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nmz-archiv
nmz 2003/05 | Seite 10
52. Jahrgang | Mai
Kulturpolitik
Zwei Modelle weisen den Weg
SchoolTour und Musikzirkus · Von Jürgen Stark
Schule kann so schön sein: in nur einer Woche Musiktitel schreiben,
proben und aufzeichnen, ein Schulfestival organisieren und moderieren,
Projekte erfinden und selber organisieren, Kreativität im
Sinne des Wortes in die eigene Hand nehmen. Alles gemeinsam mit
Profis, die viel Zeit und Geduld aufbringen und persönlich
offenkundig viel Spaß in dieser plötzlich etwas anderen
Schule haben. Zeit für einen Bericht aus den Klassenzimmern…
Kurtis Blow (Legends of
HipHop) mit Schülern aus Rostock. Foto: D. Heerdmann
Aus der Ferne des Klassenraums im dritten Stock hört
man anschwellende Trommeln. Über den Schulhof laufen maskierte und geschminkte
Jugendliche, ein Nachwuchs-Harry-Potter
hat seine Zauberstäbe in der Eile verloren, keine Zeit, es geht zur Probe,
Ruhe bitte! Dabei fing es alles nicht einmal harmlos an. Erster Tag auf dem Dorf.
Zabba Lindner, Urtrommler der deutschen Rockszene, hat bereits am Sonntag seine
Drums & Percussion aufgebaut, mit riesigen Gongs, alten klassisch erprobten
Pauken und dem konventionellen Schlagzeug mittendrin. Fast drei Stunden war man
am Werk, Schweiß als kleiner Bruder der Präzision. Die Schüler
der Grund- und Hauptschule Wacken in Schleswig-Holstein haben so etwas noch nie
gesehen. Der Schulleiter auch nicht. „Seid ihr denn verrückt geworden?“ Hans-Wilhelm
Nottelmann steht diesem wilden Projekt an seiner Schule eigentlich sehr aufgeschlossen
gegenüber, aber der Unterschied zum Anblick von Blockflöte und Triangel,
der heutigen Reststandardausrüstung deutscher Grund- und Hauptschulen
für das lästig gewordene Fach Musik, will in seiner voluminösen
Variante erst einmal verkraftet werden. Er gewöhnt sich schnell an die
Dimensionen dieser Musikwoche wie auch die Schüler.
Die Poppartner kommen aber nicht als Besserwisser, sondern als
Helfer in großer
Not. Poptrainer Lindner auf die Frage einer Lehrerin der Schule nach seiner
Arbeit vom ersten Tag: „Ich habe denen erst mal Respekt und Disziplin
beigebracht.“ Lindner ergänzt im Rückblick gegenüber der
nmz: „Musik ist Herzenssache, das bemerken die Jugendlichen natürlich
sofort und verändern schnell ihr oft aufgesetztes und aggressives Verhalten,
der Alltag an den Schulen kann von den Schwingungen und der Ausstrahlung der
Musik nur profitieren.“ Das Wunder von Wacken geschieht. Am zweiten Tag
herrscht in den Pausen eine ganz andere Atmosphäre, dort, wo gestern noch
Tritte, Schreie, Tränen und sonstiger Aggressionsabbau das Bild bestimmte,
sieht man sie jetzt in Gruppen freiwillig arbeiten. Köpfe werden zusammen
gesteckt, Skizzen herumgereicht, die Teams arbeiten und haben Spaß, die
Schule ist plötzlich ein ganz anderer Ort.
Mit Unterstützung der Deutschen Phono-Akademie wurde hier im Vorfeld ein
eigenes Modell aus der Taufe gehoben, mit dem letztlich bundesweit ein Ausweg
aus dem akuten Dilemma gewiesen werden könnte. Zuerst wurde im hohen Norden
ein Beirat ins Leben gerufen, der alles integrierte, was im Umfeld auch nur
entfernt mit Musik und Kreativität zu tun hat: der Veranstalter des Wacken
Open Air Hardrock Festivals, der Musikzug der Freiwilligen Feuerwehr, ein ehemaliger
Berufsclown vom Zirkus G. Althoff, der in der Nähe wohnende Liedermacher
Hannes Wader, Journalisten und weitere engagierte Menschen bis hin zu einigen
Eltern der Schüler. Hannes Wader gab ein Benefizkonzert zugunsten des
Projektes, Kultursponsoren wie die Itzehoer Versicherungen (John Lennon Talent
Award) halfen ebenso - und schon war der „Musikzirkus Wacken“ gegründet.
