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nmz-archiv
nmz 2003/05 | Seite 12
52. Jahrgang | Mai
Medien
Die Traditionen der bürgerlichen Musikkultur
Fünf Features auf Bayern2Radio · Von Armin Diedrichsen
und Jochem Wolff
In fünf Beiträgen (von denen vier bereits gesendet wurden)
skizzieren die Autoren eine vorläufige Bestandsaufnahme des
Musiklebens und seiner historischen Entwicklung, gerade unter den
Aspekten von Musikproduktion, -verteilung, -vermittlung und auch
-erziehung. In einer Fülle von Statements kommen Künstler,
Kulturverantwortliche und -manager zu Wort. Ein sechster Beitrag
(siehe „Radio-Tipp“)im Rahmen einer öffentlichen
Veranstaltung (mit einer Podiums- und Publikumsdiskussion) ist
vor allem der Frage gewidmet: Wird gegenwärtig der lustvolle,
unterhaltsame und zugleich seriöse Umgang mit Musik überhaupt
noch in das Kalkül einer möglichen „kulturellen
Grundversorgung“ einbezogen?
Die Hamburger Cembalokonzerte von Carl Philipp Emanuel
Bach trafen in ihrem Erscheinungsjahr 1772 auf große Resonanz, sie galten
als ungewöhnlich neu
und zukunftsweisend. Im selben Jahr gelangte der englische Musikgelehrte und
-schriftsteller Charles Burney nach Hamburg, um sich mit dem zweitältesten
Bach-Sohn einen Repräsentanten des damaligen deutschen Musiklebens zu
treffen. Enthusiastisch berichtete Burney:
„Ich hatte schon längst seine eleganten und originären Kompositionen
mit dem höchsten Grade von Vergnügen betrachtet; sie hatten ein so
heftiges Verlangen in mir erzeugt, ihn zu sehen und zu hören, dass
es keiner anderen musikalischen Versuchung brauchte, mich nach dieser Stadt
zu locken.”
Doch Charles Burney war auch nach Hamburg gekommen, weil er das
gesamte Musikleben der Hansestadt erkunden wollte. Und dies war
nur eine Station seiner ausgedehnten
musikalischen Reisen durch die deutschen Lande, um damals so etwas wie eine
repräsentative Bestandsaufnahme der zeitgenössischen Musikkultur
niederschreiben zu können.
Dies war der Ausgangspunkt und ist auch noch heute Grund für eine Opern-,
Theater- und Konzertlandschaft, die sich weltweit gesehen einzigartig entwickelt
hat. Freilich erhielt diese Entwicklung ganz besondere Impulse erst durch einen
gesellschaftlichen Prozess, der eben in jenen Jahren einsetzte, als der erwähnte
Charles Burney den deutschsprachigen Bereich aufsuchte: Es war die politische
und kulturelle Emanzipation des Bürgertums, das sich von nun an mehr und
mehr gegen die Aristokratie durchsetzte und dann insbesondere im 19.Jahrhundert
das kulturelle Geschehen bestimmte. Die deutsche Musikkultur überlebte
die politischen wie finanziellen Krisen nach 1918 und erfuhr nach dem Zweiten
Weltkrieg durch den in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland verankerten
Grundsatz vom Kulturföderalismus eine neue Blüte. Doch jetzt, nach
nunmehr knapp sechs Jahrzehnten, zeigen sich substanzielle Einbußen und
Krisen, die der Publizist Klaus Umbach im Spiegel Nr. 49 des Jahres 2002 unter
dem griffigen Titel „Amadeus in der Apokalypse” in gewohnt zupackender
Manier verdeutlichte:
„Die rosigen Bilanzen täuschen. In die bislang wohl temperierte Stimmung
der Klassikszene mischen sich zunehmend Dämpfer. Zwar ist das Diminuendo
bei den Konzertveranstaltungen und –besuchern noch nicht kritisch, wohl
aber symptomatisch: Das Publikum strömt verhaltener und schon bald könnte
die momentane Zurückhaltung von den Supermärkten auf die Konzertkassen überspringen.”
