine geringfügige gesundheitliche Beeinträchtigung,
die in anderen Berufsgruppen keine Einschränkung der Leistungsfähigkeit
darstellt, kann bei Musikern zu einem erheblichen Problem führen.
Schon die rechtzeitige Sensibilisierung für solche Probleme,
aber auch instrumentenspezifische Maßnahmen können spezifische
Krankheiten deutlich vermindern, so der Tenor im Grußwort
von P. Frankenberg und in denen der Rektorin und der Direktoren
der Abteilungen des Klinikums. J. Blum brachte es auf den Punkt,
denn das Wohlfühlen von Musikern definiert sich nicht nur
durch die Abwesenheit von Krankheit, sondern „es wirken viele
verschiedene andere Qualitäten mit, die sich auf psychologischer,
psychosomatischer, emotionaler, sozialer, aber eben auch ergonomischer,
gesangs- und instrumentaltechnischer Ebene abspielen.“ Das
Ziel der DGfMM war schon immer die Prävention, ein Gedanke,
dessen Umsetzung schwer zu vermitteln ist, wohl weil wir erst bei
entstandenem Schaden reagieren.
Den einführenden Referaten zur Definition von Prävention
(J. von Troschke), zu gesundheitsökonomischen Fragen (H. Frommhold)
und zur Frage der Gesundheitsförderung an deutschen Hochschulen
(M. Nastasi) folgte ein Überblick über die europaweite
Entwicklung von Prävention in der Musikermedizin (J. Blum).
Er zeigte positive Tendenzen, und darunter besonders wichtig und
auf gutem Wege die musikermedizinische Arbeit an den Musikhochschulen
(das Fach „Musikphysiologie“ und Musikersprechstunden
in diversen Arztpraxen) zu betreffen, aber auch noch einen weiten
Weg zur Einigkeit und zu flächendeckender Arbeit auf.
Gesundheit und Lernen
E. Altenmüller stellte heraus, dass die neurobiologische Wissenschaft
dem Musiker wie auch dem Musikpädagogen Hilfe anbieten kann.
Provokativ war die These von W. Gruhn, der fragte, ob außermusikalisches
Lernen das musikalische Lernen fördere. Er stellte hierzu
neue Forschungen aus dem Bereich der Musikpädagogik an der
Musikhochschule Freiburg und deren eventuellen Einflüsse auf
den Bereich des musikalischen Lernens vor.
M. Schuppert untersuchte die Beeinträchtigung musikalischer
Fähigkeiten im Alterungsprozess, deren Ergebnis nicht nur
für den alternden Musiker, sondern auch für den Unterricht
(betreffs Lernfähigkeit) für erwachsene Schüler
von Vorteil ist. Fazit war hier unter anderem, dass „stetes
Training das sensomotorische System stimuliert und so dem Abbau
manueller Geschicklichkeit entgegen wirkt und dass Koordination,
körperliche Ausdauer und Kraft lebenslang trainierbar sind“.
N. Ell stellte allgemeine Probleme der Musikerhand vor, um dann
praktische präventive Maßnahmen zu empfehlen: dazu gehören
unter anderem eine individuelle Spielschule, perfekte Gesamtkörperhaltung
sowie individuell angepasste Übeeinheiten, häufige geplante
Pausen, Bewegung zwischendurch, abwechslungsreiche Stücke,
regelmäßiges Ausdauertraining.
Prävention im Bereich des Gehörs, so mahnte B. Richter,
ist ein absolutes Muss, denn hier wird in hohem Maße tabuisiert
und es werden präventive Maßnahmen ignoriert. Die Belastung
ist sicher instrumentenspezifisch unterschiedlich, zum Beispiel
sind Blasmusiker und Schlagzeuger den höchsten Belastungen
ausgesetzt. In der Forderung nach wirbelsäulenspezifischer
Prävention für Musiker stellte E.J. Seidel zunächst
die hohen wiederum instrumentenspezifischen Belastungen dar und
forderte eine instrumentenspezifische Wirbelsäulendiagnostik,
nach der beanspruchungsspezifische präventive Maßnahmen
erarbeitet werden, und eine ergonomische Gestaltung von Musikinstrumenten.