Es folgte daraufhin eine Projektwoche, bei der die gesamte Schule
von der kreativen Aufbruchstimmung erfasst wurde, 23 Projektangebote
wurden von Lehrern, Eltern
und sogar von einer Schülerin angeboten, nach intensiver Probe ging es
in die „Manege“ der Sporthalle und lokale Medien, Anwohner und
Politiker der Region waren begeistert. Die CDU des Landtages Schleswig-Holstein
attestierte dem Projekt höchste Förderungswürdigkeit, der Vorsitzende
des Tourismusausschusses im Landtag des nördlichsten Bundeslandes, Hans-Jörn
Arp (CDU-MdL), erkannte die Dynamik dieser Idee: „Dieses Projekt hat
eindeutigen Modellcharakter und muß wegen seiner positiven Resonanz unbedingt
weiterhin unterstützt werden. Darüber hinaus müssen wir als
Politiker auch dazu beitragen, dass solche Projekte nicht nur an einem Ort
stattfinden, sondern möglichst vielen weiteren Schulen zugänglich
gemacht und zur Nachahmung empfohlen werden.“ Der Musikzug der Feuerwehr
hatte wie auch der Musikalienhändler des Nachbarortes bis zum Antritt
bekannter Künstler und Coaches wie T.M. Stevens (Bassist etwa bei James
Brown, Tina Turner und Joe Cocker) und Udo Dahmen (Schlagzeuger, jetzt Leiter
der Popakademie Mannheim) ein Problem: Musik war hier megaout. Ein Elternvertreter
gab zu Protokoll: „Unsere Jungs kamen nach Hause und sagten, Musik sei
doof und was für Mädchen, alles Kreative galt bei den Meinungsmachern
auf dem Schulhof als unmännlich. Es reichten zwei Veranstaltungen mit
den Künstlern an unserer Schule und schon war alles anders.“ Auch
der Schulleiter, Hans-Wilhelm Nottelmann, ist von den Ergebnissen der Initiative überzeugt: „Der
Grund- und Hauptschulbereich hat dieses Thema viel zu lange vernachlässigt,
wir alle können dabei von verbessertem Musikunterricht nur profitieren.
Wenn man die Begeisterung der Kinder sieht, dann möchte man nicht wieder
zurück in eine Wirklichkeit, wo pro Woche gerade mal eine Musikstunde
zur Verfügung steht, von einer Lehrerin, die auch noch anderweitig eingebunden
ist, weshalb auch diese Stunde noch oft ausfällt.“
Nottelmann hat einen Wunsch. Wenn er in einigen Jahren pensioniert
wird, dann soll es hier mindestens eine Schulband geben, die ihm
zum Abschied ein kleines
Konzert gibt. Das Ziel dürfte erreicht werden, denn unlängst kam
der größte Rabauke der Schule samt Gitarre zu ihm ins Büro. „Ich
war sprachlos. Der kam zu mir und ich dachte zuerst, na, was hat der wieder
ausgefressen. Dann setzte er sich hin, griff zur Gitarre, spielte ein paar
Akkorde und sang dazu – extra für mich ein kleines Ständchen,
das war super.“ Inzwischen unterrichten drei Berufsmusiker an der Schule
(vermittelt vom Popkurs der Hamburger Hochschule für Musik und Theater),
sind 74 Schüler am Instrument, werden die Musikerzieher mit Unterstützung
des Beirates (inklusive Benefiz-Veranstaltungen), Haussammlungen und Kostenbeteiligung
der Eltern finanziert. Wachsende Unterstützung der Politik sorgt inzwischen
dafür, dass dieses Modell in Schleswig-Holstein auch anderen Gemeinden
und deren Bürgermeistern empfohlen wird und man über Nachahmung konstruktiv
nachdenkt. Im Gefolge dieser Erfahrungen hat die Deutsche Phono-Akademie ihre
Pioniertätigkeit weiter entwickelt. Die SchoolTour 2002/2003 startete
noch im letzten November an der Borwinschule in Rostock. Deren Musikpädagoge
Manfred Gruber erinnert sich: „Heiß und neugierig waren Schüler
und Lehrer auf das verlockende Angebot. Keiner wusste, was genau auf alle Beteiligten
zukommen würde. Lediglich wenige Grobziele wurden in Vorabsprachen gesteckt.