Andererseits: die Auslastungszahlen in Konzert und Oper sind
nach wie vor ungebrochen gut. Eine tatsächliche Klassikmüdigkeit ist wohl (noch) nicht zu
konstatieren. Belegungsziffern von 90 und mehr Prozent sind bundesweit keine
Seltenheit. Das Kreuz ist wohl eher die staatliche Subventionierung: Immer
noch zahlt die öffentliche Hand durchschnittlich 90 Euro pro verkauftem
Ticket – bei mehr als 22 Millionen Theater- und Konzertbillets macht
das erstaunliche 1,98 Milliarden direkte Ausgaben, ohne die von Bach bis Stockhausen
kein Ton mehr erklingen würde.
Beispiel Nürnberg
Nun lässt sich an dieser Stelle die deutsche Theaterlandschaft
nicht lückenlos untersuchen, aber solche und weitere Befunde
aus verschiedenen Richtungen vermitteln recht deutlich, welche
grundsätzlichen Überlegungen vielerorts angestellt werden.
Ein Beispiel soll das Theater Nürnberg sein, das augenscheinlich
gut funktioniert vor einem traditionsreichen Hintergrund.
Dass das Theater Nürnberg durchweg floriert, hat mehrere Gründe.
Zunächst können sich Leitung und Ensemble gegenwärtig
immer noch auf finanzielle Unterstützungen der zuständigen
Institutionen von Stadt und Land verlassen, so betont der Nürnberger
Generalintendant, Wulf Konold. Zudem verzeichnet das Theater Nürnberg
Besucherzahlen im oberen Bereich, und das Profil des Hauses ist
von einer ausgewogenen Ensemble- und Repertoire-Politik geprägt.
Darüber hinaus glaubt Wulf Konold im Wesentlichen an die fortwährende
Ausstrahlung und Faszination des Musiktheaters. Insofern blickt
er durchaus zuversichtlich in die Zukunft, auch wenn er – wie
viele seiner Intendanten-Kollegen – die hierzulande herrschende
Rotstift-Politik der Kulturverantwortlichen registriert. Andere
Theaterleiter sind skeptischer wie zum Beispiel der erst vor einiger
Zeit ernannte Intendant des „Theater Lübeck”,
der aus Frankreich stammende Marc Adam. Er kritisiert eine mittlerweile
angetretene Generation von politischen Entscheidungsträgern,
die meist nur noch nach ökonomischem Kalkül vorgeht.
Die Krise der Musikkultur kann nach seiner Ansicht nicht nur eindimensional
an wirtschaftliche Konjunkturzyklen geknüpft werden.
Notwendige Modelle, die zu diesem Zweck entwickelt werden müssen,
sind kaum mit einigen rechtlichen und organisatorischen Experimenten
zu vergleichen, wie man sie derzeit an mehreren Stellen unserer
Theaterlandschaft ansteuert: Verschiedentlich sollen, zahlreicher
als bisher, eigenständige Formen der „GmbH” gebildet
werden, die dann aus der Trägerschaft so genannter „Städtischer
Bühnen” ausscheiden und sich parallel dazu aus den bestehenden
Tarifverträgen zurückziehen können.
Reformwürdig
Dennoch – das Konzertwesen in der Bundesrepublik Deutschland
ist zwar reformwürdig, aber sicher noch nicht in ernster Gefahr.
Die früher als Erbe gehandelten Abonnements kann man allerdings
nun wieder frei erwerben. Die Konkurrenz der Medien und der Tonträger
ist ebenso spürbar wie eine schleichende Müdigkeit gegenüber
den sich noch allzu oft wiederholenden Inhalten.
Die Produzenten, die Macher wissen um diesen Markt und setzen
neue Maßstäbe des Kulturmarketings. Solisten, Dirigenten,
Klangkörper, sie alle kämpfen um ähnliche Zielgruppen,
die sich nicht automatisch erneuern und verjüngen. So ist
Phantasie und Kreativität gefragt, Lust an Vermittlungswegen,
die den ausgetretenen Pfad des Gewohnten verlassen.
