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nmz-archiv
nmz 2003/05 | Seite 38
52. Jahrgang | Mai
Jazz, Rock, Pop
Nachschub
Grenz-Überschreitungen
Oft ist dort, wo man selbst ist, das Elend, und dort, wo die
anderen sind, das Glück. Dazwischen liegt dann eine Grenze, die
unüberschreitbar scheint. Diese Grenze, die trennt, was
nicht zusammen gehört, und die Differenz der Lebenschancen
bringen beides hervor: heftige Träume und Sehnsüchte,
aber auch Wut, Hass, Aggression.
Die Mexikaner hatten das gelobte Land stets vor Augen. Es war
unerreichbar. Und wenn sie es doch schafften, die Grenze zum
Glück zu überschreiten,
dann waren sie Vertriebene im Paradies, Exilés einer Existenz,
die sie sich so sehr wünschten, dass sie ihre Schatten gar
nicht mehr wahrnahmen, eine billige Beute für alle, die sie
brauchen konnten. Alejandro Escovedo, in den 70ern als Punk und
Mitglied einer Sex Pistols-Warm up-Band einer der 15-Minuten-Heroen,
die es im Dutzend gab, später in den 80ern dann in Prä-Grunge-Bands
wie „Rank&File“ und den „True Believers“ eine
Nischen-Berühmtheit, schrieb in den 90ern in radikal eigener
Sache Songs von einer Schärfe und natürlich auch Wehmut,
die ihn für die Indie-Bibel „New Depression“ zum
Songwriter der Dekade machten.
Escovedo gehört zu einem Clan, der aus dem Nichts kam. Sein
Vater überschritt mit zwölf die Grenze, führte ein
Masken- und Doppelleben, war so untreu und promisk, wie es vielleicht
nur Verzweifelte sein können und versuchte, die zwei Familien,
die er gegründet hatte, voreinander geheim zu halten. So ein
diffuses und haltloses, auch glitschiges und sumpfiges Terrain
ist der ideale Nährboden für Kunst oder vielleicht noch
besser: für Showbusiness und Schauspielerei. Ein Bruder arbeitete
für Carlos Santana, Schwester Sheila E. war eine Zeitlang
die bella figura-Schlagzeugerin des Superstars Prince, Alejandro
selbst hatte eine Menge Bilder im Kopf und wollte eigentlich Filme
machen, die hochexplosive Mythen-Maschinerie der Moderne zog ihn
an. Sein Kino schrumpfte aber rasch, wurde schließlich zum
Drei- oder Vier-Minuten-Song, in dem sich alles sagen und zeigen
ließ. Erst jetzt, sehr spät und immer noch „by
the hand of a father“ (so der Titel) kehrt er zur großen
Geschichte zurück, zu einer Art Theaterstück oder Krypto-Musical,
das aber mit dem fernen Einschüchterungs-Idol Sondheim nichts
zu tun hat. Mit „Short cuts“ präsentiert Alejandro
Escovedo, einen weitgehend autobiografischen Song-Reigen, bei dem
es um Verluste und Versäumnisse geht und, konkreter, um die
Hassliebe auf den Latino-Übervater, der seine Schwäche
in der Fremde den Nächsten gegenüber in einer Macho-Rüstung
verbarg. Der Sohn sprengt den Muskelpanzer und die Charaktermaske
gleich dazu, schießt aber vielleicht ein wenig übers
Ziel hinaus, wenn er als alleinerziehender Vater und polygamer
Hallodri partout auch noch die Mutter in sich entdecken möchte,
als gebe sie erst dem Mann, der er in den Augen seines Vaters nie
so recht war, Halt, Stärke und, paradoxerweise, eine klare
Kontur. Ein wunderbarer Zyklus, sehr reduziert (fast nur Gitarre
und Stimme!) und doch sehr weit, grenzüberschreitend und zeitlos.
Der „Latino“ Alejandro Escovedo klingt uramerikanisch.
Dafür haben Joey Burns und John Convertino ihr Claim äußerst
erfolgreich in Tex-Mex-County abgesteckt und, jedenfalls was den
kommerziellen Erfolg angeht, ihren Proteus-Chef Howe Gelb, der
alles war und sein wollte, Indianer und böhmischer Jude und Überschwemmungsopfer,
der aber vor allem Mastermind der vielleicht wichtigsten Band diesseits
des Mainstreams war, „Giant Sand“ nämlich, längst übertroffen.
Das überrascht; genauso wie der Weg, den die beiden gegangen
sind. Sie haben nämlich zunächst den verspielten, manchmal
fragmentarischen, jäh abbrechenden, sehr oft aber, gerade
auch live, mäandernd sich fortzeugenden Howe Gelb-Sound, der
immer beides war, voller Pathos und voller Ironie, konsequent auf
ihr Metier abgespeckt: das einer hochkompetenten Rhythmus-Sektion,
irgendwo zwischen den Instrumentals der späten 50er- und frühen
60er-Jahre und einem auf Pilz-Konsum verweisenden Dub-Labyrinth-Universum. „Calexico“ war
staubig und psychedelisch, texmex-„strange“ und dabei
so vertraut, so sehr, im besten Sinn, flach, reine Oberfläche,
dass man sich nicht anstrengen und auch nicht fürchten musste,
einer der bösen Howe Gelb-Fallen auf den Leim zu gehen. Jetzt,
auf dem gefeierten „Feast of Wire“-Album (bei City
Slang) gibt es für Burns/Convertino-Verhältnisse fast
schon einen raffiniert post-spector’schen „wall of
sound“, komplexe Arrangements, die aus der Wüste der
Tex-Mex-Mythen herausführen und Pop, Soul und so weiter, all
das, was man bei „Calexico“ nie erwartet hätte,
nicht scheuen. Beim ersten Anhören: Verblüffung, vielleicht
sogar eine nah an Enttäuschung heranreichende Irritation,
dann aber, bei wiederholtem Hören, Süchtigkeit; ein Junkietum,
das sich Grenzüberschreitungen verdankt; einer Neulanderoberung,
die das, was war, nicht löscht, sondern voraussetzt.
Grenzen und Geheimnisse, das ist im Lande Pop fast eins. Die
simple räumliche oder zeitliche Ferne erzeugt Mythen. Unübersehbar
ist das bei den wichtigsten Pop-Exporten made in Island, Björk
und Sigur Ros. Beide tun so, als sei die Edda eine Art Songbook,
beide sind, bei Bedarf, feen- oder rüpelhaft archaisch. Grenzüberschreitung
ist bei ihnen nicht eine späte Notwendigkeit, sondern Karriere-
und Identitäts-Design auf höchstem Niveau. Björk
arbeitet für Madonna und mit Lars von Trier. Und Sigur Ros
träumen vermutlich von einer welterobernden „neverending
tour“ Dylan’schen Ausmaßes. Bei ihren jüngsten
Konzerten konnte man feststellen, dass „Überschreitung“ ein
Ticket ist, das mitten ins eigene Innere führt. Es gibt anscheinend
einen Ort, wo die beiden Transzendenzen, die der Ferne und die
der Nähe, ineinander rutschen.