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nmz-archiv
nmz 2003/05 | Seite 16
52. Jahrgang | Mai
Portrait
Improvisieren als kompositorisches Handwerkszeug
Einheit in der Vielfalt: Über den Organisten, Chorleiter,
Komponisten und Jazzmusiker David Timm
„Vieles passiert beim Üben. Ich verlasse den Notentext und
spiele weiter. Ich sehe mich in erster Linie nicht als Komponist,
sondern als jemand, der eine Improvisationsidee hat, die sich im
besten Falle zu etwas Sinnvollem verdichtet. Dann wird sie notiert.” „Spielarbeit” nennt
David Timm seine Arbeitsweise beim Komponieren. Er improvisiert
als Organist in der Tradition der Kirchenmusik und in den moderneren
Formen des Jazz. Als Konzertpianist beherrscht er nicht nur das
klassisch-romantische Repertoire, sondern zählt auch Jazzpianisten
wie Oscar Peterson, Chick Corea oder Bill Evans zu seinen Vorbildern.
Zwölf Jahre „jazzDuo“:
David Timm (li.) und Reiko Brockelt. Foto: MDR/Dabdoub
David Timms Terminkalender ist übervoll: Proben, Konzerte,
Aufnahmetermine. Trotz Zeitdruck vermittelt er einem während unseres
Interviews das Gefühl,
dass es für ihn an diesem Tag nichts Wichtigeres gäbe, als unser
Zwanzig-Minuten-Gespräch. Doch kaum ist diese Zeit um, springt er auf.
In einer Viertelstunde wird er das Klavierkonzert von Robert Schumann mit dem
Concert- Orchester Leipzig proben.
Unser zwischen diese Verpflichtungen eingeschobenes Gespräch
ist aber J.S. Bach und der LeipzigBigband gewidmet. Die letzte
Stunde war Gelegenheit,
David Timm und die LeipzigBigband bei Aufnahmen im MDR Studio am Augustusplatz
zu hören. Timm dirigerte und spielte Klavier. Das Programm - Bach-Adaptionen
arrangiert und komponiert von Timm - ist unkonventionell: „Drei Stücke
sind mit der d-Moll-Toccata BWV 565 verbunden, einmal als Swing, einmal als
Samba und einmal als Groove. Aus dem
Wohltemperierten Clavier
spielte die Band einen Mix aus Motiven von Präludium und Fuge c-Moll,
dann eine Bearbeitung zu dem Präludium E-Dur aus dem ersten Teil und
zu dem Präludium cis-Moll alle aus dem ersten Teil des WK.” Bereits
beim ersten Abhören der Bänder im Regieraum ging eine Bearbeitung
der Motette “Komm, Jesu, komm” unter die Haut, die die Leipzig
Big Band zusammen mit dem Leipziger Vocalensemble einspielte.
Timm empfand es immer als Defizit, dass bei den unterschiedlichen
Versuchen, Jazz und Bach zusammenzubringen, oft nur das betreffende
Stück des Thomaskantors
in einem anderen Rhythmus, mit einer anderen Instrumental- oder Chorbesetzung
durchgespielt wurde. „Warum macht man nicht einfach das, was viele Jazzmusiker
auch getan haben: mit ihren Mitteln über die Themen improvisieren. Das
Improvisieren kann dabei auch auf Motiven, Formeln von Bach basieren. Wenn
ich die Folge a-g-a der d-Moll-Toccata am Anfang eines Themas bringe, kann
ich sie wunderbar auch im Solo verwenden. Oder auch in den auskomponierten
Bigbandteilen.”
Timms Arbeitsweise ist nicht nur beim Komponieren geprägt von Einfall
und Spontaneität: Das Jazzarrangement “Komm Jesu komm” war
ursprünglich für das Männerquintett Amarcord geschrieben. Inzwischen
hatte er die Jazz-Mottete auch für das Leipziger Vocalensemble, das Timm
in Nachfolge des Thomaskantors Georg Christoph Biller seit dreieinhalb Jahren
leitet, arrangiert. “Weil die sowieso geplanten Probentermine des Chores
mit Aufnahmeterminen der Big Band gepasst haben, und weil die Bigband auch
dieses Stück wollte”, nahm Timm das Vokalstück samt Chor kurzerhand
mit ins Aufnahmestudio. Auch wenn er damit Produzent und Aufnahmecrew vor unerwartete
technische Probleme stellte: Das Ergebnis rechtfertigte die spontane Entscheidung.