All dies ist den Kulturverantwortlichen mehr oder weniger bewusst
und zudem noch etwas Grundsätzliches: Musik ist Unterhaltung
auf hohem Niveau und fordert den ganzen Menschen. Ohne sie, ohne
ihre erneuernde Kraft, ohne die kommunikative Funktion der Theater,
Konzerthäuser und Veranstaltungszentren stünde die Gesellschaft
still. Daher wird sich die Musik auch in den nächsten Jahrzehnten
nicht ersetzen lassen. Und dabei muss der Spagat zwischen Erfüllung
der Erwartungen und Herausforderungen weiter versucht werden – getreu
dem Satz August Everdings: „Das Theater, das dem Zuschauer
nur nachläuft, sieht ihn nur von hinten.”
Zu den Traditionen der bürgerlichen Musikkultur zählen
nicht nur Theater- und Konzerthäuser, sondern auch Musikfeste,
Festpiele und letztlich nicht wenige Festivals unserer Zeit. Meist
ist es ein sommerlicher Festspielbetrieb, der heute, landauf landab,
an vielen Orten der offiziell 41 Festivals herrscht. Am Gesamtvolumen
des privatwirtschaftlichen Umsatzes musikalischer Einrichtungen
- und das sind derzeit knapp 16 Milliarden Euro pro Jahr – haben
die besagten 41 Festivals einen Anteil von rund fünf Prozent.
Das mag auf den ersten Blick vielleicht gering erscheinen, gilt
jedoch bei dieser Größenordnung schon als ein bedeutender
Wirtschaftsfaktor, zumal damit der florierende Kultur- und Musiktourismus
in seiner ganzen Breite bedient wird.
Festivalkritische Töne findet Olaf Zimmermann vom Deutschen
Kulturrat. Unabhängig von der Strahlkraft, die von den allermeisten
Festivals in die Regionen ausgeht, sieht er doch auch Lücken
und Verbesserungsmöglichkeiten. So beklagt er, dass eine Kulturversorgung
in der Breite zunächst gewährleistet sein muss, bevor
man sich teure Experimente leisten kann. Sonst werde die öffentliche
Hand unter Umständen zum Totengräber der eigenen Institutionen.
So kritisch Olaf Zimmermann den Festivalbetrieb zu Recht betrachtet,
so positiv sind dessen Möglichkeiten im Sinne eines Experimentierfeldes
einzuschätzen. Bei aller Skepsis sind es heutzutage gerade
die kleineren Festivals, die eine kulturpolitische Chance der Breitenwirksamkeit
bieten und sich dabei dem bequemen Weg der Mitte, dem Mainstream,
widersetzen können. Oftmals erfolgt eine solche Politik sogar
im Einklang mit den Sponsoren. Zu den Voraussetzungen gehört
dann allerdings, jenseits von Glamour, von starren Formen und gewinnorientierten Überlegungen
zu operieren.
Kultur und Musik sind zwei der wichtigsten „weichen” Standortfaktoren überhaupt.
Das deutsche Konzertwesen, häufig im politischen Raum als
total überrepräsentiert empfunden und kritisiert, ist
für die einzelnen Regionen und Städte von erheblicher
Bedeutung, wirtschaftlich, inhaltlich und als strategisches Mittel
im Kampf um Vorteile für die Zukunft. Wer siedelt eine große
Firma in einer kulturlosen Region an oder in einer Stadt, die öffentlich über
die Schließung von Theatern nachdenkt?
Gerald Mertens, Geschäftsführer der deutschen Orchestervereinigung,
hat in der neuesten Ausgabe des Musikalmanachs für Deutschland
als herausgehobenen Passus neue Aktivitäten von Orchestern
betrachtet und stellt fest:
„Dass Konzert- und Theaterorchester über die Veranstaltung von Symphoniekonzerten
und Opernaufführungen hinaus in vielfältiger Weise in das Musikleben
hineinwirken, ist bekannt. Tatsache ist, dass in allen Orchestern die verschiedensten
Kammermusikformationen bestehen oder sich neu zusammenfinden, die freiwillig
und oftmals außerhalb der dienstlichen Verpflichtungen das örtliche
und regionale Konzertleben bereichern. Auch die Bereiche der Musikschulen, der
Liebhaber-, Studenten-, Jugend- und Landesjugendorchester sowie der Kirchenmusik
profitieren vielfältig vom Engagement der Orchestermitglieder. Gespannt
darf man auch sein, welche Anschub- und Breitenwirkung die beabsichtigten
Education-Projekte der Berliner Philharmoniker haben werden.”