So lagen die Schwerpunkte auf Öffnung des Musikunterrichts gegenüber
der tatsächlichen Lebenswelt der Schüler und auf praktische Tätigkeit
gepaart mit theoretischer Fundierung durch namhafte Fachleute, Journalisten
und Musiker. Das alles unter der thematischen Sicht der politischen Auseinandersetzung
hinsichtlich der Integration ausländischer und fremder Musikwelten und
der Reflexion eigener Anschauungen. Große und ehrenwerte Ziele, die tatsächlich
erreicht wurden.“
Als am Montag blasse und noch gar nicht zum Lernen aufgelegte
Gesichter in die Schule schlurften, erwartete
sie gleich im Flur die afrikanische Trommlergruppe Akanga, alle in Rostock
lebend, Ausländerintegration nicht umständlich per Diskussion, sondern
mit Musik und Künstlern. Die Temperaturen stiegen. Den Unterricht startete
DJ Hildegard aus Hamburg, ebenfalls dunkelhäutig und als Frau in einer
Männerdomäne arbeitend, ein interessanter Gesprächspartner für
die Schüler. Nachdem DJ Hildegard alles über Turntables und Dancefloor
erzählt hatte, gab es Zeit für persönliche Gespräche auf
dem Schulhof.
Anschließend verteilten sich die Schüler in Arbeitsgruppen, trainierten
mit VIVA-Moderator Markus Meske Moderation, mit der New Yorker HipHop-Legende
Kurtis Blow das Rappen, übten „Techniken der Ideenfindung“ und
planten sogleich ein „Fest für junge Kreative“, welches inzwischen
bereits als Idee mit Sponsoren als Ziel weiter verfolgt wird. Pädagoge
Gruber: „So wurden die Teilnehmer derart motiviert und professionell
betreut, dass ein unglaublicher Arbeitsaufwand, der unter alltäglichen
und normalen Bedingungen wohl gut und gerne ein halbes Jahr in Anspruch genommen
hätte, in dieser nur einen Woche bewältigt wurde. Als absoluter Glücksfall
erwiesen sich hierbei die beiden Musiker und Produzenten Markus Brachtendorf
und Thorsten Neubert. Sie verstanden es mit Witz, Energie und professionellem
Anspruch, die Schüler in ihren Bann zu ziehen und sie in eine Art kreativen
Rausch zu versetzen. Unter ihrer Anleitung entstanden in kürzester Zeit
anspruchsvolle, teils sehr persönliche Texte der Schüler, die dann
in ein unterschiedliches, musikalisches Kleid gefasst wurden.“
Der Klassenraum wirkte wie ein Produzentenraum, aus Ideen wurden
Songs, die aufzunehmen sich lohnte. Es entstand der „Borwinbeats“-Sampler,
den alle am Freitag nach dem großen Event mit nach Hause nahmen. In den
Texten wenig Formatradio oder sonstiger Flachpop, die deutschen Jugendlichen
und Einwandererkinder halten offenbar wenig vom belanglosen Tralala; Konflikte
mit Eltern, Gewalt von Neonazis und Absagen an den konformistischen Mode-Mainstream
zeigten, wie sehr sich Musik als ganz persönliches Ventil anbietet und
sofort genutzt wird.