Den Bereich der psychosomatischen Erkrankungen, bei denen „immer
biologische, psychologische und soziale Faktoren interagieren“,
und präventive Maßnahmen zu diesem komplexen Zusammenspiel
bearbeitete C. Spahn. Fazit hier war: „dass unsere Einstellung
zu uns selbst, die Art, wie wir denken, fühlen und handeln,
einen großen Einfluss darauf haben, wie gesund wir sind und
bleiben“.
Hochschulausbildung
E. Lange berichtete von einer Studie am Institut für Musikpädagogik
in Weimar, die analog zu bekannten Orchesteruntersuchungen die
gesundheitlichen Beschwerden von Instrumentalpädagogen untersucht,
um dann präventive Maßnahmen in diesem Bereich zu erarbeiten.
E. Altenmüller stellte eine Analyse des Präventionsprogramms „MAG – Mehr
als Gesund“ an der Musikhochschule Hannover vor, bei der
Studenten eine Reihe von Kursen auf freiwilliger Basis besuchen
konnten. Die Akzeptanz von präventiven Maßnahmen scheint
stark von musikalischer Kompetenz und/oder gewachsenem Vertrauensverhältnis
abzuhängen. W. Hildebrandt berichtete über die positive
Wirkungsweise von Ausdauertraining für Musiker bei der Bewältigung
von Stress bei Auftritt, Konzertvorbereitung und Studium. H. Görz
stellte in einer Masterclass ihr Projekt der Prävention an
der HDK Berlin vor. Der Frage, „warum normales Üben
oft keine Verbesserung bringt“, stellte sie Muskelmuster
und ihre Bedeutung im Klavierunterricht als Ansatz für Lösungen
entgegen. H. Möller unterstrich die langfristig gesundheitserhaltende
Wirkung der im Musikstudium vermittelten Kenntnisse über Musikphysiologie.
Die Umsetzung der präventiven Maßnahmen im Instrumentalunterricht
hängt also langfristig von der Ausbildung der Instrumentalpädagogen
ab, so eine seiner Thesen.
Sänger und Instrumente
In parallel laufenden Beiträgen wurden Sänger und Instrumentalisten über
präventive Maßnahmen informiert. Bei den Sängern
ging die Spannweite der Referate von sehr stimmspezifischen Problemen
wie „Die Bedeutung von phoniatrischen Eingangsuntersuchungen
von Gesangsstudenten“(B. Pabst u.a.), „Die Bedeutung
von Hochgeschwindigkeitsglottographie…“ (B. Richter)
oder „Funktionelle Anatomie der Strukturen in der Stimmfalte
des Menschen…“(B. Tillmann u.a.) bis zu „Stimmhygiene
contra Stimmmissbrauch“ (W. Seidner), „Stimmen altern,…“ (W.
Kersing) oder einem Bericht über die „Prävention
im Alltag einer Festspielbühne“ (J. Schlömischer-Thier).