Vorbild US-Markt
Die Ausrichtung am angloamerikanischen Vorbild macht Schule:
Mehr und mehr beginnt man auch hierzulande zu begreifen, dass man
den künftigen Konsumenten dort abholen muss, wo er ist – sei
es in der Schule, in Vereinen, Einkaufszentren oder wo immer
Gruppen erreichbar sind.
Die Anforderungen an das heutige Kulturleben sind auf zwei Punkte
zu konzentrieren: Da stehen zum einen Tradition und deren Vermittlung
der Konfrontation, der
Auseinandersetzung gegenüber; zum anderen ist die Vielfalt unserer Kultureinrichtungen
die Voraussetzung für lebendige Gegenwartskunst.
Der Gedanke, dass Geschichtsbewusstsein nur durch die Aneignung
tradierter Kulturgüter zu erwerben sei, ist gewiss nicht neu, dabei jedoch immer
noch bedenkenswert. Es geht also in den Programmen der Konzerthäuser nicht
ausschließlich um den vielbeschworenen und verachteten Mainstream, bei
dem der Eindruck, es habe Musik eigentlich nur von Bach bis Strawinsky wirklich
existiert, vorherrscht. Gerade die Pflege dieses Erbes setzt uns in den Stand,
unsere kulturelle Herkunft stets aufs Neue zu begreifen und sie zur Basis unserer
Welt- und Wertvorstellung zu machen. Dabei aber dürfen wir nicht stehenbleiben.
Musik, gleichgültig welcher Epoche, verlangt nach dem beteiligten Hörer,
der Kenntnis als potenzierten Genuss versteht. Musik sucht den wachen, aktiven
Hörer, der die Botschaften erkennen will und sich nicht einfach nur kulinarisch
verwöhnen lässt.
Dazu ist es nötig, jede Musik als Herausforderung anzunehmen.Daneben sind
die Podien, aber auch Foren der Gegenwartsdarstellung. Wohl keine historische
Epoche hat sich so wenig um ihre Gegenwartsmusik gekümmert wie die unsere.
Von Spezialisten und wenigen Liebhabern abgesehen, ist die zeitgenössische
Musik ein ausgesprochenes Stiefkind der öffentlichen Wahrnehmung. Dennoch:
Es ist eine der wichtigsten Aufgaben der Kulturarbeit, die Kunst der Gegenwart
darzustellen und ihr Chancen zur Entwicklung zu eröffnen.
Die Musikkultur Deutschlands, ausgebildet im bürgerlichen 19. Jahrhundert
und bis in kleinste Verästelungen austariert, ist sowohl groß, stark
und überwältigend in ihrer Vielfalt, aber auch angreifbar und leicht
zu zerstören. Was aber einmal von der Bühne gegangen ist, kehrt aller
Erfahrung nach nicht zurück. Man hüte sich, in das komplexe System
mit Kahlschlaggedanken einzuwirken. Bewahren und konfrontieren, sich mit Tradition
auseinandersetzen und dem Neuen ein Podium bieten: dies sind und bleiben die
Aufgaben des öffentlichen Musiklebens.
Radio-Tipp
Bayern2Radio von 20.05–21.30 Uhr
6. Mai 2003
Feature von Armin Diedrichsen und Jochem Wolff: Globalisierung
im Musikbetrieb
3. Juni 2003
Diskussionsveranstaltung „Musik wozu, Musik für wen?“ live
aus der Black Box im Münchner Gasteig. Es diskutieren: Manfred Trojahn, Marlies Hummel, die Autoren
Jochem Wolff und Armin Diedrichsen sowie Olaf Zimmermann, Deutscher
Kulturrat.
Es moderiert Theo Geißler, Herausgeber der neuen musikzeitung.