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nmz-archiv
nmz 2003/05 | Seite 22
52. Jahrgang | Mai
Bücher
Voll Schaudern die Nacht durchplaudern
Marcellus-Schiffer-Monografie im Weidle Verlag erschienen
Viktor Rotthaler (Hg.): Marcellus Schiffer: Heute nacht oder
nie. Tagebücher, Erzählungen, Gedichte, Zeichnungen, Weidle
Verlag, Bonn 2002, 248 S., zahlreiche Abbildungen, € 23,00,
ISBN 3-931135-69-1
Bislang war Marcellus Schiffer (1892–1932) vor allem eines:
Ein weitgehend vergessener Chanson-Dichter des lasterhaft-ironischen
Berlin der 20er- und frühen 30er-Jahre, der sich per Selbstmord
1932 aus dem Leben beförderte und in der Erinnerung der Nachwelt
als biografische Fußnote zu Marlene Dietrich fortlebte. Verheiratet
war Schiffer nämlich mit der Diseuse und Schauspielerin Margo
Lion (1900–1989). Und die war ein Leben lang Marlene Dietrichs
beste Freundin, seitdem die beiden in der Kaufhaus-Revue „Es
liegt in der Luft“ (1928) das zweideutige Duett „Wenn
die beste Freundin mit der besten Freundin“ geträllert
hatten.
Text und Musik dazu stammten von Marcellus Schiffer, dem Chansondichter
mit dem Monokel im Auge, und Mischa Spoliansky, einem als „Komponisten
des Kurfürstendamms“ bekannt gewordenen Pianisten (1898–1985),
dessen „Rhapsody in Blue“-Einspielung seinerzeit auch
einen George Gershwin begeisterte.
Aus dem Nachlass Schiffers hat der Regensburger Experte für
die Popularkultur der Weimarer Zeit, Viktor Rotthaler, ein schön
gestaltetes und großzügig illustriertes Buch zusammengestellt.
Darin ergänzen sich ein biografischer Abriss, Tagebuchaufzeichnungen
und Chansontexte sowie grafische, literarische und journalistische
Arbeiten zu einem spannenden Porträt des Chansontexters.
Schiffer war ein Multitalent. Von seiner Ausbildung her eigentlich
Maler, Illustrator und Grafiker versuchte er sich anfänglich
als Theaterautor, Erzähler expressionistisch verzerrter Märchen,
Feuilletonist und Romanautor. Erfolg – und zwar großen – hatte
er jedoch nur als Chanson-Dichter, Revue- und Opern-Librettist,
den alle um Texte „beschmusten“, wie Schiffer 1924
in seinem Tagebuch notierte.
Alle, das bedeutete bei einem wie Schiffer auch wirklich alle.
Trude Hesterberg, Curt Bois und Wilhelm Bendow hießen die
Diseusen, Kabarettisten und Schauspieler, die die Schiffer-Chansons
interpretierten. Friedrich Hollaender, Werner Richard Heymann und
der Busoni- und Schönberg-Schüler Allan Gray/Josef Zmigrod
die Komponisten, die sie vertonten.
Selbst für Paul Hindemith textete Marcellus Schiffer. Von
ihm stammte das Libretto zu Hindemiths Zeitoper „Neues vom
Tage“ (1929), die in den vergangenen Jahren an deutschen
Theatern eine kleine Renaissance erleben durfte.
Am wichtigsten und erfolgreichsten war jedoch Schiffers Zusammenarbeit
mit Margo Lion und Mischa Spoliansky. Das Gesangs- und Schauspieltalent
seiner späteren Frau entdeckte Schiffer eher zufällig.
Um die hysterisch-depressiven Anfälle und die – aus
seiner Sicht – krankhafte Eifersucht seiner Freundin zu therapieren,
drängte er sie zu Kabarettauftritten. Mit der „Linie
der Mode“ schrieb er seiner französischen „femme
fragile“ einen Chanson auf den dürren, geschmeidig-giraffenhaften
Körper, mit dem Margo Lion 1923 debütierte. Schon bald
war die kecke Französin mit der Berliner Schnauze eine gefragte
Chanson-Interpretin und Schauspielerin, die unter anderem als Seeräuber-Jenny
in der französischen Filmfassung der „Dreigroschenoper“ (1931)
zu sehen war.
Mit Spoliansky entwickelte Schiffer neue, zeitgeistige Genres
und Formen des Musiktheaters, die sich gekonnt zwischen Cabaret
und
Revue, Literatur und Schlager, Hoch- und Popularkultur bewegten.
Für Rotthaler markiert Spolianskys und Schiffers Kaufhausrevue „Es
liegt in der Luft“ – und nicht etwa „Die Dreigroschenoper“ – den „ersten
deutschen Musical-Versuch“. Auf diesen großen Erfolg
ließen Schiffer und Spoliansky die Kabarett-Oper „Rufen
Sie Herrn Plim!“ folgen, eine Parodie auf die Dienstleistungsgesellschaft,
bei der es um einen Kaufhausangestellten geht, dessen Job es ist,
zur Zufriedenheit unzufriedener Kunden immer wieder von neuem gefeuert
zu werden. Mit dem Jan Kiepura-Filmschlager „Heute nacht
oder nie“ (1932) endete die Zusammenarbeit von Spoliansky
und Schiffer: Der Texter beging bald darauf Selbstmord und Spoliansky
emigrierte nach England, wo er eine zweite Karriere als Filmkomponist
begann.
Für den besonderen Sound und schnoddrigen Tonfall Schiffers
stehen bis heute Stücke wie das „Chanson von der Gesellschaft“: „Auf
der Gesellschaft / Rauscht die Gesellschaft / Plauscht die Gesellschaft
/ So ist die Gesellschaft / Man muss voll Schaudern / Die Nacht
durchplaudern / Und hat seit Tagen / Sich nichts zu sagen / Das
plaudert kritisch / Und plauscht politisch / Löst alle Fragen
/ Mit Käse im Magen“.
Den beißend-eleganten Witz Schiffers machte der Filmregisseur
Moriz Seeler in einem Nachruf an dessen erotischen, todessehnsüchtig-selbstmörderischen
Zeichnungen und Grafiken fest. Hier komme der ganze Schiffer zur
Geltung: „ein melancholischer Zyniker mit einer infantilen
Phantasie“, „grausam wie George Grosz, echt wie Zille
und verderbt wie Baudelaire“.
Warum sich dieser widersprüchliche Künstler im August
1932 umbrachte, lässt sich auch mit Viktor Rotthalers Buch
nicht eindeutig klären. Es waren wohl weniger konkrete Gründe – enttäuschte
Hoffnungen auf berufliche Chancen beim Tonfilm oder der Aufstieg
der NSDAP – die Schiffer zu diesem Schritt bewogen, als eine
allgemeine Lebensmüdigkeit und tödliche Langeweile, die
sich thematisch wie ein roter Faden durch sein gesamtes zeichnerisches
Werk und das Tagebuch ziehen. Selbstmord und Todesphantasien, sie
lagen bei Schiffer „in der Luft“. Ein nachgelassener
Text Schiffers trägt den Titel „Vielleicht gewöhnt
man sich mit der Zeit an die Zeit“. Für den, der dies
schrieb, ging diese Hoffnung nie in Erfüllung.