Auch bei den Instrumentalisten ging es zum einen um spezifische
medizinische Ansätze. A. Lahme stellte Veränderungen
in der Wirbelsäulenstatik bei hohen Streichern vor und zeigte
ergonomische Hilfsmittel als Präventivmaßnahme. W. Ostermeier
stellte in Kurzprogrammen zusammengestellte Übungen vor, die
Verspannungen und schmerzhafte Funktionsstörungen des Bewegungsapparates
bei Gitarristen verhindern sollen. H. C. Jabusch berichtete in
einem interdisziplinären Projekt über eine Möglichkeit
der Behandlung von fokaler Dystonie bei Pianisten. Hierbei bietet
eine MIDI-basierte Skalenanalyse ein verlässliches Verfahren
zur objektiven Quantifizierung der fokalen Dystonie. L. Boullet
gewährte Einblick in seine Methode des pädagogischen
Retrainings. G. Methfessel referierte über Ansatzstörungen
bei Bläsern und präferierte als beste Prävention
ein frühzeitiges Erkennen der individuellen medizinischen
Risikofaktoren. Zur intraoralen Druckentwicklung bei Bläsern
folgerten A. Schultze-Florey und B. Schwab aus ihren Untersuchungen,
dass gerade die minimal erforderlichen Anblasdrücke und die
Bandbreite der beim normalen Spiel erzielten Drücke, also
die Dauerbelastung, das Problem sind. Zum Präventionsgedanken
durch kindgerechte beziehungsweise präventiv wirkende Instrumente
referierte Ruth-Iris Frey-Samlowski über ihre Forschungsarbeit
mit dem Clavichord. S. Choi stellte hierzu seinen Kinderkontrabass
vor. Sehr erfrischend wirkte das Referat von W. Pfohl, der das
baden-württembergische „Bündnis für das Singen“ erläuterte,
den Liederkalender vorstellte und rundum die Wichtigkeit des Singens
auf allen Ebenen propagierte.
Bewegungswissenschaften
B. Wohlfahrt zeigte deutlich, wie weit die Sportmedizin ist und
was die Musikermedizin alles von dort lernen kann, beziehungsweise
was durch interdisziplinäre Zusammenarbeit erreicht werden
könnte. In dem Vortrag „Das
Unterrichtsfach Bewegungswissenschaft…“ erklärte
A. Gollhofer die gleichermaßen anwendungs- und grundlagenorientierte
Forschung im Sportstudium und erläuterte die Problemkreise,
die zur Bewegungswissenschaft zählen: so etwa Verbesserung
der Diagnosemethoden der Motorik, Entwicklung und Verbesserung
der Methoden der Bewegungsanalyse, Bereitstellung allgemeiner Beurteilungskriterien
für Bewegungen, und zeigte den Musikmedizinern und Pädagogen
das hohe Potential dieser durchaus nützlichen Forschung auch
für Musiker.
Prävention und Gesundheitsförderung im Vokal- und Instrumentalunterricht
an den Hochschulen, in der Instrumentalausbildung von Kindern und
Jugendlichen, bei Sängerinnen und Sängern und die Frage,
wie Wissenschaft den Musikern nützen kann, waren Themen, die
in Podiumsdiskussionen lebendig angerissen wurden und dem Zuhörer
auch die Chance zu Beteiligung gab. Auffallend viele musikalische
Beiträge von hoher Qualität, an denen auch Studierende
der Musikhochschule Freiburg teilnahmen, erfreuten die Teilnehmer,
lockerten auf und zeigten dadurch ihr interdisziplinäres Engagement.
Nicht nur bei dem gelungenen Festabend mit einem Improvisations-Konzert
im Freiburger Kaufhaus, sondern auch zwischendurch hatten die Teilnehmer
immer wieder die notwendige Zeit, individuelle Gespräche zu
führen.
Mit einer Vielzahl von Workshopangeboten klang der Kongress aus.
Unterschiedlichste Präventivangebote zur Körperarbeit
erlaubten den Teilnehmern, sich selbst ein Bild zu machen oder
sich vertieft mit einem Angebot zu beschäftigen. Wer nun nach
diesem erfolgreichen Kongress das Gefühl hat, er wäre
gerne dabei gewesen, der kann dieses Jahr noch den 10. Europäischen
Kongress für Musikermedizin vom 11. bis 14. Juni in Turku,
Finnland, besuchen. Einen Tag davor findet in Helsinki ein Pre-Meeting
zum Thema Tanzmedizin statt. In Turku referieren zahlreiche internationale
Referenten zum Thema Musikerkrankheiten, Prävention im Instrumentalunterricht
und Rehabilitationsmöglichkeiten. In Deutschland darf der
nächste europäische Kongress in zwei Jahren mit Freude
erwartet werden.