Kollege Gruber zum Thema: „Sorgen, Ängste und Probleme zu verarbeiten,
war offensichtlich ein grosses Bedürfnis.“ Dieses Bedürfnis
ist in der normalen Schule nicht auf dem Lehrplan, jeder ist sich selbst der
Nächste, mit Problemen muss man alleine fertig werden – Schule ohne
Musik und an den Seelen der jungen Menschen kalt vorbei. Unterstützt von
den Organisatoren Hajo Brockmann und Christine Pentzek – „mit pädagogischem
Geschick und menschlicher Herzlichkeit“ (Gruber) –, entstanden
die Anknüpfungspunkte über die Musikprojektwoche hinaus. Das Engagement
der Schüler, die Ideen für weitere von Schülern organisierte
Veranstaltungen, all das rief nach mehr. Als am Freitag als Höhepunkt
dieser Arbeit zum ersten Mal die Ämter des Musikministers und seiner zwei
Stellvertreter an Sandy Putnins, Paul Jentzsch und Inga Schwatke vergeben wurden,
war hier der Start für das Schülernetzwerk der Deutschen Phono-Akademie
gegeben. Für die gesamte Schule war das am Freitag stattfindende, abschließende „etwas
andere Schulfest“ ein wirklicher Höhepunkt. Alle sechs Musikprojekte
gingen auf die Bühne, traten vor den Mitschülern auf, selbst moderiert
von Schülern – und es gab reichlich Beifall und bei kleinen Pannen
nicht mal die erwartete Häme. Der wertvollste Lohn für die Schüler
und Betreuer.
Für den Schulpädagogen kam dannn wieder der Alltag. Und der kann
traurig machen. Gruber fordert dauerhafte Konzepte von den Verantwortlichen,
die solche Beispiele nicht ignorieren dürften. Die Musikministerinnen
und -minister sollten sich bei kommenden Wahlen laut zu Wort melden. Gruber: „Die
SchoolTour wird weiterziehen, in verschiedenen Städten eine Woche lang
den Musikunterricht öffnen und Schüler erreichen und begeistern.
Sie wird vielen Verantwortlichen zeigen, wie es sein könnte, wenn Musik
einen anderen, den eigentlich gemäßen Stellenwert an Schulen hätte.
Die Verantwortlichen für Bildung müssen dieses Modell als erfolgreich
auf der ganzen Linie erkennen. Sie müssen dabei sein und sie müssen
handeln!“
Jürgen Stark
SchoolTour
Hilfe zur Selbsthilfe für Schulen
Gemeinsam mit der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb)
und der MAWA Film- und Medien GmbH entwickelte die Deutsche Phono-Akademie
e.V. ein völlig neues Konzept zur Vermittlung von Popkultur
für alle Schultypen, von der Haupt-, Real-, Gesamt- bis zur
Berufsschule. 50 bis 60 Schüler in den oberen Altersgruppen
nehmen am Wochenprojekt teil. Texten, Komponieren, Arrangieren
und Interpretieren (bis zum Bühnenauftritt) steht auf dem
Stundenplan, aber auch Pop und Politik, Migration und Rassismus,
Urheberrecht und künstlerischer Alltag, Event-Management und
Moderation. Die selbst komponierten und interpretierten Songs werden
vor Ort gebrannt – mit einem Sampler der jeweiligen Songs
geht es nach Hause. Sogar die „Kulturgeschichte der Popularmusik
im 20. Jahrhundert“ wird vom neu hinzu gekommenen Partner
aus Nordrhein-Westfalen, dem rock‘n‘popmuseum aus Gronau,
präsentiert. Jede Schule wird von der Filmfirma MAWA mit einem
DVD-Player für die Zukunft gerüstet, auch etliche DVDs
von Grönemeyer, den Toten Hosen oder Filmdokus, wie etwa über
die „Legends of HipHop“ (mit vielen authentischen Interviews über
Entstehung und soziokulturelle Hintergründe in der New Yorker
Bronx) verbleiben dem Musiklehrer für seinen Unterricht vor
Ort. Neun Schulen in zunächst drei Bundesländern stehen
auf dem Plan, nach Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Schleswig-Holstein
soll NRW folgen, am Ende der Schulwoche berufen die Initiatoren
pro Schule einen Musikminister oder eine Musikministerin mit jeweils
zwei Stellvertretern. Anschlussprojekte und der Aufruf zur Gründung
von Netzwerken rund um die jeweilige Lehranstalt sollen den Fortbestand
des Begonnenen garantieren, am (noch fernen) Ende wird ein popkulturelles
Netzwerk aller deutschen Schulen gewünscht.