Typisch für Timm: “Ich bin jemand bin, der unter Termindruck ein
Stück besser fertig bekommt, als wenn es länger liegt. Gestern nacht
schrieb ich etwas für die Leipzig Big Band, eine Mischung aus Ragtime
und Charleston. Vor einer Stunde haben wir es bereits aufgenommen.” David
Timm ist gleichzeitig Kirchenmusiker, Dirigent und Chorleiter, Dozent für
Orgel und Improvisation an der Leipziger Musikhochschule, Konzertpianist, Jazzer
und dazu noch sein eigener Manager. Für ihn liegt die künstlerische
und persönliche Einheit fraglos in der Vielfalt. Mit Oberflächlichkeit
hat diese Vielseitigkeit aber nichts zu tun: mit ihr sieht sich Timm in bester
barocker Tradition. Damals war es selbstverständlich – und das nicht
nur bei großen Namen wie J.S. Bach – dass ein Kirchenmusiker in
der Lage sein musste, eine Motette oder Kantate zu komponieren, ein anderes
Instrument neben Orgel und Cembalo zu spielen und darauf auch zu fantasieren.
Die Spezialisierung, die wir heute aus dem Symphonieorchester kennen oder die
aufgrund des Qualitätsdrucks bei CD-Aufnahmen entstanden ist, hat für
ihn keinen Reiz.
„Ich bin sehr gerne Kirchenmusiker – freischaffend übrigens.
Diesen Beruf kann man nicht nur dann ausüben, wenn man bei
der Kirche angestellt ist. Ich beschäftige mich sehr viel
mit Bach. Durch die Zeit im Thomanerchor habe ich die meisten wichtigen
Vokalwerke in mehreren Stimmen mitgesungen.
Das ist ein Glücksfall, aus diesem Fundus schöpfen zu können.
Mein Vater ist Organist, und somit habe ich schon als Kind viele Orgelwerke
kennengelernt, umgeblättert oder Register gezogen. Das sind meine Wurzeln.”
Während seines Studiums an der Hochschule für Musik in Leipzig und
am Salzburger Mozarteum gewann Timm den 1. Preis beim Weimarer Klavierimprovisationswettbewerb.
Weitere 1. Preise beim Johann-Sebastian-Bach-Orgelimprovisationswettbewerb
in Weimar und beim V. Internationalen Orgelimprovisationswettbewerb in Schwäbisch
Gmünd schlossen sich an.
Seit 1991 spielt Timm mit dem Saxophonisten Reiko Brockelt im “Jazzduo
Timm/Brockelt” zusammen. Nach diversen gemeinsam Duoprogrammen folgte
1998 ein neues, primär auf Improvisation beruhendes Konzept. Dieses Projekt „inner
circle“ brachte ihnen einhelliges Jury-Interesse (in der Juri Aki Takase,
Bert Noglik und Günter „Baby“ Sommer) und den Leipziger Jazznachwuchspreis
1998 ein.
Der Jazzer und der Kirchenmusiker ergänzen sich in der Person von David
Timmer auf besonders glückliche und einmalige Weise. Seine Bach-Bearbeitungen
für Orgel, a-capella oder begleiteten Chor spielt er mit einer gewissen
Regelmäßigkeit. „Das wird durchaus honoriert vom Publikum.
Zusammen mit Reiko Brockelt gebe ich auch Konzerte mit Orgel und Saxophon,
oft mit Bearbeitungen kirchenmusikalischer Werke.”
Timm sieht in seiner jazzigen Variante des Kirchenkonzerts keinen
Widerspruch. Und er zitiert den Komponisten Heinz Werner Zimmermann,
der sehr viel in dieser
Richtung vorgearbeitet hat: „Jazz ist die Musik, die noch zu jauchzen
versteht.“